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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Herbert George Wells

Seezungen von ungefähr zu Händen gekommen sind, nicht wundern, wenn das
Urteil dieser Ausführungen dem seinen widersprechen mag. Ein überaus frucht¬
bares Schaffen, das sich gleichwohl fast stets interessant gibt, wird hier ganz
spontan und offenherzig zum Ausdruck einer Persönlichkeit, die analytisch und
phantastisch gleichmäßig begabt, nach innen schauend das Geheimnis der Um¬
welt, nach außen spähend das Mysterium des Ich zu entdecken strebt. Dabei
geht Wells, nach der Menschen Weise, mancherlei wunderlich gewundene Pfade.
Aber er besitzt den Mut, sich zu ihnen zu bekennen und in späteren Werken
Übertreibungen oder Irrtümer unumwunden zuzugeben. Denn der Einschlag in
jedem Buche, das er geschrieben hat -- einige geistvolle stört Ztories der
Frühzeit abgerechnet -- ist stets die Frage, die die Menschheit bewegt seit
Anbeginn: "Was ist unseres Lebens Sinn? Wohin treibt unser heimischer Erd¬
ball im unaufhaltsamen Flug der Äonen? Ist sein Endziel Vernichtung oder
winkt ihm die Strahlenkrone des tausendjährigen Reiches?"

Die Antwort auf diese Frage hat sich im Verlauf des zwanzigjährigen
Schaffens, auf das Wells zurückblicken darf, mehrfach verändert. Und wenn
wir den Phasen dieser Entwicklung folgen, die seine Schriften fast hüllenlos
offenbaren, so grüßt uns aus ihnen das Zweifeln und Sorgen und Sehnen und
Jauchzen eines wohlbekannten Wesens -- des "modernen Menschen". Dieser
allbeliebte Sündenbock mit dem dehnbar schattenhaften Umriß, dem wir allerlei
persönliche Unzufriedenheiten und Unzulänglichkeiten aufzupacken lieben, gewinnt
nun allerdings in seinem Spiegelbild, in der Persönlichkeit des britischen Dichters
feste, mannhafte Gestalt. Denn schon jener Bekennermut, von dem vorher die
Rede war, ist gerade kein verläßliches Charakteristikum des "modernen Menschen"
-- so sehr es der Inhalt seiner Bekenntnisse auch sein mag.

Wells kommt aus den Reichen der exakten Wissenschaft zur Literatur. Des
Darwinisten Huxlen Schüler ist er gewesen und hat das dort Erlernte zu
Resultaten umgewandelt, denen gegenüber der Meister seiner Unzufriedenheit
wohl recht drastischen Ausdruck gegeben haben möchte. Die ersten Schriften
weisen deutlich auf wissenschaftliche Experimente hin, wobei sich die Grenzen des
Erweisbaren, des Möglichen und des rein Phantastischen in ähnlicher Weise
verwischen, wie sie etwa beim Übergang vom Mineral zu Pflanze und zu Tier
von der neueren Naturwissenschaft beobachtet worden ist. 1898 bereits meldet
sich in dem Roman "1"IiL l'uns ^acnine"*) der werdende Sozialphilosoph.
Im Gemüt des Helden, des "Zeitreisenden", hat sich eine tiefe Unzufriedenheit
mit den drei Dimensionen des Raumes herausgebildet; es gelingt ihm, als
vierte die der Zeit zu entdecken. Außerdem erfindet er eine Maschine, mit der
man "in der Zeit" reisen kann. Auf diese W-ise wird es ihm möglich, die
Stufe der Menschheitsentwicklung im Jahre 802701 zu beobachten: der Traum
von der schrankenlosen Ausdehnungsmöglichkeit des menschlichen Intellekts ist



*) Sämtliche Hauptwerke Wells' sind in der Tauchnitz-Ausgabe erschienen.
Herbert George Wells

Seezungen von ungefähr zu Händen gekommen sind, nicht wundern, wenn das
Urteil dieser Ausführungen dem seinen widersprechen mag. Ein überaus frucht¬
bares Schaffen, das sich gleichwohl fast stets interessant gibt, wird hier ganz
spontan und offenherzig zum Ausdruck einer Persönlichkeit, die analytisch und
phantastisch gleichmäßig begabt, nach innen schauend das Geheimnis der Um¬
welt, nach außen spähend das Mysterium des Ich zu entdecken strebt. Dabei
geht Wells, nach der Menschen Weise, mancherlei wunderlich gewundene Pfade.
Aber er besitzt den Mut, sich zu ihnen zu bekennen und in späteren Werken
Übertreibungen oder Irrtümer unumwunden zuzugeben. Denn der Einschlag in
jedem Buche, das er geschrieben hat — einige geistvolle stört Ztories der
Frühzeit abgerechnet — ist stets die Frage, die die Menschheit bewegt seit
Anbeginn: „Was ist unseres Lebens Sinn? Wohin treibt unser heimischer Erd¬
ball im unaufhaltsamen Flug der Äonen? Ist sein Endziel Vernichtung oder
winkt ihm die Strahlenkrone des tausendjährigen Reiches?"

Die Antwort auf diese Frage hat sich im Verlauf des zwanzigjährigen
Schaffens, auf das Wells zurückblicken darf, mehrfach verändert. Und wenn
wir den Phasen dieser Entwicklung folgen, die seine Schriften fast hüllenlos
offenbaren, so grüßt uns aus ihnen das Zweifeln und Sorgen und Sehnen und
Jauchzen eines wohlbekannten Wesens — des „modernen Menschen". Dieser
allbeliebte Sündenbock mit dem dehnbar schattenhaften Umriß, dem wir allerlei
persönliche Unzufriedenheiten und Unzulänglichkeiten aufzupacken lieben, gewinnt
nun allerdings in seinem Spiegelbild, in der Persönlichkeit des britischen Dichters
feste, mannhafte Gestalt. Denn schon jener Bekennermut, von dem vorher die
Rede war, ist gerade kein verläßliches Charakteristikum des „modernen Menschen"
— so sehr es der Inhalt seiner Bekenntnisse auch sein mag.

