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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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An unsere Leser

sehen. Die deutsche Regierung freilich könnte sich schon jetzt die stärkste
moralische Unterstützung der gesamten zivilisirten Welt sichern, wenn sie rücksichts¬
los alle irgend erreichbaren Dokumente, die der Aufhellung dieser Frage dienen
können, schon jetzt veröffentlichte. Nichts wird England mehr schaden als die
Aufdeckung seiner Schleichwege, die es mittelst einer vorzüglich disziplinierten
und bezahlten Presse meisterhaft zu verdecken versteht.

Auch unseren zweiten Gegner, Frankreich, hat England immer wieder
anzustacheln verstanden. Nichts kennzeichnet die Lage besser, als daß dieses
einst so stolze Volk in seines Erbfeindes Schlepptau segelt. Frankreich hat sich
selbst und seine Stellung als Großmacht aufgegeben und offen zugestanden, aus
eigenen Kräften Weltpolitik nicht mehr treiben zu können. Es ist eine furcht¬
bare Ironie der Weltgeschichte, daß es gerade bei England Anlehnung sucht
und findet.

Man wird dem Plan, der diesem Beutezug zugrunde liegt, eine gewisse
Größe und Kühnheit nicht absprechen können. Setzt doch auch England selbst die
Ergebnisse der Entwicklung der letzten hundertundfunfzig Jahre aufs Spiel. Nicht
nur als Deutscher wird man hoffen und wünschen, daß der Ausgang diesem
europäischen Ränkeschmied ein und für allemal das Handwerk gründlichst legen
wird. Die Größe einer Flotte allein tut es nicht, an Güte steht die deutsche
der englischen in keiner Weise nach. Selbst die Tradition der ruhmvollen Ver¬
gangenheit dürfte ein wenig überaltert sein: denn auch die englische Flotte hat
seit hundert Jahren einen Krieg nicht mehr gesehen. Jedenfalls muß das Ende
dieses fürchterlichen, von Selbstsucht, Macht- und Geldgier heraufbeschworenen
Krieges eine endgültige Auseinandersetzung sein, die Europa auf Menschenalter
vor solchen Raubzügen bewahrt.




An unsere Leser!

le nimmer endenwollende Lawinen prasseln und donnern die Er¬
eignisse auf uns hernieder. Der Weltkrieg hat begonnen! Ein
Ringen, wie es der Erdball noch nicht sah! In wenigen Tagen
schon werden einander allein auf dem europäischen Kriegs¬
schauplatz zwanzig Millionen Krieger gegenüberstehen, bereit,
über einander herzufallen und einander zu vernichten! Die Blüte Europas!
Entsetzt fragt man: aus welchem Grunde? Aus welchem tieferen Anlaß?
Der Fürstenmord in Serajewo kann doch, so furchtbar er ist, unmöglich Grund


An unsere Leser

sehen. Die deutsche Regierung freilich könnte sich schon jetzt die stärkste
moralische Unterstützung der gesamten zivilisirten Welt sichern, wenn sie rücksichts¬
los alle irgend erreichbaren Dokumente, die der Aufhellung dieser Frage dienen
können, schon jetzt veröffentlichte. Nichts wird England mehr schaden als die
Aufdeckung seiner Schleichwege, die es mittelst einer vorzüglich disziplinierten
und bezahlten Presse meisterhaft zu verdecken versteht.

Auch unseren zweiten Gegner, Frankreich, hat England immer wieder
anzustacheln verstanden. Nichts kennzeichnet die Lage besser, als daß dieses
einst so stolze Volk in seines Erbfeindes Schlepptau segelt. Frankreich hat sich
selbst und seine Stellung als Großmacht aufgegeben und offen zugestanden, aus
eigenen Kräften Weltpolitik nicht mehr treiben zu können. Es ist eine furcht¬
bare Ironie der Weltgeschichte, daß es gerade bei England Anlehnung sucht
und findet.

