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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Herbert George Wells

ausgeträumt. Die Wissenschaft hat mit den lebensfeindlichen Mächten der
Krankheitserreger und mit der klimatischen Unbill aufgeräumt. Darob hat sich ein
durch keine Widerstandsentwicklung mehr gestählter Menschentypus herausgebildet,
der in Kinderspielen ein paradiesisches Dasein vertändelt. Ein unterirdisches
Maschinensystem von wundersamer Vollkommenheit nimmt alle Lebensmühsal
von diesen zarten, gebauten- und seelenlosen Geschöpfen -- bis auf eine, bis
auf das groteske Ende, das in der Nacht auf sie lauert. Denn diejenigen, die
in der Tiefe jene Maschinen bedienen -- das Proletariat von einst -- hat sich
in umgekehrter Richtung vom Menschentypus entfernt. Ihre Augen sind dem
Licht entfremdet und sie sind bis zu dem Grade verliert, daß sie die Bewohner
der Oberwelt als rechtmäßige Beute und Nahrung betrachten.

Auf ein ähnliches Ende deutet der in früherer Zukunft spielende Roman
"V/Kerl tke sleeper ^valcss" hin. Das phantastische Rahmenwerk ist hier
stark beschränkt und der Gedanke der sozialen Entwicklung tritt schärfer hervor.
Doch deutet die Scheidung in Ober- und Unterwelt auf ein ähnliches Sinken von
einstiger Höhe und erträumten Idealen, und die Schilderungen der "Bewohner
des Abgrundes" fügen alle Elemente eines irdischen Inferno zu einem außer¬
ordentlich packenden Gemälde zusammen.

Vielleicht war es die Ablehnung weiter Kreise, die Dichtungen dieser Art als
phantasievollen Unsinn beiseite zu schieben gewohnt sind, die Wells bald darauf
veranlaßt hat, seine ernst zu nehmenden Bücher über die Weiterentwicklung des
Menschengeschlechts zu schreiben. Es sind fünf Werke, die die Richtlinien geben
und die durch dichterische Zwischenstationen gleichsam ergänzt werden: ,,/mti-
cipations of tke KeaLtion ol /Vlsenanical sua LLientikic pro^ress upon
l-lunam Liks and l^tivuM". .ManKinä in eile IVlaKinZ". moäern
UtoM". "^sxv V/orIä8 or via" und.First anni last l'ninZS".

Es war vorauszusehen, daß ein so regsamer Geist wie Wells auf dem
tragischen Tiefpunkt nicht verharren würde, zu dem ihn, wie oben angedeutet,
seine Theorien über die den menschlichen Intellekt unterdrückende Herrschaft der
Maschine führten. Auchpim dumpfsten Hirn glimmt ja -- und eben dieses in
tiefster Lebensnacht -- wie ein nie sterbender Funke der verhüllte Gedanke:
"Dies kann das Ende nicht sein!" Er quillt aus dem Unbewußten und wird
oft nicht bis in das klare Tagesdenken gelangen. Aber er kann zum Bau¬
meister einer Welt werden -- einer Welt, so fest gefügt und mit so uner¬
schütterlichen Mauern eingehegt, daß sie über allem persönlichen Leid als Hoch¬
burg, als Zuflucht steht. Im späteren Schaffen unseres Dichters sehen wir
nun das Gedankenfünkchen konstruktiv an der Arbeit. Zunächst ist es noch ein
Tasten, das die Befreiungsmöglichkeiten wiederum in ein starres Schema ein¬
zwängt, Platos Weltverbesserungsversuche praktisch zu wiederholen wünscht und
darüber vergißt, mit den Schwankungen von Individualitäten und Tempera¬
menten, mit den unausrottbaren Instinkten und Rassenerbteilen zu rechnen,
deren Zusammenwirken in einem menschlichen Gemeinwesen größeren oder selbst


Herbert George Wells

ausgeträumt. Die Wissenschaft hat mit den lebensfeindlichen Mächten der
Krankheitserreger und mit der klimatischen Unbill aufgeräumt. Darob hat sich ein
durch keine Widerstandsentwicklung mehr gestählter Menschentypus herausgebildet,
der in Kinderspielen ein paradiesisches Dasein vertändelt. Ein unterirdisches
Maschinensystem von wundersamer Vollkommenheit nimmt alle Lebensmühsal
von diesen zarten, gebauten- und seelenlosen Geschöpfen — bis auf eine, bis
auf das groteske Ende, das in der Nacht auf sie lauert. Denn diejenigen, die
in der Tiefe jene Maschinen bedienen — das Proletariat von einst — hat sich
in umgekehrter Richtung vom Menschentypus entfernt. Ihre Augen sind dem
Licht entfremdet und sie sind bis zu dem Grade verliert, daß sie die Bewohner
der Oberwelt als rechtmäßige Beute und Nahrung betrachten.

Auf ein ähnliches Ende deutet der in früherer Zukunft spielende Roman
„V/Kerl tke sleeper ^valcss" hin. Das phantastische Rahmenwerk ist hier
stark beschränkt und der Gedanke der sozialen Entwicklung tritt schärfer hervor.
Doch deutet die Scheidung in Ober- und Unterwelt auf ein ähnliches Sinken von
einstiger Höhe und erträumten Idealen, und die Schilderungen der „Bewohner
des Abgrundes" fügen alle Elemente eines irdischen Inferno zu einem außer¬
ordentlich packenden Gemälde zusammen.

Vielleicht war es die Ablehnung weiter Kreise, die Dichtungen dieser Art als
phantasievollen Unsinn beiseite zu schieben gewohnt sind, die Wells bald darauf
veranlaßt hat, seine ernst zu nehmenden Bücher über die Weiterentwicklung des
Menschengeschlechts zu schreiben. Es sind fünf Werke, die die Richtlinien geben
und die durch dichterische Zwischenstationen gleichsam ergänzt werden: ,,/mti-
cipations of tke KeaLtion ol /Vlsenanical sua LLientikic pro^ress upon
l-lunam Liks and l^tivuM". .ManKinä in eile IVlaKinZ". moäern
UtoM". „^sxv V/orIä8 or via" und.First anni last l'ninZS".

Es war vorauszusehen, daß ein so regsamer Geist wie Wells auf dem
tragischen Tiefpunkt nicht verharren würde, zu dem ihn, wie oben angedeutet,
seine Theorien über die den menschlichen Intellekt unterdrückende Herrschaft der
Maschine führten. Auchpim dumpfsten Hirn glimmt ja — und eben dieses in
tiefster Lebensnacht — wie ein nie sterbender Funke der verhüllte Gedanke:
„Dies kann das Ende nicht sein!" Er quillt aus dem Unbewußten und wird
oft nicht bis in das klare Tagesdenken gelangen. Aber er kann zum Bau¬
meister einer Welt werden — einer Welt, so fest gefügt und mit so uner¬
schütterlichen Mauern eingehegt, daß sie über allem persönlichen Leid als Hoch¬
burg, als Zuflucht steht. Im späteren Schaffen unseres Dichters sehen wir
nun das Gedankenfünkchen konstruktiv an der Arbeit. Zunächst ist es noch ein
Tasten, das die Befreiungsmöglichkeiten wiederum in ein starres Schema ein¬
zwängt, Platos Weltverbesserungsversuche praktisch zu wiederholen wünscht und
darüber vergißt, mit den Schwankungen von Individualitäten und Tempera¬
menten, mit den unausrottbaren Instinkten und Rassenerbteilen zu rechnen,
deren Zusammenwirken in einem menschlichen Gemeinwesen größeren oder selbst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/185>, abgerufen am 01.09.2024.