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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Politische Betrachtungen zur Tat von Serajewo

und erschwert die Verhältnisse für die gemeinsame Staatsleitung, besonders
wenn es sich um Lebensfragen auf dem Gebiet der auswärtigen Politik handelt.

Daneben bleibt es eine geschichtliche Erfahrung, daß die politisch ungünstigen
Verhältnisse eines Landes infolge mangelnder Staatseinheit durch das Geschick
und die Willenskraft einer starken Persönlichkeit gewendet und glücklich geleitet
werden können. Warum hätte beispielsweise Franz Ferdinand einst den kirchlichen
Gegensatz des römisch-katholischen zum orthodoxen Bekenntnis nicht zu Hilfe nehmen
sollen, um unter diesem Zeichen die drei großen Völker der Monarchie, Deutsche,
Tschechen und Ungarn, gegen die Südslawen zu führen? "Wo Waffen und Idee
einen Bund schließen, sind sie immer unwiderstehlich gewesen" -- und wenn
der religiöse Gedanke die genügende Zugkraft in unserem Zeitalter nicht mehr
fände, so war noch immer der imperialistische, das weltwirtschaftliche Motiv,
verfügbar. Insofern also ist der Serajewoer Anschlag folgerichtig erdacht, als
eine Persönlichkeit beseitigt wurde, die man sür tatkräftig genug halten durfte,
um aus dem Zustand der Abwehr, in dem die Donaumonarchie unter Franz
Josef den Südslawen gegenüber sich verhielt, zum Angriff überzugehen. Nun
hat der politische Mord seine sehr lange, alte und interessante Geschichte,
aus der viel Wissenswertes und Nachdenkliches sich herausheben ließe. Hier
sei nur darauf aufmerksam gemacht, daß das Zeitalter der Aufklärung
auch der politischen Mordlust für fast ein Jahrhundert Einhalt getan hatte.
Sie beseitigen hat es nicht gekonnt, wohl aber ihre schlimmsten Folgen, denn es
verringerte den politischen Wert der Einzelpersönlichkeit. Mit der Verbreiterung
und Vertiefung der Joeen über Menschheit und Staat ist die Entwicklung der Er¬
eignisse von dem Dasein einzelner Männer unabhängiger geworden. Ideen lassen
sich nicht mehr mit dem Menschen totschlagen; hemmen kann der Mord, keineswegs
aber vernichten was dem geschichtlichen Fortschritt entgegenreift. So ist auch mit
Franz Ferdinand nur ein einzelnes Leben hinweggerafft, das vielleicht nicht einmal
ein wesentliches Moment in der Geschichte bildet; es ist aber nicht der politische
Zustand aus der Welt geschafft, aus dem die Zukunft sich gestaltet.

Dieser dürfte den Bestrebungen der Serben nicht günstig sein. Von
den nächsten Nachbarvölkern werden weder die Türkei noch Bulgarien diesem
gehaßten Gegner beispringen. Rußlands Mobilisierungskünste mögen eine
moralische Rückendeckung geben -- warum es hier an einem ernstlichen
Eintreten für Serbien doch fehlen dürfte, wird noch zu erörtern sein. Rumänien,
das zwar Nußland sich politisch genähert hat, wird kaum einem Unternehmen
entgegentreten, das sich zur Aufgabe stellt, die Gefahr eines großserbischen
Reiches, dessen Anfänge im dem geplanten Zusammenschluß Serbiens mit
Montenegro sich zeigen wollen, zunächst einmal gründlich zu beseitigen. In
Bukarest erstrebt man doch ein bestimmtes Maß von Vorherrschaft oder wenigstens
von Schiedsherrschaft auf dem Balkan, wo aber die Machtverhältnisse
doch so liegen, daß jede etwaige Machtverschiebung zugunsten Serbiens oder
des diesem befreundeten Griechenlands den rumänischen Staat in den Hinter-


Politische Betrachtungen zur Tat von Serajewo

und erschwert die Verhältnisse für die gemeinsame Staatsleitung, besonders
wenn es sich um Lebensfragen auf dem Gebiet der auswärtigen Politik handelt.

