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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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vom Baedeker und Aunstgonuß auf Reisen

Moscheen einen schattigen, von springenden Brunnen bewässerten und von blühenden
Orangenbäumen durchdufteten Hof beigaben, in dem man sich sammeln konnte,
ehe man dem Heiligsten nahte. Die Kathedrale von Sevilla, die an Stelle
einer alten Maurenmoschee erbaut ist. hat einen solchen Hof noch bewahrt.

Dann betrat ich die gewaltigen Pfeilerhallen der gothischen Kathedrale.
Ich ließ die Rhythmik dieser imposanten Architektur auf mich willen, freute
mich des gedämpften und mystisch gebrochenen Sonnenlichts, das hier und da
in die dämmerigen Hallen brach. Ich sah den Zug der weißen Kleriker hin
und her wallen, lauschte dem Orgelspiel, das sich seltsam brach in den über¬
wölbten Gängen und hörte eine spanische Predigt über die sieben Schmerzen
der Maria, die mir mehr Aufschlüsse gab über Zurbaran und Murillo, als es
lange kunsthistorische Erörterungen getan hatten. Kurz, ich verlebte eine Stunde
echter Feierlichkeit in diesem imposanten Bau, der hier inmitten der lichtesten
Sonne Europas einen Raum geschaffen, indem sich friedlicher Glanz und
nordische Mystik gar seltsam mischen.

Und in dieses Milieu nun entläßt Baedeker seine Reisenden. Ich sah sie
in ganzen Hausen kommen, denn die "Heilige Woche" Sevillas war nahe, die
neugierige Gaffer aus allen Teilen der Welt versammelt. Und nun sehe man
sie an, wie sie in diesen Räumen umherwandeln, mit Baedeker, Notizbuch und
Opernglas! Von Kapelle zu Kapelle geht es, von Statue zu Statue, von
Bild zu Bild, rastlos mit gewaltsamer Neugier und ohne jedes tiefere Verstehen.

Ich habe später mit solchen Leuten oft gesprochen und der Eindruck war
immer der gleiche: daß sie im Grunde gar nichts wirklich gesehen hatten, daß
sie nur im Handbuch nachgeschlagen hatten und dann weitergegangen waren --
ohne sich überhaupt nur bewußt zu werden, daß sie in einer Kirche waren.
Vom Gottesdienst selber, der doch die Seele jeder Kirche ist, hatten sie meist
überhaupt nichts gesehen, ja sie hatten ihn meist nur als störende Beigabe und
Hemmnis empfunden. Aber sie hatten bis zur äußersten Ermüdung jede Statue,
die Baedeker nennt, in Augenschein genommen, mit dem Erfolge, daß ihnen
alles schon nach wenigen Stunden in der Erinnerung durcheinander rann.
Dabei waren es zum Teil feine und kluge Leute. Aber sie schworen auf
Baedeker und sahen nur das, was er nennt. Als ob es auf der Welt nichts
anderes gäbe als Statuen und bemalte LeinwandI Und diese Museums¬
perspektive übertrugen sie auf das ganze Leben! Man muß wirklich zuweilen
mit vielgereisten Menschen sprechen, um zu erfahren, wie wenige Menschen es
gibt, die mit ihren Sinnen etwas anzufangen wissen, wie dieselben Urteile, die
meist einem Buche entnommen sind, oft wörtlich weitergegeben werden, ge¬
dankenlos ohne Nachprüfung. Goethe sagt einmal irgendwo, daß die meisten
Menschen nur das sähen, was sie bereits wissen. Mir scheint es so zu sein,
daß die meisten Leute nur das auf ihren Reisen sehen, was im Baedeker steht.
Ja, das schlimmste ist, diese einseitige Einstellung auf Kunst und künstlerische
Dinge beherrscht sie so, daß alles andere ihnen nicht der Mühe wert erscheint.


vom Baedeker und Aunstgonuß auf Reisen

Moscheen einen schattigen, von springenden Brunnen bewässerten und von blühenden
Orangenbäumen durchdufteten Hof beigaben, in dem man sich sammeln konnte,
ehe man dem Heiligsten nahte. Die Kathedrale von Sevilla, die an Stelle
einer alten Maurenmoschee erbaut ist. hat einen solchen Hof noch bewahrt.

Dann betrat ich die gewaltigen Pfeilerhallen der gothischen Kathedrale.
Ich ließ die Rhythmik dieser imposanten Architektur auf mich willen, freute
mich des gedämpften und mystisch gebrochenen Sonnenlichts, das hier und da
in die dämmerigen Hallen brach. Ich sah den Zug der weißen Kleriker hin
und her wallen, lauschte dem Orgelspiel, das sich seltsam brach in den über¬
wölbten Gängen und hörte eine spanische Predigt über die sieben Schmerzen
der Maria, die mir mehr Aufschlüsse gab über Zurbaran und Murillo, als es
lange kunsthistorische Erörterungen getan hatten. Kurz, ich verlebte eine Stunde
echter Feierlichkeit in diesem imposanten Bau, der hier inmitten der lichtesten
Sonne Europas einen Raum geschaffen, indem sich friedlicher Glanz und
nordische Mystik gar seltsam mischen.

Und in dieses Milieu nun entläßt Baedeker seine Reisenden. Ich sah sie
in ganzen Hausen kommen, denn die „Heilige Woche" Sevillas war nahe, die
neugierige Gaffer aus allen Teilen der Welt versammelt. Und nun sehe man
sie an, wie sie in diesen Räumen umherwandeln, mit Baedeker, Notizbuch und
Opernglas! Von Kapelle zu Kapelle geht es, von Statue zu Statue, von
Bild zu Bild, rastlos mit gewaltsamer Neugier und ohne jedes tiefere Verstehen.

Ich habe später mit solchen Leuten oft gesprochen und der Eindruck war
immer der gleiche: daß sie im Grunde gar nichts wirklich gesehen hatten, daß
sie nur im Handbuch nachgeschlagen hatten und dann weitergegangen waren —
ohne sich überhaupt nur bewußt zu werden, daß sie in einer Kirche waren.
Vom Gottesdienst selber, der doch die Seele jeder Kirche ist, hatten sie meist
überhaupt nichts gesehen, ja sie hatten ihn meist nur als störende Beigabe und
Hemmnis empfunden. Aber sie hatten bis zur äußersten Ermüdung jede Statue,
die Baedeker nennt, in Augenschein genommen, mit dem Erfolge, daß ihnen
alles schon nach wenigen Stunden in der Erinnerung durcheinander rann.
Dabei waren es zum Teil feine und kluge Leute. Aber sie schworen auf
Baedeker und sahen nur das, was er nennt. Als ob es auf der Welt nichts
anderes gäbe als Statuen und bemalte LeinwandI Und diese Museums¬
perspektive übertrugen sie auf das ganze Leben! Man muß wirklich zuweilen
mit vielgereisten Menschen sprechen, um zu erfahren, wie wenige Menschen es
gibt, die mit ihren Sinnen etwas anzufangen wissen, wie dieselben Urteile, die
meist einem Buche entnommen sind, oft wörtlich weitergegeben werden, ge¬
dankenlos ohne Nachprüfung. Goethe sagt einmal irgendwo, daß die meisten
Menschen nur das sähen, was sie bereits wissen. Mir scheint es so zu sein,
daß die meisten Leute nur das auf ihren Reisen sehen, was im Baedeker steht.
Ja, das schlimmste ist, diese einseitige Einstellung auf Kunst und künstlerische
Dinge beherrscht sie so, daß alles andere ihnen nicht der Mühe wert erscheint.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/197>, abgerufen am 01.09.2024.