Wells kommt aus den Reichen der exakten Wissenschaft zur Literatur. Des
Darwinisten Huxlen Schüler ist er gewesen und hat das dort Erlernte zu
Resultaten umgewandelt, denen gegenüber der Meister seiner Unzufriedenheit
wohl recht drastischen Ausdruck gegeben haben möchte. Die ersten Schriften
weisen deutlich auf wissenschaftliche Experimente hin, wobei sich die Grenzen des
Erweisbaren, des Möglichen und des rein Phantastischen in ähnlicher Weise
verwischen, wie sie etwa beim Übergang vom Mineral zu Pflanze und zu Tier
von der neueren Naturwissenschaft beobachtet worden ist. 1898 bereits meldet
sich in dem Roman „1"IiL l'uns ^acnine"*) der werdende Sozialphilosoph.
Im Gemüt des Helden, des „Zeitreisenden", hat sich eine tiefe Unzufriedenheit
mit den drei Dimensionen des Raumes herausgebildet; es gelingt ihm, als
vierte die der Zeit zu entdecken. Außerdem erfindet er eine Maschine, mit der
man „in der Zeit" reisen kann. Auf diese W-ise wird es ihm möglich, die
Stufe der Menschheitsentwicklung im Jahre 802701 zu beobachten: der Traum
von der schrankenlosen Ausdehnungsmöglichkeit des menschlichen Intellekts ist



*) Sämtliche Hauptwerke Wells' sind in der Tauchnitz-Ausgabe erschienen.
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[0184] Herbert George Wells Seezungen von ungefähr zu Händen gekommen sind, nicht wundern, wenn das Urteil dieser Ausführungen dem seinen widersprechen mag. Ein überaus frucht¬ bares Schaffen, das sich gleichwohl fast stets interessant gibt, wird hier ganz spontan und offenherzig zum Ausdruck einer Persönlichkeit, die analytisch und phantastisch gleichmäßig begabt, nach innen schauend das Geheimnis der Um¬ welt, nach außen spähend das Mysterium des Ich zu entdecken strebt. Dabei geht Wells, nach der Menschen Weise, mancherlei wunderlich gewundene Pfade. Aber er besitzt den Mut, sich zu ihnen zu bekennen und in späteren Werken Übertreibungen oder Irrtümer unumwunden zuzugeben. Denn der Einschlag in jedem Buche, das er geschrieben hat — einige geistvolle stört Ztories der Frühzeit abgerechnet — ist stets die Frage, die die Menschheit bewegt seit Anbeginn: „Was ist unseres Lebens Sinn? Wohin treibt unser heimischer Erd¬ ball im unaufhaltsamen Flug der Äonen? Ist sein Endziel Vernichtung oder winkt ihm die Strahlenkrone des tausendjährigen Reiches?" Die Antwort auf diese Frage hat sich im Verlauf des zwanzigjährigen Schaffens, auf das Wells zurückblicken darf, mehrfach verändert. Und wenn wir den Phasen dieser Entwicklung folgen, die seine Schriften fast hüllenlos offenbaren, so grüßt uns aus ihnen das Zweifeln und Sorgen und Sehnen und Jauchzen eines wohlbekannten Wesens — des „modernen Menschen". Dieser allbeliebte Sündenbock mit dem dehnbar schattenhaften Umriß, dem wir allerlei persönliche Unzufriedenheiten und Unzulänglichkeiten aufzupacken lieben, gewinnt nun allerdings in seinem Spiegelbild, in der Persönlichkeit des britischen Dichters feste, mannhafte Gestalt. Denn schon jener Bekennermut, von dem vorher die Rede war, ist gerade kein verläßliches Charakteristikum des „modernen Menschen" — so sehr es der Inhalt seiner Bekenntnisse auch sein mag. Wells kommt aus den Reichen der exakten Wissenschaft zur Literatur. Des Darwinisten Huxlen Schüler ist er gewesen und hat das dort Erlernte zu Resultaten umgewandelt, denen gegenüber der Meister seiner Unzufriedenheit wohl recht drastischen Ausdruck gegeben haben möchte. Die ersten Schriften weisen deutlich auf wissenschaftliche Experimente hin, wobei sich die Grenzen des Erweisbaren, des Möglichen und des rein Phantastischen in ähnlicher Weise verwischen, wie sie etwa beim Übergang vom Mineral zu Pflanze und zu Tier von der neueren Naturwissenschaft beobachtet worden ist. 1898 bereits meldet sich in dem Roman „1"IiL l'uns ^acnine"*) der werdende Sozialphilosoph. Im Gemüt des Helden, des „Zeitreisenden", hat sich eine tiefe Unzufriedenheit mit den drei Dimensionen des Raumes herausgebildet; es gelingt ihm, als vierte die der Zeit zu entdecken. Außerdem erfindet er eine Maschine, mit der man „in der Zeit" reisen kann. Auf diese W-ise wird es ihm möglich, die Stufe der Menschheitsentwicklung im Jahre 802701 zu beobachten: der Traum von der schrankenlosen Ausdehnungsmöglichkeit des menschlichen Intellekts ist *) Sämtliche Hauptwerke Wells' sind in der Tauchnitz-Ausgabe erschienen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/184>, abgerufen am 01.09.2024.