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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Herbert George Wells

emporhebt und weder du noch ich ist, das uns versteht und mich und dich zu
gegenseitigem Gedankenspiel benutzt -- so wie mein Daumen und Zeigefinger
gegeneinander spielen, während ich diese Feder halte und schreibe ... Ich sehe
mich selbst im Leben als Teil eines großen physischen Wesens, das der
Schönheit entgegenstrebt und, nach meinem Glauben, ihr entgegenwächst; und ich
sehe mich als Teil eines großen geistigen Wesens, das der Weisheit und Macht
entgegenstrebt und, nach meinem Glauben, ihr entgegenwächst." Wells bringt
auch eine biologische Begründung dieser seiner Glaubensformel, eine Be¬
gründung, die der wissenschaftlichen Kritik kaum standhalten könnte.

Wir müssen unterscheiden: es handelt sich hier um keine wissenschaftliche
Theorie, sondern um ein Glaubensbekenntnis. Das läßt sich nicht begründen.
Es ist da -- ein organisches Gewächs, das zum Menschen gehört wie sein Leib,
das unsichtbare Reich, in dem seine Seele sich heimfindet. Wohl kaum ein
Dichter hat wie Wells alle Gebiete menschlichen Wissens mit so rastlosem Fleiß
durchforscht, bis er diesen Ruhepunkt fand. Ein Ruhepunkt für immer -- für
alle Erdenzeit, die diesem reichen Leben noch vergönnt ist? Das Wort "Selbst¬
erlösung" drängt sich in den Sinn des Fragers, mit allem Stolz, den es in
sich schließt und aller Unzulänglichkeit. Eine Glaubensformel wie jene, liegt
schon jenseits des reinen Verstandes, wiewohl er an ihr bauen half. Und um
dieser Mithilfe willen mag sie sich vergänglich erweisen -- eine Brücke nur zu
höherer Erkenntnis. In seinem jüngsten Buche sagt Rathenau: "Sinnlos, zu¬
fällig und ungerechtfertigt bleibt jegliches Leben und Lebenswerk, wenn es sich
auf die Kräfte des rechnenden und planenden Geistes stützt; und hierin liegt
der tiefe, transzendente Trost des Daseins, daß der selbstbewußte Verstand seine
letzte Aufgabe darin findet, sich selber zu beschränken und zugunsten tiefinnerer,
geheimnisvoller Kräfte zu entsagen, die wortlos unser Gemüt berühren."




Während der Sozialphilosoph in Wells aus den Beziehungen von Mensch
zu Mensch, aus Gemeinsamkeitswirken und feindseligem Auseinanderstreben in
jahrelanger stiller Arbeit den Gedanken eines bewußt zur Vollkommenheit
strebenden Menschheitsgeistes entwickelt, vollzieht sich der Werdegang des
Romanciers in umgekehrter Richtung. Er beginnt mit der Darstellung eines
etwas ichematischen, mehr denkenden als fühlenden Menschentnps und schließt
mit der Entdeckung der Persönlichkeit. Das klingt zunächst ein wenig absurd
und bedarf der näheren Begründung.

Der Wells der früheren Periode stellt in die Mitte der Geschehnisse fast
unmer ein empfangendes und reflektierendes Subjekt, das mehr die Rolle des
Kommentators spielt, als daß es handelnd oder umwandelnd in die Ereignisse
eingriffe. Wir erfahren vom "Zeitreisenden" nicht mehr, als daß er über echten
Pioniermut verfügt und daß er vortrefflich und spannend erzählen kann. Noch
mehr im Nebel verschwimmt die Persönlichkeit des "Schläfers" (>VKc-n elf


Grenzboten III 1vt4 12
Herbert George Wells

emporhebt und weder du noch ich ist, das uns versteht und mich und dich zu
gegenseitigem Gedankenspiel benutzt — so wie mein Daumen und Zeigefinger
gegeneinander spielen, während ich diese Feder halte und schreibe ... Ich sehe
mich selbst im Leben als Teil eines großen physischen Wesens, das der
Schönheit entgegenstrebt und, nach meinem Glauben, ihr entgegenwächst; und ich
sehe mich als Teil eines großen geistigen Wesens, das der Weisheit und Macht
entgegenstrebt und, nach meinem Glauben, ihr entgegenwächst." Wells bringt
auch eine biologische Begründung dieser seiner Glaubensformel, eine Be¬
gründung, die der wissenschaftlichen Kritik kaum standhalten könnte.

Wir müssen unterscheiden: es handelt sich hier um keine wissenschaftliche
Theorie, sondern um ein Glaubensbekenntnis. Das läßt sich nicht begründen.
Es ist da — ein organisches Gewächs, das zum Menschen gehört wie sein Leib,
das unsichtbare Reich, in dem seine Seele sich heimfindet. Wohl kaum ein
Dichter hat wie Wells alle Gebiete menschlichen Wissens mit so rastlosem Fleiß
durchforscht, bis er diesen Ruhepunkt fand. Ein Ruhepunkt für immer — für
alle Erdenzeit, die diesem reichen Leben noch vergönnt ist? Das Wort „Selbst¬
erlösung" drängt sich in den Sinn des Fragers, mit allem Stolz, den es in
sich schließt und aller Unzulänglichkeit. Eine Glaubensformel wie jene, liegt
schon jenseits des reinen Verstandes, wiewohl er an ihr bauen half. Und um
dieser Mithilfe willen mag sie sich vergänglich erweisen — eine Brücke nur zu
höherer Erkenntnis. In seinem jüngsten Buche sagt Rathenau: „Sinnlos, zu¬
fällig und ungerechtfertigt bleibt jegliches Leben und Lebenswerk, wenn es sich
auf die Kräfte des rechnenden und planenden Geistes stützt; und hierin liegt
der tiefe, transzendente Trost des Daseins, daß der selbstbewußte Verstand seine
letzte Aufgabe darin findet, sich selber zu beschränken und zugunsten tiefinnerer,
geheimnisvoller Kräfte zu entsagen, die wortlos unser Gemüt berühren."