Daneben bleibt es eine geschichtliche Erfahrung, daß die politisch ungünstigen
Verhältnisse eines Landes infolge mangelnder Staatseinheit durch das Geschick
und die Willenskraft einer starken Persönlichkeit gewendet und glücklich geleitet
werden können. Warum hätte beispielsweise Franz Ferdinand einst den kirchlichen
Gegensatz des römisch-katholischen zum orthodoxen Bekenntnis nicht zu Hilfe nehmen
sollen, um unter diesem Zeichen die drei großen Völker der Monarchie, Deutsche,
Tschechen und Ungarn, gegen die Südslawen zu führen? „Wo Waffen und Idee
einen Bund schließen, sind sie immer unwiderstehlich gewesen" — und wenn
der religiöse Gedanke die genügende Zugkraft in unserem Zeitalter nicht mehr
fände, so war noch immer der imperialistische, das weltwirtschaftliche Motiv,
verfügbar. Insofern also ist der Serajewoer Anschlag folgerichtig erdacht, als
eine Persönlichkeit beseitigt wurde, die man sür tatkräftig genug halten durfte,
um aus dem Zustand der Abwehr, in dem die Donaumonarchie unter Franz
Josef den Südslawen gegenüber sich verhielt, zum Angriff überzugehen. Nun
hat der politische Mord seine sehr lange, alte und interessante Geschichte,
aus der viel Wissenswertes und Nachdenkliches sich herausheben ließe. Hier
sei nur darauf aufmerksam gemacht, daß das Zeitalter der Aufklärung
auch der politischen Mordlust für fast ein Jahrhundert Einhalt getan hatte.
Sie beseitigen hat es nicht gekonnt, wohl aber ihre schlimmsten Folgen, denn es
verringerte den politischen Wert der Einzelpersönlichkeit. Mit der Verbreiterung
und Vertiefung der Joeen über Menschheit und Staat ist die Entwicklung der Er¬
eignisse von dem Dasein einzelner Männer unabhängiger geworden. Ideen lassen
sich nicht mehr mit dem Menschen totschlagen; hemmen kann der Mord, keineswegs
aber vernichten was dem geschichtlichen Fortschritt entgegenreift. So ist auch mit
Franz Ferdinand nur ein einzelnes Leben hinweggerafft, das vielleicht nicht einmal
ein wesentliches Moment in der Geschichte bildet; es ist aber nicht der politische
Zustand aus der Welt geschafft, aus dem die Zukunft sich gestaltet.

Dieser dürfte den Bestrebungen der Serben nicht günstig sein. Von
den nächsten Nachbarvölkern werden weder die Türkei noch Bulgarien diesem
gehaßten Gegner beispringen. Rußlands Mobilisierungskünste mögen eine
moralische Rückendeckung geben — warum es hier an einem ernstlichen
Eintreten für Serbien doch fehlen dürfte, wird noch zu erörtern sein. Rumänien,
das zwar Nußland sich politisch genähert hat, wird kaum einem Unternehmen
entgegentreten, das sich zur Aufgabe stellt, die Gefahr eines großserbischen
Reiches, dessen Anfänge im dem geplanten Zusammenschluß Serbiens mit
Montenegro sich zeigen wollen, zunächst einmal gründlich zu beseitigen. In
Bukarest erstrebt man doch ein bestimmtes Maß von Vorherrschaft oder wenigstens
von Schiedsherrschaft auf dem Balkan, wo aber die Machtverhältnisse
doch so liegen, daß jede etwaige Machtverschiebung zugunsten Serbiens oder
des diesem befreundeten Griechenlands den rumänischen Staat in den Hinter-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/162>, abgerufen am 22.12.2024.