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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Gedankensplitter

hat erst seinen funfzigsten Geburtstag gefeiert; er ist also noch sehr jung. Wer
weiß, ob er sein Bestes nicht erst noch zu geben hat!

Warum ist dieser Kämpfer, der es so furchtbar ernst meint, immer nur
komisch genommen worden? Nicht weil das Publikum roh ist (obwohl es das
ist), sondern weil Wedekind bisher nicht Kraft genug besaß, das innerlich Erlebte
dramatisch wahr und lebendig nach außen zu stellen. Es steckt ein Dilettant in
ihm, und dieser Dilettant mühte sich, das Unerhörte auszusprechen. Darum
mußte er komisch wirken, gerade dann, wenn er ernst sein wollte. Er wirkte
solange komisch, bis man lernte, den Blick abzuwenden von der unbeholfenen
Art, wie er sprach, zu dein, was er sprach und wer da sprach. Dort nun
freilich findet man eine Natur, vor der einem das Lachen vergeht. Mögen
Frank Wedekinds Werke, nach ihrem Kunstwert beurteilt, jetzt, und künftig sein,
wie sie wollen: die Unvergleichlichkeit dieser Natur ist etwas, das sich Respekt
errungen hat und immer erringen wird, und ihrer Kraft und Ganzheit, sie
mag sich wenden, wohin sie will, dürsen wir ihre eigene Zukunft getrost an¬
vertrauen.




Gedankensplitter

Die Zivilisation verfeinert die Grausamkeit.

Jeder große Mensch weist über sich hinaus.

Im Augenblick des Schaffens sind alle Künstler reine Toren.

Kinder vor Fremden züchtigen heißt: ihnen das Schamgefühl morden.

Nichts ist wirklicher, wie Häßlichkeit.

"Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan." Nein! Das Mitunter-Weibliche.

Dann hat die Gemeinheit ihren Höhepunkt erreicht, wenn sie sich in den Deck¬
mantel der Naivität hüllt.

Wir ertragen nicht das Leben schwer, sondern uns selbst.


Ernst Ludwig Schellenberg
Gedankensplitter

hat erst seinen funfzigsten Geburtstag gefeiert; er ist also noch sehr jung. Wer
weiß, ob er sein Bestes nicht erst noch zu geben hat!

Warum ist dieser Kämpfer, der es so furchtbar ernst meint, immer nur
komisch genommen worden? Nicht weil das Publikum roh ist (obwohl es das
ist), sondern weil Wedekind bisher nicht Kraft genug besaß, das innerlich Erlebte
dramatisch wahr und lebendig nach außen zu stellen. Es steckt ein Dilettant in
ihm, und dieser Dilettant mühte sich, das Unerhörte auszusprechen. Darum
mußte er komisch wirken, gerade dann, wenn er ernst sein wollte. Er wirkte
solange komisch, bis man lernte, den Blick abzuwenden von der unbeholfenen
Art, wie er sprach, zu dein, was er sprach und wer da sprach. Dort nun
freilich findet man eine Natur, vor der einem das Lachen vergeht. Mögen
Frank Wedekinds Werke, nach ihrem Kunstwert beurteilt, jetzt, und künftig sein,
wie sie wollen: die Unvergleichlichkeit dieser Natur ist etwas, das sich Respekt
errungen hat und immer erringen wird, und ihrer Kraft und Ganzheit, sie
mag sich wenden, wohin sie will, dürsen wir ihre eigene Zukunft getrost an¬
vertrauen.




Gedankensplitter

Die Zivilisation verfeinert die Grausamkeit.

Jeder große Mensch weist über sich hinaus.

Im Augenblick des Schaffens sind alle Künstler reine Toren.

Kinder vor Fremden züchtigen heißt: ihnen das Schamgefühl morden.

Nichts ist wirklicher, wie Häßlichkeit.

„Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan." Nein! Das Mitunter-Weibliche.

Dann hat die Gemeinheit ihren Höhepunkt erreicht, wenn sie sich in den Deck¬
mantel der Naivität hüllt.

Wir ertragen nicht das Leben schwer, sondern uns selbst.


Ernst Ludwig Schellenberg
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[0246] Gedankensplitter hat erst seinen funfzigsten Geburtstag gefeiert; er ist also noch sehr jung. Wer weiß, ob er sein Bestes nicht erst noch zu geben hat! Warum ist dieser Kämpfer, der es so furchtbar ernst meint, immer nur komisch genommen worden? Nicht weil das Publikum roh ist (obwohl es das ist), sondern weil Wedekind bisher nicht Kraft genug besaß, das innerlich Erlebte dramatisch wahr und lebendig nach außen zu stellen. Es steckt ein Dilettant in ihm, und dieser Dilettant mühte sich, das Unerhörte auszusprechen. Darum mußte er komisch wirken, gerade dann, wenn er ernst sein wollte. Er wirkte solange komisch, bis man lernte, den Blick abzuwenden von der unbeholfenen Art, wie er sprach, zu dein, was er sprach und wer da sprach. Dort nun freilich findet man eine Natur, vor der einem das Lachen vergeht. Mögen Frank Wedekinds Werke, nach ihrem Kunstwert beurteilt, jetzt, und künftig sein, wie sie wollen: die Unvergleichlichkeit dieser Natur ist etwas, das sich Respekt errungen hat und immer erringen wird, und ihrer Kraft und Ganzheit, sie mag sich wenden, wohin sie will, dürsen wir ihre eigene Zukunft getrost an¬ vertrauen. Gedankensplitter Die Zivilisation verfeinert die Grausamkeit. Jeder große Mensch weist über sich hinaus. Im Augenblick des Schaffens sind alle Künstler reine Toren. Kinder vor Fremden züchtigen heißt: ihnen das Schamgefühl morden. Nichts ist wirklicher, wie Häßlichkeit. „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan." Nein! Das Mitunter-Weibliche. Dann hat die Gemeinheit ihren Höhepunkt erreicht, wenn sie sich in den Deck¬ mantel der Naivität hüllt. Wir ertragen nicht das Leben schwer, sondern uns selbst. Ernst Ludwig Schellenberg

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/246>, abgerufen am 13.11.2024.