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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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T>!e russische Armee als Gegner

fremdung, die durch die bis dahin nachwirkende Erinnerung an die Waffen¬
brüderschaft der Befreiungskriege nicht aufgewogen werden konnte."

Es mußte so sein. Eine andere Zeit zog allmählich herauf. In Preußen
war aus den Befreiungskriegen das Heer der allgemeinen Wehrpflicht hervor¬
gegangen mit der Wirkung, daß sie die besten Kräfte des Volkes der Fahne
zuführte, daß sie den Beruf eines Offiziers zu dem eines Erziehers und Führers
des Volkes in Waffen erhob. In Rußland verbargen äußere Gleichmäßigkeit
und Paradeschliff arge Mißbräuche, die am Mark des Heeres zehrten. Sie
waren Nikolaus so wenig unbekannt wie Alexander, aber in eigener rastloser
Tätigkeit, strafend und lohnend, ein stolzer Autokrat und doch eine weiche und
edle Natur, täuschte er sich immer wieder über die inneren Schäden seines
Reiches und Heeres hinweg. Immer wieder erlag er der Wirkung des äußeren
Scheines, wie sie die parademäßigen, völlig unkriegsmäßigen Bilder auf ihn
hervorbrachten. So war er bei einer großen Revue bei Wosnessensk "wie
berauscht durch den Anblick seiner Truppen. Seine Augen füllten sich mit
Tränen, er legte die Hand aufs Herz, hob die Augen gen Himmel und
betete laut: ,Gott, ich danke dir. daß du mich so mächtig gemacht hast,
und ich bitte dich, mir die Kraft zu geben, diese Macht niemals zu mi߬
brauchen/"

Die Leistungen Rußlands in den Kriegen, die Nikolaus der Erste führte,
entsprechen keineswegs solchen glänzenden Bildern. Der Kaiser bezifferte seine
Heeresmacht auf mehr als eine Million Streiter, davon 600 000 bis 700 000
Mann stets bereiter Feldtruppen, und doch konnten 1828 gegen die Türkei
nur wenig über 100 000 Mann verfügbar gemacht werden. "Der Kaiser
überschätzte nach innen wie nach außen seine tatsächliche Macht. Im Innern
dauerten die alten Mißstände fort, weil er die Menschen nicht umwandeln
konnte und ihnen keine Ideale zu bieten hatte: nach außen hin aber wurde,
wie es alle Zeit der Fall gewesen ist, das Gewicht der russischen Macht höher
veranschlagt, als nachträglich die Wirklichkeit rechtfertigte. Die russische
Diplomatie arbeitete mit diesem Schein wie mit einer Realität und wurde
darin durch den Kaiser unterstützt, der in seinen Vorstellungen stets mit den
Machtmitteln rechnete, über die Nußland hätte verfügen können, wenn die
Maschinerie der Staatsverwaltung in Ordnung gewesen und jedermann seinen
Pflichten gegen den Staat nachgekommen wäre." Das war in keiner Weise der
Fall, am wenigsten auf dem Gebiete der Militärverwaltung. Die Unterschleife
ziehen sich in ihr wie ein Krebsleiden durch die Jahrhunderte fort. Schon
Alexander der Erste hatte sich vergeblich bemüht, dem Übel zu steuern, auch die
schärfsten Mittel fruchteten nicht viel. Diese Mißstände haben von jeher
lähmend auf die Führung russischer Heere gewirkt. Freilich darf auch nicht
verkannt werden, daß die gewaltige Ausdehnung des Reiches und seine mangel¬
haften Verkehrsverhältinsse es immer erschwert haben, rechtzeitig operations¬
bereite starke Armeen zu versammeln.


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fremdung, die durch die bis dahin nachwirkende Erinnerung an die Waffen¬
brüderschaft der Befreiungskriege nicht aufgewogen werden konnte."

Es mußte so sein. Eine andere Zeit zog allmählich herauf. In Preußen
war aus den Befreiungskriegen das Heer der allgemeinen Wehrpflicht hervor¬
gegangen mit der Wirkung, daß sie die besten Kräfte des Volkes der Fahne
zuführte, daß sie den Beruf eines Offiziers zu dem eines Erziehers und Führers
des Volkes in Waffen erhob. In Rußland verbargen äußere Gleichmäßigkeit
und Paradeschliff arge Mißbräuche, die am Mark des Heeres zehrten. Sie
waren Nikolaus so wenig unbekannt wie Alexander, aber in eigener rastloser
Tätigkeit, strafend und lohnend, ein stolzer Autokrat und doch eine weiche und
edle Natur, täuschte er sich immer wieder über die inneren Schäden seines
Reiches und Heeres hinweg. Immer wieder erlag er der Wirkung des äußeren
Scheines, wie sie die parademäßigen, völlig unkriegsmäßigen Bilder auf ihn
hervorbrachten. So war er bei einer großen Revue bei Wosnessensk „wie
berauscht durch den Anblick seiner Truppen. Seine Augen füllten sich mit
Tränen, er legte die Hand aufs Herz, hob die Augen gen Himmel und
betete laut: ,Gott, ich danke dir. daß du mich so mächtig gemacht hast,
und ich bitte dich, mir die Kraft zu geben, diese Macht niemals zu mi߬
brauchen/"

