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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Das phcmomen Uledekind

stand, daß viele seiner Stücke Selbstbekenntnisse allerintimster Art sind. Er hat
die Schamlosigkeit und die Ehrlichkeit der Selbstdarstellung, wie Heine, und er
ist nicht sicher vor dem Verdacht der Gefühlsmaskerade und Schauspielerei, wie
Heine. Er hat einmal ein Neklamebureau geleitet und ist mit einem Zirkus
umhergezogen, und etwas vom Manager sowohl wie vom Stallmeister steckt in
seinem öffentlichen Wirken. Und er ringt doch zugleich, durch jahrelange Mi߬
erfolge nicht entmutigt, um die hohe Kunst und bekennt als seinen tiefsten
Schmerz wieder und wieder das Schicksal, verlacht zu werden, wo er es ernst
gemeint hat. Und während wir uns bemühen, ihn ernst zu nehmen, stoßen
wir auf den schweren Vorwurf, daß sein Werk unmoralisch und er selbst ein
zynischer Sittenverderber sei.

Allein just mit diesem Vorwurf werden wir leicht fertig. Worauf er sich
bezieht und woraus er entsteht, ist klar: Wedekinds häufigstes künstlerisches und
einziges theoretisches Thema ist das Gebiet der Erotik und sexuellen Moral.
Weil er in Tiefen steigt, die es bisher nur im Leben, nicht in der Literatur
gab; weil er am Hergebrachten rüttelt; weil er umstoßen will, was seit tausend
Jahren steht, und Neues an die Stelle zu setzen sucht; weil er bei Namen nennt,
wovon es guter Ton ist nicht zu reden, und entschleiert, was nach altem Her¬
kommen im Verborgenen waltet: darum ist er den Hütern offizieller Moral
lästig und gefährlich, darum wird er als unsittlich gebrandmarkt. Aber dies
ist nicht die Art der Pornographen. Die wirklichen Sittenverderber, die da
auf niedere Instinkte spekulieren und denen Erotik ein Mittel des Erfolges und
Geldgewinnes ist, sitzen unangefochten und treiben ihr Gewerbe, wenn nicht mit
Ehren, so doch mit goldenem Erfolg. Ihr Trick besteht darin, daß sie nicht
aussprechen, was sie meinen und was jeder versteht, und ihren Vorteil finden
sie darin, daß sie das Schlimme und Verbotene als gut, harmlos und lustig
schildern. Sie wissen, daß sie sittenlos find, und wollen es fein; und also sind
sie klug genug, das nackte Wort zu vermeiden, bei dem die Behörde sie packen
könnte. Und so dürfen sie, unbehelligt von Polizei und Zensur, schlüpfrige
Romane in hohen Auflagen erscheinen lassen, dürfen pikante schwanke und
Operetten über die Bretter schicken und erfreuen sich der Hilfe gleichgesonnener
Regisseure und Theaterdirektoren, die ihnen mit klug bis an die Grenze des
Möglichen getriebenem Döcolletö nachhelfen.

Das alles aber ist Wedekinds Art nicht. Er besitzt die Unklugheit des
ehrlichen Mannes, der sich als Revolutionär und Verkünder einer neuen sexuellen
Moral fühlt; ihm ist das Gebiet des Erotischen kein Spiel, sondern furchtbarer
Ernst, ja die einzige ernste Sache, die das Leben aufzuweisen hat.

Denn Wedekind gehört, nach seinen Werken zu schließen, zu den Menschen
von überstarker Sexualität, denen das Sexus eine Geißel ist, ein Joch, dem sie
nicht entrinnen können. Es scheint, daß ihm die Existenz des Weibes, und
zwar des Weibes, insofern es reizt, zu jeder Minute seines Daseins fühlbar
ist. Er bezieht das gesamte Menschentum auf Erotik, und das Erotische wird


Das phcmomen Uledekind

stand, daß viele seiner Stücke Selbstbekenntnisse allerintimster Art sind. Er hat
die Schamlosigkeit und die Ehrlichkeit der Selbstdarstellung, wie Heine, und er
ist nicht sicher vor dem Verdacht der Gefühlsmaskerade und Schauspielerei, wie
Heine. Er hat einmal ein Neklamebureau geleitet und ist mit einem Zirkus
umhergezogen, und etwas vom Manager sowohl wie vom Stallmeister steckt in
seinem öffentlichen Wirken. Und er ringt doch zugleich, durch jahrelange Mi߬
erfolge nicht entmutigt, um die hohe Kunst und bekennt als seinen tiefsten
Schmerz wieder und wieder das Schicksal, verlacht zu werden, wo er es ernst
gemeint hat. Und während wir uns bemühen, ihn ernst zu nehmen, stoßen
wir auf den schweren Vorwurf, daß sein Werk unmoralisch und er selbst ein
zynischer Sittenverderber sei.