Man wird dem Plan, der diesem Beutezug zugrunde liegt, eine gewisse
Größe und Kühnheit nicht absprechen können. Setzt doch auch England selbst die
Ergebnisse der Entwicklung der letzten hundertundfunfzig Jahre aufs Spiel. Nicht
nur als Deutscher wird man hoffen und wünschen, daß der Ausgang diesem
europäischen Ränkeschmied ein und für allemal das Handwerk gründlichst legen
wird. Die Größe einer Flotte allein tut es nicht, an Güte steht die deutsche
der englischen in keiner Weise nach. Selbst die Tradition der ruhmvollen Ver¬
gangenheit dürfte ein wenig überaltert sein: denn auch die englische Flotte hat
seit hundert Jahren einen Krieg nicht mehr gesehen. Jedenfalls muß das Ende
dieses fürchterlichen, von Selbstsucht, Macht- und Geldgier heraufbeschworenen
Krieges eine endgültige Auseinandersetzung sein, die Europa auf Menschenalter
vor solchen Raubzügen bewahrt.




An unsere Leser!

le nimmer endenwollende Lawinen prasseln und donnern die Er¬
eignisse auf uns hernieder. Der Weltkrieg hat begonnen! Ein
Ringen, wie es der Erdball noch nicht sah! In wenigen Tagen
schon werden einander allein auf dem europäischen Kriegs¬
schauplatz zwanzig Millionen Krieger gegenüberstehen, bereit,
über einander herzufallen und einander zu vernichten! Die Blüte Europas!
Entsetzt fragt man: aus welchem Grunde? Aus welchem tieferen Anlaß?
Der Fürstenmord in Serajewo kann doch, so furchtbar er ist, unmöglich Grund


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[0274] An unsere Leser sehen. Die deutsche Regierung freilich könnte sich schon jetzt die stärkste moralische Unterstützung der gesamten zivilisirten Welt sichern, wenn sie rücksichts¬ los alle irgend erreichbaren Dokumente, die der Aufhellung dieser Frage dienen können, schon jetzt veröffentlichte. Nichts wird England mehr schaden als die Aufdeckung seiner Schleichwege, die es mittelst einer vorzüglich disziplinierten und bezahlten Presse meisterhaft zu verdecken versteht. Auch unseren zweiten Gegner, Frankreich, hat England immer wieder anzustacheln verstanden. Nichts kennzeichnet die Lage besser, als daß dieses einst so stolze Volk in seines Erbfeindes Schlepptau segelt. Frankreich hat sich selbst und seine Stellung als Großmacht aufgegeben und offen zugestanden, aus eigenen Kräften Weltpolitik nicht mehr treiben zu können. Es ist eine furcht¬ bare Ironie der Weltgeschichte, daß es gerade bei England Anlehnung sucht und findet. Man wird dem Plan, der diesem Beutezug zugrunde liegt, eine gewisse Größe und Kühnheit nicht absprechen können. Setzt doch auch England selbst die Ergebnisse der Entwicklung der letzten hundertundfunfzig Jahre aufs Spiel. Nicht nur als Deutscher wird man hoffen und wünschen, daß der Ausgang diesem europäischen Ränkeschmied ein und für allemal das Handwerk gründlichst legen wird. Die Größe einer Flotte allein tut es nicht, an Güte steht die deutsche der englischen in keiner Weise nach. Selbst die Tradition der ruhmvollen Ver¬ gangenheit dürfte ein wenig überaltert sein: denn auch die englische Flotte hat seit hundert Jahren einen Krieg nicht mehr gesehen. Jedenfalls muß das Ende dieses fürchterlichen, von Selbstsucht, Macht- und Geldgier heraufbeschworenen Krieges eine endgültige Auseinandersetzung sein, die Europa auf Menschenalter vor solchen Raubzügen bewahrt. An unsere Leser! le nimmer endenwollende Lawinen prasseln und donnern die Er¬ eignisse auf uns hernieder. Der Weltkrieg hat begonnen! Ein Ringen, wie es der Erdball noch nicht sah! In wenigen Tagen schon werden einander allein auf dem europäischen Kriegs¬ schauplatz zwanzig Millionen Krieger gegenüberstehen, bereit, über einander herzufallen und einander zu vernichten! Die Blüte Europas! Entsetzt fragt man: aus welchem Grunde? Aus welchem tieferen Anlaß? Der Fürstenmord in Serajewo kann doch, so furchtbar er ist, unmöglich Grund

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/274>, abgerufen am 27.07.2024.