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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris

und Interessen wohnt, sollen ihr eigenes administratives und geistiges Zentrum
erhalten, um den besonderen Charakter, die örtlichen wirtschaftlichen Be¬
strebungen einer in sich geschlossenen Provinz zur freien Entwicklung gelangen
zu lassen*).

Das Haupterfordernis einer wirksamen Dezentralisation ist die Schaffung
oder vielmehr die Abgrenzung in sich einheitlicher Landschaften. Als Grund¬
lage kann natürlich nicht die fast willkürliche Departementseinteilung dienen,
wenn sie auch den Vorteil einer mehr als hundertjährigen Gewohnheit für sich
hat. Sie wurde von der Constituante in ziemlicher Eile festgesetzt, und nur
sehr wenige, ungefähr ein Drittel der Departements, stellen in geographischer,
ethnographischer und wirtschaftlicher Hinsicht eine wirkliche Einheit dar. Ebenso¬
wenig wäre ein Zurückgehen auf die ursprüngliche Provinzeinteilung des ancien
i-LZime geeignet, so einfach diese Lösung auch erscheint; denn auch sie erfüllt
mit wenigen Ausnahmen die Forderung der Geschlossenheit in keiner Weise.
Die neue Einteilung kann nur durch das Mittel der Erfahrung gewonnen
werden.

Zwei Wege führen zu diesem neuen Ziel. Der eine, am meisten be¬
gangene, führt durch die gesetzgebende Körperschaft, die Deputiertenkammer. Die
Erfolge, die man mit dieser Methode bisher errungen hat, sind wenig ermutigend.
Bei einem großen Teil der Kammer hat sich immer ein stiller Widerstand oder
wenigstens die Tendenz zur Verschleppung dezentralistischer Anträge bemerkbar
gemacht. Der Regionalismus gibt sich zwar als eine unpolitische Bewegung
aus. Liber so wenig auch ein Teil seiner Anhänger parteipolitische Absichten
verfolgt, so sicher ist es doch, daß die Teilung der Macht in der Praxis einen
gewaltigen Einfluß auf die Stellung der herrschenden Partei ausüben würde.
Eine demokratische Regierung muß, um ihre Unsicherheit zu stützen, immer eine
Reihe von Stellen an der Hand haben, um sich Freunde zu gewinnen oder zu
erhalten; und das kann sie nur da, wo die Selbstverwaltung fehlt und wo sie
unter den: Schutz der Bureaukratie allmächtig ist. Der Kammerpräsident Paul
Deschanel drückt sich so aus: "Man greift die Zentralisation an, wenn man
in der Opposition ist; man ist sehr froh, sich ihrer bedienen zu können, wenn
man erst mal an der Regierung teilnimmt**)." Sehr lehrreich waren in dieser
Beziehung die Sitzungen der Deputiertenkammer im Frühjahr 1912, als die
neue Wahlkreiseinteilung beraten wurde. Es war damals der Antrag auf Zu¬
lassung des "apparentemsnt regional" gestellt worden, der mehreren De¬
partements gestattete, sich zu Wahlzeiten zusammenzuschließen und eine gemein¬
same Kandidatenliste aufzustellen. Die Radikalen gebärdeten sich, als ob man




*) Der Theoretiker der Bewegung ist Charles-Brun mit seinem Buch "I^e KSgionalisme"
(Paris 1911) geworden. In diesem zusammenfassenden Werk findet sich auch fast die ganze
vusgcbreitete regionalistische und dezentralistische Literatur verzeichnet. Theoretisch wertvoll ist
auch die Zeitschrift I^'action rSZionsliste.
Zitiert bei Chnrles-Brun, op, on, S. 28.
Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris

und Interessen wohnt, sollen ihr eigenes administratives und geistiges Zentrum
erhalten, um den besonderen Charakter, die örtlichen wirtschaftlichen Be¬
strebungen einer in sich geschlossenen Provinz zur freien Entwicklung gelangen
zu lassen*).

Das Haupterfordernis einer wirksamen Dezentralisation ist die Schaffung
oder vielmehr die Abgrenzung in sich einheitlicher Landschaften. Als Grund¬
lage kann natürlich nicht die fast willkürliche Departementseinteilung dienen,
wenn sie auch den Vorteil einer mehr als hundertjährigen Gewohnheit für sich
hat. Sie wurde von der Constituante in ziemlicher Eile festgesetzt, und nur
sehr wenige, ungefähr ein Drittel der Departements, stellen in geographischer,
ethnographischer und wirtschaftlicher Hinsicht eine wirkliche Einheit dar. Ebenso¬
wenig wäre ein Zurückgehen auf die ursprüngliche Provinzeinteilung des ancien
i-LZime geeignet, so einfach diese Lösung auch erscheint; denn auch sie erfüllt
mit wenigen Ausnahmen die Forderung der Geschlossenheit in keiner Weise.
Die neue Einteilung kann nur durch das Mittel der Erfahrung gewonnen
werden.