Allein just mit diesem Vorwurf werden wir leicht fertig. Worauf er sich
bezieht und woraus er entsteht, ist klar: Wedekinds häufigstes künstlerisches und
einziges theoretisches Thema ist das Gebiet der Erotik und sexuellen Moral.
Weil er in Tiefen steigt, die es bisher nur im Leben, nicht in der Literatur
gab; weil er am Hergebrachten rüttelt; weil er umstoßen will, was seit tausend
Jahren steht, und Neues an die Stelle zu setzen sucht; weil er bei Namen nennt,
wovon es guter Ton ist nicht zu reden, und entschleiert, was nach altem Her¬
kommen im Verborgenen waltet: darum ist er den Hütern offizieller Moral
lästig und gefährlich, darum wird er als unsittlich gebrandmarkt. Aber dies
ist nicht die Art der Pornographen. Die wirklichen Sittenverderber, die da
auf niedere Instinkte spekulieren und denen Erotik ein Mittel des Erfolges und
Geldgewinnes ist, sitzen unangefochten und treiben ihr Gewerbe, wenn nicht mit
Ehren, so doch mit goldenem Erfolg. Ihr Trick besteht darin, daß sie nicht
aussprechen, was sie meinen und was jeder versteht, und ihren Vorteil finden
sie darin, daß sie das Schlimme und Verbotene als gut, harmlos und lustig
schildern. Sie wissen, daß sie sittenlos find, und wollen es fein; und also sind
sie klug genug, das nackte Wort zu vermeiden, bei dem die Behörde sie packen
könnte. Und so dürfen sie, unbehelligt von Polizei und Zensur, schlüpfrige
Romane in hohen Auflagen erscheinen lassen, dürfen pikante schwanke und
Operetten über die Bretter schicken und erfreuen sich der Hilfe gleichgesonnener
Regisseure und Theaterdirektoren, die ihnen mit klug bis an die Grenze des
Möglichen getriebenem Döcolletö nachhelfen.

Das alles aber ist Wedekinds Art nicht. Er besitzt die Unklugheit des
ehrlichen Mannes, der sich als Revolutionär und Verkünder einer neuen sexuellen
Moral fühlt; ihm ist das Gebiet des Erotischen kein Spiel, sondern furchtbarer
Ernst, ja die einzige ernste Sache, die das Leben aufzuweisen hat.

Denn Wedekind gehört, nach seinen Werken zu schließen, zu den Menschen
von überstarker Sexualität, denen das Sexus eine Geißel ist, ein Joch, dem sie
nicht entrinnen können. Es scheint, daß ihm die Existenz des Weibes, und
zwar des Weibes, insofern es reizt, zu jeder Minute seines Daseins fühlbar
ist. Er bezieht das gesamte Menschentum auf Erotik, und das Erotische wird


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[0241] Das phcmomen Uledekind stand, daß viele seiner Stücke Selbstbekenntnisse allerintimster Art sind. Er hat die Schamlosigkeit und die Ehrlichkeit der Selbstdarstellung, wie Heine, und er ist nicht sicher vor dem Verdacht der Gefühlsmaskerade und Schauspielerei, wie Heine. Er hat einmal ein Neklamebureau geleitet und ist mit einem Zirkus umhergezogen, und etwas vom Manager sowohl wie vom Stallmeister steckt in seinem öffentlichen Wirken. Und er ringt doch zugleich, durch jahrelange Mi߬ erfolge nicht entmutigt, um die hohe Kunst und bekennt als seinen tiefsten Schmerz wieder und wieder das Schicksal, verlacht zu werden, wo er es ernst gemeint hat. Und während wir uns bemühen, ihn ernst zu nehmen, stoßen wir auf den schweren Vorwurf, daß sein Werk unmoralisch und er selbst ein zynischer Sittenverderber sei. Allein just mit diesem Vorwurf werden wir leicht fertig. Worauf er sich bezieht und woraus er entsteht, ist klar: Wedekinds häufigstes künstlerisches und einziges theoretisches Thema ist das Gebiet der Erotik und sexuellen Moral. Weil er in Tiefen steigt, die es bisher nur im Leben, nicht in der Literatur gab; weil er am Hergebrachten rüttelt; weil er umstoßen will, was seit tausend Jahren steht, und Neues an die Stelle zu setzen sucht; weil er bei Namen nennt, wovon es guter Ton ist nicht zu reden, und entschleiert, was nach altem Her¬ kommen im Verborgenen waltet: darum ist er den Hütern offizieller Moral lästig und gefährlich, darum wird er als unsittlich gebrandmarkt. Aber dies ist nicht die Art der Pornographen. Die wirklichen Sittenverderber, die da auf niedere Instinkte spekulieren und denen Erotik ein Mittel des Erfolges und Geldgewinnes ist, sitzen unangefochten und treiben ihr Gewerbe, wenn nicht mit Ehren, so doch mit goldenem Erfolg. Ihr Trick besteht darin, daß sie nicht aussprechen, was sie meinen und was jeder versteht, und ihren Vorteil finden sie darin, daß sie das Schlimme und Verbotene als gut, harmlos und lustig schildern. Sie wissen, daß sie sittenlos find, und wollen es fein; und also sind sie klug genug, das nackte Wort zu vermeiden, bei dem die Behörde sie packen könnte. Und so dürfen sie, unbehelligt von Polizei und Zensur, schlüpfrige Romane in hohen Auflagen erscheinen lassen, dürfen pikante schwanke und Operetten über die Bretter schicken und erfreuen sich der Hilfe gleichgesonnener Regisseure und Theaterdirektoren, die ihnen mit klug bis an die Grenze des Möglichen getriebenem Döcolletö nachhelfen. Das alles aber ist Wedekinds Art nicht. Er besitzt die Unklugheit des ehrlichen Mannes, der sich als Revolutionär und Verkünder einer neuen sexuellen Moral fühlt; ihm ist das Gebiet des Erotischen kein Spiel, sondern furchtbarer Ernst, ja die einzige ernste Sache, die das Leben aufzuweisen hat. Denn Wedekind gehört, nach seinen Werken zu schließen, zu den Menschen von überstarker Sexualität, denen das Sexus eine Geißel ist, ein Joch, dem sie nicht entrinnen können. Es scheint, daß ihm die Existenz des Weibes, und zwar des Weibes, insofern es reizt, zu jeder Minute seines Daseins fühlbar ist. Er bezieht das gesamte Menschentum auf Erotik, und das Erotische wird

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/241>, abgerufen am 28.07.2024.