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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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vom Baedeker und Kunstgenuß auf Reisen

zuckte die Achseln. Was lag ihm daran! Er war nur mißmutig darüber, daß
er einige der Sterne Baedekers nicht in vollem Glänze gesehen hatte. Für
alles das, was nicht im Baedeker stand, fehlte ihm der Blick. Brummend
zog er sich daher bald zurück.

Ich aber stand noch lange und sah, wie die Prozession zurückkam und sich
in dem so seltsam mitten in die Kirchen Spaniens hineingebauten Chor
sammelte. Auch ich habe zuerst gefunden, was Baedeker sagt, daß die Raum¬
wirkung der Hallen durch diesen Chor zerrissen werde, und dachte an die Art
der Russen, den Ikonostas mitten hineinzustellen in ihre Kirchen. Inzwischen
habe ich begriffen, wie die Spanier dazu gekommen sind. Für den Spanier
ist eben die Kirche nicht bloß Raumwirkung, wie für den kunstgebildeten und
religionsfremden Reisenden aus dem Norden. Für ihn gehört der ganze Kultus
dazu. Ihm ist die Kirche ohne Gottesdienst noch lange keine Kirche, und erst
im lebendigen Ministricren der Priesterschaft, für die dieser Chor erst geschaffen
ist, bekommt die Kirche ihre Seele. Die Sie, Chapelle in Paris, die Sixtina
in Rom mögen große Kunstwerke sein: als Kirchen betrachtet sind sie seelenlos.
-- Das aber heißt die Dinge der Welt verstehen; sie so zu erfassen, wie und
wozu sie geworden sind. Eine Kirche versteht man nur dann, wenn man sie als
Kirche betrachtet. Baedeker aber, der uns mit einer Unmasse von überflüssigstem
Detail überschüttet, führt alle die. die sich seiner Leitung anvertrauen, in eine
gelehrte und trockene Wüste, in der von Leben keine Spur mehr zu finden ist.




Es ist nicht bloß mit dem Betrachten von Kirchen so. Alles wird durch
Baedeker auf Kuriositäten abgesucht. Liegt irgendwo eine belanglose Mauren¬
burg am Berge, so erzählt er ihre Geschichte, fährt man über das Schlachtfeld
von Vittona oder von einem noch weniger bekannten Scharmützel, so muß er
das dem harmlosen Reisenden sofort vermitteln. Aber für die großartigen
Einsamkeiten der kastilischen Hochebene, für die unbeschreiblichen Sonnenaufgange
hinter der schneebedeckten Sierra Guadarania hat er keine Linie übrig. In der
Tat sind auch die meisten Reisenden bei Nacht diese Strecken gefahren, weil es
da "nichts" zu sehen gibt. "Nichts" aber heißt nach Baedeker: keine Kuriositäten.
Wir haben neuerdings in der Malerei gelernt, daß nicht Raritäten malenswert
sind, sondern ganz andere Dinge. Wir müssen dies auch ins Leben übertragen.
Wir müssen erst lernen, mit eigenen Augen zu sehen, -- dann wird man
vielleicht gerade dort, wo Baedeker schweigt, das Sehenswürdigste finden. Dann
wird vielleicht jede Fahrt zu einer unendlichen Folge schöner und in ihrer
Stimmung in der Seele haftender Landschaftsbilder.




Indessen möchte ich mit allem Nachdruck betonen, daß mir nichts ferner
liegt, als Baedeker selber schlecht zu machen. Im Gegenteil, ich habe die große-


vom Baedeker und Kunstgenuß auf Reisen

zuckte die Achseln. Was lag ihm daran! Er war nur mißmutig darüber, daß
er einige der Sterne Baedekers nicht in vollem Glänze gesehen hatte. Für
alles das, was nicht im Baedeker stand, fehlte ihm der Blick. Brummend
zog er sich daher bald zurück.

Ich aber stand noch lange und sah, wie die Prozession zurückkam und sich
in dem so seltsam mitten in die Kirchen Spaniens hineingebauten Chor
sammelte. Auch ich habe zuerst gefunden, was Baedeker sagt, daß die Raum¬
wirkung der Hallen durch diesen Chor zerrissen werde, und dachte an die Art
der Russen, den Ikonostas mitten hineinzustellen in ihre Kirchen. Inzwischen
habe ich begriffen, wie die Spanier dazu gekommen sind. Für den Spanier
ist eben die Kirche nicht bloß Raumwirkung, wie für den kunstgebildeten und
religionsfremden Reisenden aus dem Norden. Für ihn gehört der ganze Kultus
dazu. Ihm ist die Kirche ohne Gottesdienst noch lange keine Kirche, und erst
im lebendigen Ministricren der Priesterschaft, für die dieser Chor erst geschaffen
ist, bekommt die Kirche ihre Seele. Die Sie, Chapelle in Paris, die Sixtina
in Rom mögen große Kunstwerke sein: als Kirchen betrachtet sind sie seelenlos.
— Das aber heißt die Dinge der Welt verstehen; sie so zu erfassen, wie und
wozu sie geworden sind. Eine Kirche versteht man nur dann, wenn man sie als
Kirche betrachtet. Baedeker aber, der uns mit einer Unmasse von überflüssigstem
Detail überschüttet, führt alle die. die sich seiner Leitung anvertrauen, in eine
gelehrte und trockene Wüste, in der von Leben keine Spur mehr zu finden ist.




Es ist nicht bloß mit dem Betrachten von Kirchen so. Alles wird durch
Baedeker auf Kuriositäten abgesucht. Liegt irgendwo eine belanglose Mauren¬
burg am Berge, so erzählt er ihre Geschichte, fährt man über das Schlachtfeld
von Vittona oder von einem noch weniger bekannten Scharmützel, so muß er
das dem harmlosen Reisenden sofort vermitteln. Aber für die großartigen
Einsamkeiten der kastilischen Hochebene, für die unbeschreiblichen Sonnenaufgange
hinter der schneebedeckten Sierra Guadarania hat er keine Linie übrig. In der
Tat sind auch die meisten Reisenden bei Nacht diese Strecken gefahren, weil es
da „nichts" zu sehen gibt. „Nichts" aber heißt nach Baedeker: keine Kuriositäten.
Wir haben neuerdings in der Malerei gelernt, daß nicht Raritäten malenswert
sind, sondern ganz andere Dinge. Wir müssen dies auch ins Leben übertragen.
Wir müssen erst lernen, mit eigenen Augen zu sehen, — dann wird man
vielleicht gerade dort, wo Baedeker schweigt, das Sehenswürdigste finden. Dann
wird vielleicht jede Fahrt zu einer unendlichen Folge schöner und in ihrer
Stimmung in der Seele haftender Landschaftsbilder.




Indessen möchte ich mit allem Nachdruck betonen, daß mir nichts ferner
liegt, als Baedeker selber schlecht zu machen. Im Gegenteil, ich habe die große-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/199>, abgerufen am 01.09.2024.