Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.Von der künstlerischen Aufgabe der Wissenschaft von Prof. Dr, Wilhelm Martin Becker !le allgemeine Ansicht der heutigen Zeit weiß von einem grund¬ Es kann nicht geleugnet werden, daß diese Entgegensetzung den Anschein Aber hier muß man schon eine Einschränkung machen. Wenn die eingangs *) Als Beleg diene folgende Äußerung des Straßburger Kunsthistorikers Dehio in
einem kürzlich gehaltenen Vortrage: "Die Geschichte der menschlichen Phantasiearbeit, der Kunst, verläuft in wesentlich anderen Formen als die Geschichte der auf Verstand und Wissen beruhenden Geistestätigkeit. Diese ist fortlaufende Addition; das Zeitmaß des Fortschrittes wechselt wohl zwischen schnell und langsam, aber immer ist es Fortschritt. Die Fortschritte der Wissenschaft und Technik lassen sich sozusagen kapitalisieren, die Fortschritte der Kunst nicht. Oder doch nur insoweit, als sie zugleich Wissen und Technik sind. Die Kunst muß immer wieder von vorn anfangen, denn ihre Aufgabe ists, das wechselnde innere Leben der Zeit als Bild auszukristallisieren. . (Steinhausens Archiv für Kulturgeschichte, Bd. XII S. 1). Von der künstlerischen Aufgabe der Wissenschaft von Prof. Dr, Wilhelm Martin Becker !le allgemeine Ansicht der heutigen Zeit weiß von einem grund¬ Es kann nicht geleugnet werden, daß diese Entgegensetzung den Anschein Aber hier muß man schon eine Einschränkung machen. Wenn die eingangs *) Als Beleg diene folgende Äußerung des Straßburger Kunsthistorikers Dehio in
einem kürzlich gehaltenen Vortrage: „Die Geschichte der menschlichen Phantasiearbeit, der Kunst, verläuft in wesentlich anderen Formen als die Geschichte der auf Verstand und Wissen beruhenden Geistestätigkeit. Diese ist fortlaufende Addition; das Zeitmaß des Fortschrittes wechselt wohl zwischen schnell und langsam, aber immer ist es Fortschritt. Die Fortschritte der Wissenschaft und Technik lassen sich sozusagen kapitalisieren, die Fortschritte der Kunst nicht. Oder doch nur insoweit, als sie zugleich Wissen und Technik sind. Die Kunst muß immer wieder von vorn anfangen, denn ihre Aufgabe ists, das wechselnde innere Leben der Zeit als Bild auszukristallisieren. . (Steinhausens Archiv für Kulturgeschichte, Bd. XII S. 1). <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0179" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328913"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341899_328733/figures/grenzboten_341899_328733_328913_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Von der künstlerischen Aufgabe der Wissenschaft<lb/><note type="byline"> von Prof. Dr, Wilhelm Martin Becker</note></head><lb/> <p xml:id="ID_555"> !le allgemeine Ansicht der heutigen Zeit weiß von einem grund¬<lb/> sätzlichen Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst*). Nach ihr<lb/> befaßt sich die Wissenschaft mit der fortgesetzten Anhäufung er¬<lb/> kannter Tatsachen; die Kunst dagegen bietet in ihren Werken den<lb/> Ausdruck des innersten Lebens ihrer Zeit. Die Wissenschaft könnte<lb/> man hiernach als die additive Geistestätigkeit begreifen, insofern sie zu dem<lb/> früher Gewußten Neuerkanntes hinzufügt, die Kunst als eine prokrealive, da<lb/> sie ohne Rücksicht auf früher Geschaffenes ein Neues hervorbringt. Die<lb/> Wissenschaft wäre zeitlich unabhängig, weil sie objektive Wahrheiten sammelt,<lb/> die Kunst nur aus ihrer Zeit begreiflich und in der Hervorbringung ihrer Werke<lb/> subjektiv bestimmt.</p><lb/> <p xml:id="ID_556"> Es kann nicht geleugnet werden, daß diese Entgegensetzung den Anschein<lb/> für sich hat. Insbesondere pflegt man die Fortschritte der Naturwissenschaften<lb/> und der darauf beruhenden Technik als augenfällige Argumente für das additive<lb/> Wesen der Wissenschaft anzuführen. Entdeckung reiht sich an Entdeckung, Er¬<lb/> findung an Erfindung, der Stoff wächst zusehends, und mit Bienenfleiß arbeiten<lb/> Tausende von Gelehrten an der weiteren Vermehrung des Gewußten. Auch<lb/> auf die Fortschritte der geschichtlichen Erforschung vergangener Zeiten könnte<lb/> man hinweisen, wo neue Jnschriftenfunde, neue Grabungen, neue Urkunden¬<lb/> editionen die Menge der Kenntnisse fortgesetzt bereichern.