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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Herbert George Wells

Lleeper vakss). Selbst Schrecken oder Verwunderung über Enthüllungen der
Menschheitsgeschichte, die nur ein kühn beschwingter Geist ins Bereich der
Möglichkeit ziehen wird, kommen aus dem Erleben jener kontemplativer Helden
nur als ein mattes Echo von Regungen zu uns, die wir unserem eigenen
Innern verwandt fühlen können.

Das ändert sich erst, sobald Wells den Fuß auf die feste Erde, in die
wohlbekannte Umwelt von heute setzt, und er tut es in seinen Romanen eher
als in seinen philosophischen Schriften, die stets auf dem Fundament des Er¬
wiesenen und Erprobten die Luftgestalten des Problematischen aufzurichten
streben. Vielleicht liegt in der anmutigen Alltagsidylle "I^ope ana
^Vir. I^eviZliAm" eine leise Selbstverspottung allzuhoch fliegender Ideale, die
man gerade zu Beginn dieser Laufbahn, zur Zeit der noch nicht bewußt er¬
messenen Kraft für wahrscheinlich halten kann. Es ist die Geschichte eines
jungen Lehrers, der sich in Zuversicht auf die seiner wartende große Karriere sein
Leben auf Tag und Stunde einteilt, um dann den ganzen schönen Stunden¬
plan durch das plötzliche Auftauchen der Liebe in Gestalt eines kleinen Mädchens
über den Haufen geworfen zu sehen. Er schließt eine rasche Ehe mit einem
mittellosen Typfräulein und wird sehr bald gezwungen, auf alle hochfliegenden
Pläne zu verzichten und für Weib und Kind um Brot zu arbeiten. Aber er
tut es fröhlichen Herzens in der Erkenntnis, daß dies werdende junge Leben,
das aus der Liebe der Eltern ins Dasein wächst, unendlich viel wichtiger für
die Menschheit ist, als alles, was der ehrgeizige Herr Levisham künftig zu leisten
sich vorgesetzt hatte. Es klingt hier schon leise, dem Autor vielleicht nicht ganz
bewußt, die Idee von den hohen, dem Einzelwesen nicht kenntlichen Zielen der
Gattung hinein, die Wells dann sieben Jahre später als Lebensprogramm auf¬
gezeichnet hat.

Wir können an den Romanen der nächsten Jahre -- Ausflüge in das
abseits liegende Märchenland der Wissenschaft -- vorübereilen und auch nur
flüchtig in das groteske Spiegelbild der Übermcnschentheorie blicken, das uns
aus dem ganz utopistischen Roman "l'Ks k^ova ol tlo Qoä8" (Züchtung eines
Riesenmenschentyps mit entsprechend gesteigerten Gehirnfunktionen) entgegenschaut.
"Kipp8", der Roman des Handlungsgehilfen, zeigt sodann den Autor schon
mitten in seinen sozialistischen Studien. An ihrer Hand steigt er tiefer hinab
in das "vis vivÄNts", und die Gestalten, die er schafft, entwickeln sich aus
Jdeenträgern mehr und mehr zu wirklichen Menschen.

Indessen ist der Theoretiker in ihm zu mächtig, um sich jemals ganz zu
verleugnen. Er zeichnet gewöhnlich die Richtlinien; das Gewirk aber, das die
Zwischenräume füllt, gewinnt mit den Jahren zunehmender Reife mehr und
mehr an überzeugender Lebensechtheit. Es lag nähe, daß derselbe Theoretiker,
der die Durchsetzung falscher Werte auf dem Weltmarkte als verderblichsten
Auswuchs des Gewinnsuchtsgeistes verdammt, die Romantik des modernen
Handels zum Gegenstande einer Dichtung machen würde, wobei der Begriff


Herbert George Wells

Lleeper vakss). Selbst Schrecken oder Verwunderung über Enthüllungen der
Menschheitsgeschichte, die nur ein kühn beschwingter Geist ins Bereich der
Möglichkeit ziehen wird, kommen aus dem Erleben jener kontemplativer Helden
nur als ein mattes Echo von Regungen zu uns, die wir unserem eigenen
Innern verwandt fühlen können.

Das ändert sich erst, sobald Wells den Fuß auf die feste Erde, in die
wohlbekannte Umwelt von heute setzt, und er tut es in seinen Romanen eher
als in seinen philosophischen Schriften, die stets auf dem Fundament des Er¬
wiesenen und Erprobten die Luftgestalten des Problematischen aufzurichten
streben. Vielleicht liegt in der anmutigen Alltagsidylle „I^ope ana
^Vir. I^eviZliAm" eine leise Selbstverspottung allzuhoch fliegender Ideale, die
man gerade zu Beginn dieser Laufbahn, zur Zeit der noch nicht bewußt er¬
messenen Kraft für wahrscheinlich halten kann. Es ist die Geschichte eines
jungen Lehrers, der sich in Zuversicht auf die seiner wartende große Karriere sein
Leben auf Tag und Stunde einteilt, um dann den ganzen schönen Stunden¬
plan durch das plötzliche Auftauchen der Liebe in Gestalt eines kleinen Mädchens
über den Haufen geworfen zu sehen. Er schließt eine rasche Ehe mit einem
mittellosen Typfräulein und wird sehr bald gezwungen, auf alle hochfliegenden
Pläne zu verzichten und für Weib und Kind um Brot zu arbeiten. Aber er
tut es fröhlichen Herzens in der Erkenntnis, daß dies werdende junge Leben,
das aus der Liebe der Eltern ins Dasein wächst, unendlich viel wichtiger für
die Menschheit ist, als alles, was der ehrgeizige Herr Levisham künftig zu leisten
sich vorgesetzt hatte. Es klingt hier schon leise, dem Autor vielleicht nicht ganz
bewußt, die Idee von den hohen, dem Einzelwesen nicht kenntlichen Zielen der
Gattung hinein, die Wells dann sieben Jahre später als Lebensprogramm auf¬
gezeichnet hat.

Wir können an den Romanen der nächsten Jahre — Ausflüge in das
abseits liegende Märchenland der Wissenschaft — vorübereilen und auch nur
flüchtig in das groteske Spiegelbild der Übermcnschentheorie blicken, das uns
aus dem ganz utopistischen Roman „l'Ks k^ova ol tlo Qoä8" (Züchtung eines
Riesenmenschentyps mit entsprechend gesteigerten Gehirnfunktionen) entgegenschaut.
„Kipp8", der Roman des Handlungsgehilfen, zeigt sodann den Autor schon
mitten in seinen sozialistischen Studien. An ihrer Hand steigt er tiefer hinab
in das „vis vivÄNts", und die Gestalten, die er schafft, entwickeln sich aus
Jdeenträgern mehr und mehr zu wirklichen Menschen.

Indessen ist der Theoretiker in ihm zu mächtig, um sich jemals ganz zu
verleugnen. Er zeichnet gewöhnlich die Richtlinien; das Gewirk aber, das die
Zwischenräume füllt, gewinnt mit den Jahren zunehmender Reife mehr und
mehr an überzeugender Lebensechtheit. Es lag nähe, daß derselbe Theoretiker,
der die Durchsetzung falscher Werte auf dem Weltmarkte als verderblichsten
Auswuchs des Gewinnsuchtsgeistes verdammt, die Romantik des modernen
Handels zum Gegenstande einer Dichtung machen würde, wobei der Begriff


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/190>, abgerufen am 01.09.2024.