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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Der Krieg -- Die Umwertung aller Werte

im individualistischen Wertungskreise befangen waren? .Ich will die Antwort
auf diese Frage von einem anderen geben lassen und eine Stelle hierhersetzen
aus einem Aufsatz über "Die Jungdeutschlandbewegung"*) von Hans Reichen¬
bach. Da macht ein Student, ein "deutscher" freier Student der Jungdeutsch¬
landbewegung die Pflege des Vaterlands- und Bolksgefühls bei der Jugend
zum Vorwurf und sagt: "Der Begriff des Volkes, den sie (die Jugend) kennen
lernt, ist der einer familienähnlichen Gesellschaftseinheit, der das eine Interesse
durchaus gemeinsam ist, sich nach außen hin als Individuum von den anderen Volks¬
individuen abzusondern, um ihre besondere Natur und Art recht ausgiebig zu ent¬
wickeln. Immer erscheint das Volk als homogenerKörper, es wird mit Selbstverständ¬
lichkeit vorausgesetzt, daß nur ein einziges Ziel allen Volksgenossen voranschweben
kann, und in dem ebenso unklaren wie mit Pathos ausgesprochenen Begriff Vaterland
sucht man dieses Ziel zu fassen. Daß dieses Volk in Wahrheit von den
schärfsten wirtschaftlichen Gegensätzen zerrissen ist, daß der Kampf der Klassen
gegeneinander wenig dem freundschaftlichen Wettstreit geistesverwandter Brüder
ähnelt, sondern mit einer Erbitterung geführt wird, die nur aus der Gefährdung
der Existenzbedingungen ganzer Volksschichten erklärt werden kann, all das wird
verschwiegen und mit der Berufung auf die allen gemeinsamen -vaterländischen'
Interessen beiseite geschoben. Wissen denn diese Herren nicht, daß sie diesen
Begriff Vaterland ganz mit einseitigen Klasseninteressen angefüllt haben, daß es
in Wahrheit ein Kampf für die Standesoorteile einer besonderen Kaste ist, den
sie mit ihrer Verherrlichung des Militarismus führen? . . . Wir jedenfalls
lassen uns nicht damit blenden, daß man uns dies tönende Wort Vaterland
mit dem Anspruch der Unantastbarkeit entgegenhält; selbst auf die Gefahr hin,
als Vaterlandsfeinde verschrien zu werden. Wir fordern, daß man einmal selbst
an diesen Gedanken die Kritik heranträgt und furchtlos all das von ihm trennt,
was alte Vorurteile ihm hinzugefügt haben."

Wir haben hier nicht die Absicht, den jungen Studenten, der dies ge¬
schrieben hat, als "Vaterlandsfeind zu verschreien". Wir möchten auf seineu
Gedankengang nur aufmerksam machen, weil ans ihm klar hervorgeht, daß
tatsächlich für unsere aus einem individualistischen Zeitalter geborene Jugend das
Wort Volk, der Begriff Vaterland nur noch ein leerer Begriff, eine blasse Vor¬
stellung, nichts Erlebtes, nichts Gefühltes mehr war. Ein anderer Mitarbeiter
in der ebenerwähnten Schrift, Alexander Schwab in seinem Aufsatz "Die Rich¬
tungen in der Meißner - Bewegung", kleidet diese Tatsache mit großer Klarheit
in Worte**): "Überhaupt können wir getrost fragen: wer erlebt eigentlich heute
noch Vaterland? Man erlebt gemeinsames Militär, einheitliche Bureaukratie,
Zollschranken, Fahnen, vertraute Sprache -- welches alles Ingredienz eines




*) Er steht in einer "Schrift Studentenschaft und Jugendbewegung", herausgegeben
vom Vorstand der Deutschen freien Studentenschaft. München 1914. Seite 12 ff. Hier
Seite 30 f.
"") Ebenda S, 38.
Der Krieg — Die Umwertung aller Werte

im individualistischen Wertungskreise befangen waren? .Ich will die Antwort
auf diese Frage von einem anderen geben lassen und eine Stelle hierhersetzen
aus einem Aufsatz über „Die Jungdeutschlandbewegung"*) von Hans Reichen¬
bach. Da macht ein Student, ein „deutscher" freier Student der Jungdeutsch¬
landbewegung die Pflege des Vaterlands- und Bolksgefühls bei der Jugend
zum Vorwurf und sagt: „Der Begriff des Volkes, den sie (die Jugend) kennen
lernt, ist der einer familienähnlichen Gesellschaftseinheit, der das eine Interesse
durchaus gemeinsam ist, sich nach außen hin als Individuum von den anderen Volks¬
individuen abzusondern, um ihre besondere Natur und Art recht ausgiebig zu ent¬
wickeln. Immer erscheint das Volk als homogenerKörper, es wird mit Selbstverständ¬
lichkeit vorausgesetzt, daß nur ein einziges Ziel allen Volksgenossen voranschweben
kann, und in dem ebenso unklaren wie mit Pathos ausgesprochenen Begriff Vaterland
sucht man dieses Ziel zu fassen. Daß dieses Volk in Wahrheit von den
schärfsten wirtschaftlichen Gegensätzen zerrissen ist, daß der Kampf der Klassen
gegeneinander wenig dem freundschaftlichen Wettstreit geistesverwandter Brüder
ähnelt, sondern mit einer Erbitterung geführt wird, die nur aus der Gefährdung
der Existenzbedingungen ganzer Volksschichten erklärt werden kann, all das wird
verschwiegen und mit der Berufung auf die allen gemeinsamen -vaterländischen'
Interessen beiseite geschoben. Wissen denn diese Herren nicht, daß sie diesen
Begriff Vaterland ganz mit einseitigen Klasseninteressen angefüllt haben, daß es
in Wahrheit ein Kampf für die Standesoorteile einer besonderen Kaste ist, den
sie mit ihrer Verherrlichung des Militarismus führen? . . . Wir jedenfalls
lassen uns nicht damit blenden, daß man uns dies tönende Wort Vaterland
mit dem Anspruch der Unantastbarkeit entgegenhält; selbst auf die Gefahr hin,
als Vaterlandsfeinde verschrien zu werden. Wir fordern, daß man einmal selbst
an diesen Gedanken die Kritik heranträgt und furchtlos all das von ihm trennt,
was alte Vorurteile ihm hinzugefügt haben."

