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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Das Phänomen Wedekind

diesen lustigen Variationen des einen Themas Liebe -- von Heine stark beeinflußt,
die jugendlichen Verie renommistisch dreist, spätere von diabolischen Humor
("Die sieben Heller"), die meisten durch eine von selbst klingende Sangbarkeit
ausgestattet -- wird die glücklichste Einheit von Stoff und Form erreicht.
Namentlich die scheinbar kunstlos nach dem Vorbild des Bänlelsangs lang aus¬
gesponnenen Schauerballaden ("Die Keuschheit") sind, auf ihrem Niveau, die
ergötzlichsten Kunstwerke.

Aber für diesen Dichter ist nicht das bezeichnend, was er kann, sondern
das was er will.

Es gibt ferner eine Reihe von Erzählungen -- nicht für die reifere Jugend,
versteht sich -- die durch eine Schlichtheit des Vortrags und Zartheit der
Empfindung überraschen, wie man sie hier nicht zu treffen erwartet. Es gibt
auch ein seltsames Prosawerk "Mine-Haha", von bunter Phantastik, das
man gefesselt liest und von dem man am Ende nicht weiß, was man davon
halten soll.

Und dann gibt es die lange Reihe der Theaterstücke.

Abgesehen von einem schwachen Jugendwerk steht am Anfang seines
dramatischen Schaffens die Kindertragödie "Frühlings Erwachen", die vor
einigen Jahren, lange nach ihrer Entstehung, einen der größten Theaterersolge
der jüngsten Zeit davongetragen hat. Diesen Erfolg errang der Stoff; als
Bühnenstück ist das Werk eigentlich unmöglich; es hat mit seinen locker anein¬
andergereihten, oft bloß skizzierten Szenen keinen dramatischen, sondern einen
epischen Gang. Allein niemals wieder ist Wedekind so wie hier, da er das
Dumpfe und Drängende der Knabenjahre darzustellen hat, im üblichen Sinne
poetisch geworden, niemals wieder erscheint er selbst so ergriffen und ergreift
so wie bei der Schilderung seiner jungen Menschen, die dem eigenen erwachen¬
den Triebleben voll Grauen und Ratlosigkeit sich plötzlich gegenübergestellt
sehen. Niemals ist die schwere Verantwortung, welche in unserer Welt der
verheimlichten Natur die Erwachsenen gegenüber ihren Kindern tragen, ein¬
dringlicher ohne alle Predigt zum Bewußtsein gebracht worden, und der armen
Wendla verzweifeltes "Ich bin doch nicht verheiratet" und ihrer Mutter grausam¬
dummes "Das ist ja das Fürchterliche" ersetzt ganze Bände pädagogischer
Literatur. Mit dieser innerlichen Wärme steht das Stück abseits von Wede¬
kinds sonstigem Schaffen, mit dem es doch wieder durch die rein karikierter
Gestalten der Erwachsenen zusammenhängt.

Um die übrige Dramatik Wedekinds beurteilen zu können, müßte man sich
vorher über das Wesen dichterischer Gestaltung und besonders der dramatischen
im Gegensatz zur epischen klar sein. Zu solch theoretischer Auseinandersetzung
ist hier nicht der Ort; aber ein paar aufklärende Bemerkungen werden ge¬
stattet sein.

Dem Dramatiker steht als Mittel der Menschengestaltung nicht, wie dem
Epiker, die Beschreibung, sondern nur das gesprochene Wort seiner Personen zur


Das Phänomen Wedekind

diesen lustigen Variationen des einen Themas Liebe — von Heine stark beeinflußt,
die jugendlichen Verie renommistisch dreist, spätere von diabolischen Humor
(„Die sieben Heller"), die meisten durch eine von selbst klingende Sangbarkeit
ausgestattet — wird die glücklichste Einheit von Stoff und Form erreicht.
Namentlich die scheinbar kunstlos nach dem Vorbild des Bänlelsangs lang aus¬
gesponnenen Schauerballaden („Die Keuschheit") sind, auf ihrem Niveau, die
ergötzlichsten Kunstwerke.

Aber für diesen Dichter ist nicht das bezeichnend, was er kann, sondern
das was er will.

Es gibt ferner eine Reihe von Erzählungen — nicht für die reifere Jugend,
versteht sich — die durch eine Schlichtheit des Vortrags und Zartheit der
Empfindung überraschen, wie man sie hier nicht zu treffen erwartet. Es gibt
auch ein seltsames Prosawerk „Mine-Haha", von bunter Phantastik, das
man gefesselt liest und von dem man am Ende nicht weiß, was man davon
halten soll.

Und dann gibt es die lange Reihe der Theaterstücke.