Während der Sozialphilosoph in Wells aus den Beziehungen von Mensch
zu Mensch, aus Gemeinsamkeitswirken und feindseligem Auseinanderstreben in
jahrelanger stiller Arbeit den Gedanken eines bewußt zur Vollkommenheit
strebenden Menschheitsgeistes entwickelt, vollzieht sich der Werdegang des
Romanciers in umgekehrter Richtung. Er beginnt mit der Darstellung eines
etwas ichematischen, mehr denkenden als fühlenden Menschentnps und schließt
mit der Entdeckung der Persönlichkeit. Das klingt zunächst ein wenig absurd
und bedarf der näheren Begründung.

Der Wells der früheren Periode stellt in die Mitte der Geschehnisse fast
unmer ein empfangendes und reflektierendes Subjekt, das mehr die Rolle des
Kommentators spielt, als daß es handelnd oder umwandelnd in die Ereignisse
eingriffe. Wir erfahren vom „Zeitreisenden" nicht mehr, als daß er über echten
Pioniermut verfügt und daß er vortrefflich und spannend erzählen kann. Noch
mehr im Nebel verschwimmt die Persönlichkeit des „Schläfers" (>VKc-n elf


Grenzboten III 1vt4 12
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[0189] Herbert George Wells emporhebt und weder du noch ich ist, das uns versteht und mich und dich zu gegenseitigem Gedankenspiel benutzt — so wie mein Daumen und Zeigefinger gegeneinander spielen, während ich diese Feder halte und schreibe ... Ich sehe mich selbst im Leben als Teil eines großen physischen Wesens, das der Schönheit entgegenstrebt und, nach meinem Glauben, ihr entgegenwächst; und ich sehe mich als Teil eines großen geistigen Wesens, das der Weisheit und Macht entgegenstrebt und, nach meinem Glauben, ihr entgegenwächst." Wells bringt auch eine biologische Begründung dieser seiner Glaubensformel, eine Be¬ gründung, die der wissenschaftlichen Kritik kaum standhalten könnte. Wir müssen unterscheiden: es handelt sich hier um keine wissenschaftliche Theorie, sondern um ein Glaubensbekenntnis. Das läßt sich nicht begründen. Es ist da — ein organisches Gewächs, das zum Menschen gehört wie sein Leib, das unsichtbare Reich, in dem seine Seele sich heimfindet. Wohl kaum ein Dichter hat wie Wells alle Gebiete menschlichen Wissens mit so rastlosem Fleiß durchforscht, bis er diesen Ruhepunkt fand. Ein Ruhepunkt für immer — für alle Erdenzeit, die diesem reichen Leben noch vergönnt ist? Das Wort „Selbst¬ erlösung" drängt sich in den Sinn des Fragers, mit allem Stolz, den es in sich schließt und aller Unzulänglichkeit. Eine Glaubensformel wie jene, liegt schon jenseits des reinen Verstandes, wiewohl er an ihr bauen half. Und um dieser Mithilfe willen mag sie sich vergänglich erweisen — eine Brücke nur zu höherer Erkenntnis. In seinem jüngsten Buche sagt Rathenau: „Sinnlos, zu¬ fällig und ungerechtfertigt bleibt jegliches Leben und Lebenswerk, wenn es sich auf die Kräfte des rechnenden und planenden Geistes stützt; und hierin liegt der tiefe, transzendente Trost des Daseins, daß der selbstbewußte Verstand seine letzte Aufgabe darin findet, sich selber zu beschränken und zugunsten tiefinnerer, geheimnisvoller Kräfte zu entsagen, die wortlos unser Gemüt berühren." Während der Sozialphilosoph in Wells aus den Beziehungen von Mensch zu Mensch, aus Gemeinsamkeitswirken und feindseligem Auseinanderstreben in jahrelanger stiller Arbeit den Gedanken eines bewußt zur Vollkommenheit strebenden Menschheitsgeistes entwickelt, vollzieht sich der Werdegang des Romanciers in umgekehrter Richtung. Er beginnt mit der Darstellung eines etwas ichematischen, mehr denkenden als fühlenden Menschentnps und schließt mit der Entdeckung der Persönlichkeit. Das klingt zunächst ein wenig absurd und bedarf der näheren Begründung. Der Wells der früheren Periode stellt in die Mitte der Geschehnisse fast unmer ein empfangendes und reflektierendes Subjekt, das mehr die Rolle des Kommentators spielt, als daß es handelnd oder umwandelnd in die Ereignisse eingriffe. Wir erfahren vom „Zeitreisenden" nicht mehr, als daß er über echten Pioniermut verfügt und daß er vortrefflich und spannend erzählen kann. Noch mehr im Nebel verschwimmt die Persönlichkeit des „Schläfers" (>VKc-n elf Grenzboten III 1vt4 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/189>, abgerufen am 01.09.2024.