Wir haben hier nicht die Absicht, den jungen Studenten, der dies ge¬
schrieben hat, als „Vaterlandsfeind zu verschreien". Wir möchten auf seineu
Gedankengang nur aufmerksam machen, weil ans ihm klar hervorgeht, daß
tatsächlich für unsere aus einem individualistischen Zeitalter geborene Jugend das
Wort Volk, der Begriff Vaterland nur noch ein leerer Begriff, eine blasse Vor¬
stellung, nichts Erlebtes, nichts Gefühltes mehr war. Ein anderer Mitarbeiter
in der ebenerwähnten Schrift, Alexander Schwab in seinem Aufsatz „Die Rich¬
tungen in der Meißner - Bewegung", kleidet diese Tatsache mit großer Klarheit
in Worte**): „Überhaupt können wir getrost fragen: wer erlebt eigentlich heute
noch Vaterland? Man erlebt gemeinsames Militär, einheitliche Bureaukratie,
Zollschranken, Fahnen, vertraute Sprache — welches alles Ingredienz eines




*) Er steht in einer „Schrift Studentenschaft und Jugendbewegung", herausgegeben
vom Vorstand der Deutschen freien Studentenschaft. München 1914. Seite 12 ff. Hier
Seite 30 f.
»") Ebenda S, 38.
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[0256] Der Krieg — Die Umwertung aller Werte im individualistischen Wertungskreise befangen waren? .Ich will die Antwort auf diese Frage von einem anderen geben lassen und eine Stelle hierhersetzen aus einem Aufsatz über „Die Jungdeutschlandbewegung"*) von Hans Reichen¬ bach. Da macht ein Student, ein „deutscher" freier Student der Jungdeutsch¬ landbewegung die Pflege des Vaterlands- und Bolksgefühls bei der Jugend zum Vorwurf und sagt: „Der Begriff des Volkes, den sie (die Jugend) kennen lernt, ist der einer familienähnlichen Gesellschaftseinheit, der das eine Interesse durchaus gemeinsam ist, sich nach außen hin als Individuum von den anderen Volks¬ individuen abzusondern, um ihre besondere Natur und Art recht ausgiebig zu ent¬ wickeln. Immer erscheint das Volk als homogenerKörper, es wird mit Selbstverständ¬ lichkeit vorausgesetzt, daß nur ein einziges Ziel allen Volksgenossen voranschweben kann, und in dem ebenso unklaren wie mit Pathos ausgesprochenen Begriff Vaterland sucht man dieses Ziel zu fassen. Daß dieses Volk in Wahrheit von den schärfsten wirtschaftlichen Gegensätzen zerrissen ist, daß der Kampf der Klassen gegeneinander wenig dem freundschaftlichen Wettstreit geistesverwandter Brüder ähnelt, sondern mit einer Erbitterung geführt wird, die nur aus der Gefährdung der Existenzbedingungen ganzer Volksschichten erklärt werden kann, all das wird verschwiegen und mit der Berufung auf die allen gemeinsamen -vaterländischen' Interessen beiseite geschoben. Wissen denn diese Herren nicht, daß sie diesen Begriff Vaterland ganz mit einseitigen Klasseninteressen angefüllt haben, daß es in Wahrheit ein Kampf für die Standesoorteile einer besonderen Kaste ist, den sie mit ihrer Verherrlichung des Militarismus führen? . . . Wir jedenfalls lassen uns nicht damit blenden, daß man uns dies tönende Wort Vaterland mit dem Anspruch der Unantastbarkeit entgegenhält; selbst auf die Gefahr hin, als Vaterlandsfeinde verschrien zu werden. Wir fordern, daß man einmal selbst an diesen Gedanken die Kritik heranträgt und furchtlos all das von ihm trennt, was alte Vorurteile ihm hinzugefügt haben." Wir haben hier nicht die Absicht, den jungen Studenten, der dies ge¬ schrieben hat, als „Vaterlandsfeind zu verschreien". Wir möchten auf seineu Gedankengang nur aufmerksam machen, weil ans ihm klar hervorgeht, daß tatsächlich für unsere aus einem individualistischen Zeitalter geborene Jugend das Wort Volk, der Begriff Vaterland nur noch ein leerer Begriff, eine blasse Vor¬ stellung, nichts Erlebtes, nichts Gefühltes mehr war. Ein anderer Mitarbeiter in der ebenerwähnten Schrift, Alexander Schwab in seinem Aufsatz „Die Rich¬ tungen in der Meißner - Bewegung", kleidet diese Tatsache mit großer Klarheit in Worte**): „Überhaupt können wir getrost fragen: wer erlebt eigentlich heute noch Vaterland? Man erlebt gemeinsames Militär, einheitliche Bureaukratie, Zollschranken, Fahnen, vertraute Sprache — welches alles Ingredienz eines *) Er steht in einer „Schrift Studentenschaft und Jugendbewegung", herausgegeben vom Vorstand der Deutschen freien Studentenschaft. München 1914. Seite 12 ff. Hier Seite 30 f. »") Ebenda S, 38.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/256>, abgerufen am 28.07.2024.