Abgesehen von einem schwachen Jugendwerk steht am Anfang seines
dramatischen Schaffens die Kindertragödie „Frühlings Erwachen", die vor
einigen Jahren, lange nach ihrer Entstehung, einen der größten Theaterersolge
der jüngsten Zeit davongetragen hat. Diesen Erfolg errang der Stoff; als
Bühnenstück ist das Werk eigentlich unmöglich; es hat mit seinen locker anein¬
andergereihten, oft bloß skizzierten Szenen keinen dramatischen, sondern einen
epischen Gang. Allein niemals wieder ist Wedekind so wie hier, da er das
Dumpfe und Drängende der Knabenjahre darzustellen hat, im üblichen Sinne
poetisch geworden, niemals wieder erscheint er selbst so ergriffen und ergreift
so wie bei der Schilderung seiner jungen Menschen, die dem eigenen erwachen¬
den Triebleben voll Grauen und Ratlosigkeit sich plötzlich gegenübergestellt
sehen. Niemals ist die schwere Verantwortung, welche in unserer Welt der
verheimlichten Natur die Erwachsenen gegenüber ihren Kindern tragen, ein¬
dringlicher ohne alle Predigt zum Bewußtsein gebracht worden, und der armen
Wendla verzweifeltes „Ich bin doch nicht verheiratet" und ihrer Mutter grausam¬
dummes „Das ist ja das Fürchterliche" ersetzt ganze Bände pädagogischer
Literatur. Mit dieser innerlichen Wärme steht das Stück abseits von Wede¬
kinds sonstigem Schaffen, mit dem es doch wieder durch die rein karikierter
Gestalten der Erwachsenen zusammenhängt.

Um die übrige Dramatik Wedekinds beurteilen zu können, müßte man sich
vorher über das Wesen dichterischer Gestaltung und besonders der dramatischen
im Gegensatz zur epischen klar sein. Zu solch theoretischer Auseinandersetzung
ist hier nicht der Ort; aber ein paar aufklärende Bemerkungen werden ge¬
stattet sein.

Dem Dramatiker steht als Mittel der Menschengestaltung nicht, wie dem
Epiker, die Beschreibung, sondern nur das gesprochene Wort seiner Personen zur


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[0243] Das Phänomen Wedekind diesen lustigen Variationen des einen Themas Liebe — von Heine stark beeinflußt, die jugendlichen Verie renommistisch dreist, spätere von diabolischen Humor („Die sieben Heller"), die meisten durch eine von selbst klingende Sangbarkeit ausgestattet — wird die glücklichste Einheit von Stoff und Form erreicht. Namentlich die scheinbar kunstlos nach dem Vorbild des Bänlelsangs lang aus¬ gesponnenen Schauerballaden („Die Keuschheit") sind, auf ihrem Niveau, die ergötzlichsten Kunstwerke. Aber für diesen Dichter ist nicht das bezeichnend, was er kann, sondern das was er will. Es gibt ferner eine Reihe von Erzählungen — nicht für die reifere Jugend, versteht sich — die durch eine Schlichtheit des Vortrags und Zartheit der Empfindung überraschen, wie man sie hier nicht zu treffen erwartet. Es gibt auch ein seltsames Prosawerk „Mine-Haha", von bunter Phantastik, das man gefesselt liest und von dem man am Ende nicht weiß, was man davon halten soll. Und dann gibt es die lange Reihe der Theaterstücke. Abgesehen von einem schwachen Jugendwerk steht am Anfang seines dramatischen Schaffens die Kindertragödie „Frühlings Erwachen", die vor einigen Jahren, lange nach ihrer Entstehung, einen der größten Theaterersolge der jüngsten Zeit davongetragen hat. Diesen Erfolg errang der Stoff; als Bühnenstück ist das Werk eigentlich unmöglich; es hat mit seinen locker anein¬ andergereihten, oft bloß skizzierten Szenen keinen dramatischen, sondern einen epischen Gang. Allein niemals wieder ist Wedekind so wie hier, da er das Dumpfe und Drängende der Knabenjahre darzustellen hat, im üblichen Sinne poetisch geworden, niemals wieder erscheint er selbst so ergriffen und ergreift so wie bei der Schilderung seiner jungen Menschen, die dem eigenen erwachen¬ den Triebleben voll Grauen und Ratlosigkeit sich plötzlich gegenübergestellt sehen. Niemals ist die schwere Verantwortung, welche in unserer Welt der verheimlichten Natur die Erwachsenen gegenüber ihren Kindern tragen, ein¬ dringlicher ohne alle Predigt zum Bewußtsein gebracht worden, und der armen Wendla verzweifeltes „Ich bin doch nicht verheiratet" und ihrer Mutter grausam¬ dummes „Das ist ja das Fürchterliche" ersetzt ganze Bände pädagogischer Literatur. Mit dieser innerlichen Wärme steht das Stück abseits von Wede¬ kinds sonstigem Schaffen, mit dem es doch wieder durch die rein karikierter Gestalten der Erwachsenen zusammenhängt. Um die übrige Dramatik Wedekinds beurteilen zu können, müßte man sich vorher über das Wesen dichterischer Gestaltung und besonders der dramatischen im Gegensatz zur epischen klar sein. Zu solch theoretischer Auseinandersetzung ist hier nicht der Ort; aber ein paar aufklärende Bemerkungen werden ge¬ stattet sein. Dem Dramatiker steht als Mittel der Menschengestaltung nicht, wie dem Epiker, die Beschreibung, sondern nur das gesprochene Wort seiner Personen zur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/243>, abgerufen am 28.07.2024.