</p><lb/> <p xml:id="ID_557" next="#ID_558"> Aber hier muß man schon eine Einschränkung machen. Wenn die eingangs<lb/> erwähnte Zielsetzung für die Wissenschaft unserer Tage gilt, so ist dies doch</p><lb/> <note xml:id="FID_104" place="foot"> *) Als Beleg diene folgende Äußerung des Straßburger Kunsthistorikers Dehio in<lb/> einem kürzlich gehaltenen Vortrage: „Die Geschichte der menschlichen Phantasiearbeit, der<lb/> Kunst, verläuft in wesentlich anderen Formen als die Geschichte der auf Verstand und Wissen<lb/> beruhenden Geistestätigkeit. Diese ist fortlaufende Addition; das Zeitmaß des Fortschrittes<lb/> wechselt wohl zwischen schnell und langsam, aber immer ist es Fortschritt. Die Fortschritte der<lb/> Wissenschaft und Technik lassen sich sozusagen kapitalisieren, die Fortschritte der Kunst nicht.<lb/> Oder doch nur insoweit, als sie zugleich Wissen und Technik sind. Die Kunst muß immer<lb/> wieder von vorn anfangen, denn ihre Aufgabe ists, das wechselnde innere Leben der Zeit<lb/> als Bild auszukristallisieren. . (Steinhausens Archiv für Kulturgeschichte, Bd. XII S. 1).</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0179]
[Abbildung]
Von der künstlerischen Aufgabe der Wissenschaft
von Prof. Dr, Wilhelm Martin Becker
!le allgemeine Ansicht der heutigen Zeit weiß von einem grund¬
sätzlichen Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst*). Nach ihr
befaßt sich die Wissenschaft mit der fortgesetzten Anhäufung er¬
kannter Tatsachen; die Kunst dagegen bietet in ihren Werken den
Ausdruck des innersten Lebens ihrer Zeit. Die Wissenschaft könnte
man hiernach als die additive Geistestätigkeit begreifen, insofern sie zu dem
früher Gewußten Neuerkanntes hinzufügt, die Kunst als eine prokrealive, da
sie ohne Rücksicht auf früher Geschaffenes ein Neues hervorbringt. Die
Wissenschaft wäre zeitlich unabhängig, weil sie objektive Wahrheiten sammelt,
die Kunst nur aus ihrer Zeit begreiflich und in der Hervorbringung ihrer Werke
subjektiv bestimmt.
Es kann nicht geleugnet werden, daß diese Entgegensetzung den Anschein
für sich hat. Insbesondere pflegt man die Fortschritte der Naturwissenschaften
und der darauf beruhenden Technik als augenfällige Argumente für das additive
Wesen der Wissenschaft anzuführen. Entdeckung reiht sich an Entdeckung, Er¬
findung an Erfindung, der Stoff wächst zusehends, und mit Bienenfleiß arbeiten
Tausende von Gelehrten an der weiteren Vermehrung des Gewußten. Auch
auf die Fortschritte der geschichtlichen Erforschung vergangener Zeiten könnte
man hinweisen, wo neue Jnschriftenfunde, neue Grabungen, neue Urkunden¬
editionen die Menge der Kenntnisse fortgesetzt bereichern.
Aber hier muß man schon eine Einschränkung machen. Wenn die eingangs
erwähnte Zielsetzung für die Wissenschaft unserer Tage gilt, so ist dies doch
*) Als Beleg diene folgende Äußerung des Straßburger Kunsthistorikers Dehio in
einem kürzlich gehaltenen Vortrage: „Die Geschichte der menschlichen Phantasiearbeit, der
Kunst, verläuft in wesentlich anderen Formen als die Geschichte der auf Verstand und Wissen
beruhenden Geistestätigkeit. Diese ist fortlaufende Addition; das Zeitmaß des Fortschrittes
wechselt wohl zwischen schnell und langsam, aber immer ist es Fortschritt. Die Fortschritte der
Wissenschaft und Technik lassen sich sozusagen kapitalisieren, die Fortschritte der Kunst nicht.
Oder doch nur insoweit, als sie zugleich Wissen und Technik sind. Die Kunst muß immer
wieder von vorn anfangen, denn ihre Aufgabe ists, das wechselnde innere Leben der Zeit
als Bild auszukristallisieren. . (Steinhausens Archiv für Kulturgeschichte, Bd. XII S. 1).
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