Die Leistungen Rußlands in den Kriegen, die Nikolaus der Erste führte,
entsprechen keineswegs solchen glänzenden Bildern. Der Kaiser bezifferte seine
Heeresmacht auf mehr als eine Million Streiter, davon 600 000 bis 700 000
Mann stets bereiter Feldtruppen, und doch konnten 1828 gegen die Türkei
nur wenig über 100 000 Mann verfügbar gemacht werden. „Der Kaiser
überschätzte nach innen wie nach außen seine tatsächliche Macht. Im Innern
dauerten die alten Mißstände fort, weil er die Menschen nicht umwandeln
konnte und ihnen keine Ideale zu bieten hatte: nach außen hin aber wurde,
wie es alle Zeit der Fall gewesen ist, das Gewicht der russischen Macht höher
veranschlagt, als nachträglich die Wirklichkeit rechtfertigte. Die russische
Diplomatie arbeitete mit diesem Schein wie mit einer Realität und wurde
darin durch den Kaiser unterstützt, der in seinen Vorstellungen stets mit den
Machtmitteln rechnete, über die Nußland hätte verfügen können, wenn die
Maschinerie der Staatsverwaltung in Ordnung gewesen und jedermann seinen
Pflichten gegen den Staat nachgekommen wäre." Das war in keiner Weise der
Fall, am wenigsten auf dem Gebiete der Militärverwaltung. Die Unterschleife
ziehen sich in ihr wie ein Krebsleiden durch die Jahrhunderte fort. Schon
Alexander der Erste hatte sich vergeblich bemüht, dem Übel zu steuern, auch die
schärfsten Mittel fruchteten nicht viel. Diese Mißstände haben von jeher
lähmend auf die Führung russischer Heere gewirkt. Freilich darf auch nicht
verkannt werden, daß die gewaltige Ausdehnung des Reiches und seine mangel¬
haften Verkehrsverhältinsse es immer erschwert haben, rechtzeitig operations¬
bereite starke Armeen zu versammeln.


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[0267] T>!e russische Armee als Gegner fremdung, die durch die bis dahin nachwirkende Erinnerung an die Waffen¬ brüderschaft der Befreiungskriege nicht aufgewogen werden konnte." Es mußte so sein. Eine andere Zeit zog allmählich herauf. In Preußen war aus den Befreiungskriegen das Heer der allgemeinen Wehrpflicht hervor¬ gegangen mit der Wirkung, daß sie die besten Kräfte des Volkes der Fahne zuführte, daß sie den Beruf eines Offiziers zu dem eines Erziehers und Führers des Volkes in Waffen erhob. In Rußland verbargen äußere Gleichmäßigkeit und Paradeschliff arge Mißbräuche, die am Mark des Heeres zehrten. Sie waren Nikolaus so wenig unbekannt wie Alexander, aber in eigener rastloser Tätigkeit, strafend und lohnend, ein stolzer Autokrat und doch eine weiche und edle Natur, täuschte er sich immer wieder über die inneren Schäden seines Reiches und Heeres hinweg. Immer wieder erlag er der Wirkung des äußeren Scheines, wie sie die parademäßigen, völlig unkriegsmäßigen Bilder auf ihn hervorbrachten. So war er bei einer großen Revue bei Wosnessensk „wie berauscht durch den Anblick seiner Truppen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, er legte die Hand aufs Herz, hob die Augen gen Himmel und betete laut: ,Gott, ich danke dir. daß du mich so mächtig gemacht hast, und ich bitte dich, mir die Kraft zu geben, diese Macht niemals zu mi߬ brauchen/" Die Leistungen Rußlands in den Kriegen, die Nikolaus der Erste führte, entsprechen keineswegs solchen glänzenden Bildern. Der Kaiser bezifferte seine Heeresmacht auf mehr als eine Million Streiter, davon 600 000 bis 700 000 Mann stets bereiter Feldtruppen, und doch konnten 1828 gegen die Türkei nur wenig über 100 000 Mann verfügbar gemacht werden. „Der Kaiser überschätzte nach innen wie nach außen seine tatsächliche Macht. Im Innern dauerten die alten Mißstände fort, weil er die Menschen nicht umwandeln konnte und ihnen keine Ideale zu bieten hatte: nach außen hin aber wurde, wie es alle Zeit der Fall gewesen ist, das Gewicht der russischen Macht höher veranschlagt, als nachträglich die Wirklichkeit rechtfertigte. Die russische Diplomatie arbeitete mit diesem Schein wie mit einer Realität und wurde darin durch den Kaiser unterstützt, der in seinen Vorstellungen stets mit den Machtmitteln rechnete, über die Nußland hätte verfügen können, wenn die Maschinerie der Staatsverwaltung in Ordnung gewesen und jedermann seinen Pflichten gegen den Staat nachgekommen wäre." Das war in keiner Weise der Fall, am wenigsten auf dem Gebiete der Militärverwaltung. Die Unterschleife ziehen sich in ihr wie ein Krebsleiden durch die Jahrhunderte fort. Schon Alexander der Erste hatte sich vergeblich bemüht, dem Übel zu steuern, auch die schärfsten Mittel fruchteten nicht viel. Diese Mißstände haben von jeher lähmend auf die Führung russischer Heere gewirkt. Freilich darf auch nicht verkannt werden, daß die gewaltige Ausdehnung des Reiches und seine mangel¬ haften Verkehrsverhältinsse es immer erschwert haben, rechtzeitig operations¬ bereite starke Armeen zu versammeln.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/267>, abgerufen am 01.09.2024.