Zwei Wege führen zu diesem neuen Ziel. Der eine, am meisten be¬
gangene, führt durch die gesetzgebende Körperschaft, die Deputiertenkammer. Die
Erfolge, die man mit dieser Methode bisher errungen hat, sind wenig ermutigend.
Bei einem großen Teil der Kammer hat sich immer ein stiller Widerstand oder
wenigstens die Tendenz zur Verschleppung dezentralistischer Anträge bemerkbar
gemacht. Der Regionalismus gibt sich zwar als eine unpolitische Bewegung
aus. Liber so wenig auch ein Teil seiner Anhänger parteipolitische Absichten
verfolgt, so sicher ist es doch, daß die Teilung der Macht in der Praxis einen
gewaltigen Einfluß auf die Stellung der herrschenden Partei ausüben würde.
Eine demokratische Regierung muß, um ihre Unsicherheit zu stützen, immer eine
Reihe von Stellen an der Hand haben, um sich Freunde zu gewinnen oder zu
erhalten; und das kann sie nur da, wo die Selbstverwaltung fehlt und wo sie
unter den: Schutz der Bureaukratie allmächtig ist. Der Kammerpräsident Paul
Deschanel drückt sich so aus: „Man greift die Zentralisation an, wenn man
in der Opposition ist; man ist sehr froh, sich ihrer bedienen zu können, wenn
man erst mal an der Regierung teilnimmt**)." Sehr lehrreich waren in dieser
Beziehung die Sitzungen der Deputiertenkammer im Frühjahr 1912, als die
neue Wahlkreiseinteilung beraten wurde. Es war damals der Antrag auf Zu¬
lassung des „apparentemsnt regional" gestellt worden, der mehreren De¬
partements gestattete, sich zu Wahlzeiten zusammenzuschließen und eine gemein¬
same Kandidatenliste aufzustellen. Die Radikalen gebärdeten sich, als ob man




*) Der Theoretiker der Bewegung ist Charles-Brun mit seinem Buch „I^e KSgionalisme"
(Paris 1911) geworden. In diesem zusammenfassenden Werk findet sich auch fast die ganze
vusgcbreitete regionalistische und dezentralistische Literatur verzeichnet. Theoretisch wertvoll ist
auch die Zeitschrift I^'action rSZionsliste.
Zitiert bei Chnrles-Brun, op, on, S. 28.
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[0022] Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris und Interessen wohnt, sollen ihr eigenes administratives und geistiges Zentrum erhalten, um den besonderen Charakter, die örtlichen wirtschaftlichen Be¬ strebungen einer in sich geschlossenen Provinz zur freien Entwicklung gelangen zu lassen*). Das Haupterfordernis einer wirksamen Dezentralisation ist die Schaffung oder vielmehr die Abgrenzung in sich einheitlicher Landschaften. Als Grund¬ lage kann natürlich nicht die fast willkürliche Departementseinteilung dienen, wenn sie auch den Vorteil einer mehr als hundertjährigen Gewohnheit für sich hat. Sie wurde von der Constituante in ziemlicher Eile festgesetzt, und nur sehr wenige, ungefähr ein Drittel der Departements, stellen in geographischer, ethnographischer und wirtschaftlicher Hinsicht eine wirkliche Einheit dar. Ebenso¬ wenig wäre ein Zurückgehen auf die ursprüngliche Provinzeinteilung des ancien i-LZime geeignet, so einfach diese Lösung auch erscheint; denn auch sie erfüllt mit wenigen Ausnahmen die Forderung der Geschlossenheit in keiner Weise. Die neue Einteilung kann nur durch das Mittel der Erfahrung gewonnen werden. Zwei Wege führen zu diesem neuen Ziel. Der eine, am meisten be¬ gangene, führt durch die gesetzgebende Körperschaft, die Deputiertenkammer. Die Erfolge, die man mit dieser Methode bisher errungen hat, sind wenig ermutigend. Bei einem großen Teil der Kammer hat sich immer ein stiller Widerstand oder wenigstens die Tendenz zur Verschleppung dezentralistischer Anträge bemerkbar gemacht. Der Regionalismus gibt sich zwar als eine unpolitische Bewegung aus. Liber so wenig auch ein Teil seiner Anhänger parteipolitische Absichten verfolgt, so sicher ist es doch, daß die Teilung der Macht in der Praxis einen gewaltigen Einfluß auf die Stellung der herrschenden Partei ausüben würde. Eine demokratische Regierung muß, um ihre Unsicherheit zu stützen, immer eine Reihe von Stellen an der Hand haben, um sich Freunde zu gewinnen oder zu erhalten; und das kann sie nur da, wo die Selbstverwaltung fehlt und wo sie unter den: Schutz der Bureaukratie allmächtig ist. Der Kammerpräsident Paul Deschanel drückt sich so aus: „Man greift die Zentralisation an, wenn man in der Opposition ist; man ist sehr froh, sich ihrer bedienen zu können, wenn man erst mal an der Regierung teilnimmt**)." Sehr lehrreich waren in dieser Beziehung die Sitzungen der Deputiertenkammer im Frühjahr 1912, als die neue Wahlkreiseinteilung beraten wurde. Es war damals der Antrag auf Zu¬ lassung des „apparentemsnt regional" gestellt worden, der mehreren De¬ partements gestattete, sich zu Wahlzeiten zusammenzuschließen und eine gemein¬ same Kandidatenliste aufzustellen. Die Radikalen gebärdeten sich, als ob man *) Der Theoretiker der Bewegung ist Charles-Brun mit seinem Buch „I^e KSgionalisme" (Paris 1911) geworden. In diesem zusammenfassenden Werk findet sich auch fast die ganze vusgcbreitete regionalistische und dezentralistische Literatur verzeichnet. Theoretisch wertvoll ist auch die Zeitschrift I^'action rSZionsliste. Zitiert bei Chnrles-Brun, op, on, S. 28.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/22>, abgerufen am 01.09.2024.