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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Nationalpolitik und Staatspolitik

Seit der teilweisen Einigung der deutschen Nationalität im Reich ist ihre Be¬
deutung in allen andern europäischen Ländern Misch zurückgegangen: seit den
1880 er Jahren ziehen wir, teils durch die russische Regierung gezwungen, teils
freiwillig unsre Kolonisten aus Rußland zurück; seit 1872 ist das Deutschtum
in Galizien, das dort bis 1866 den Ton angab, zur geduldeten Schicht herabgesunken;
in Ungarn kämpfen die Schwaben einen Verzweiflungskampf; in Bosnien mit stiren
25000 deutschen Beamten, gibt es keine staatliche höhere deutsche Schule; in Oster--
reichisch-Schlesien ist es möglich geworden, daß die Deutschen, ähnlich wie im Mittel-
alter oder neuerdings in Rußland die staatlosen Juden, gehetzt werden, ohne daß
der deutsche Nationalstaat Mittel anwenden kann, solche Vorkommnisse ein für
allemal zu verhindern. Das Reich in der Organisation, wie Bismarck sie
geschaffen hat, erfüllt die Hoffnungen, die vor fünfzig Jahren in diesen Heften
gehegt wurden, nicht! Nationalpolitik und Staatspolitik gehen bei uns nicht
Hand in Hand und das völkisch-kulturelle muß hinter dem staatlichen zurück¬
stehen. Der wirtschaftende Staat macht sich wohl die hervorragenden wirt¬
schaftlichen Eigenschaften des deutschen Stammes mehr und mehr nutzbar und
sucht sie durch seine Einrichtungen im Innern, wie Schule und Heer, weiter zu
entwickeln, aber national'deutsche Politik treibt er nicht! Er kann sie nicht treiben,
weil er aus Selbsterhaltungstrieb bei uns zwischen den wirtschaftlichen Verbänden
hin- und herlavicren muß, ebenso wie der Habsburgische zwischen den Nationalitäten
in Österreich-Ungarn laviert.

Ich möchte diese Sätze gerade im Zusammenhang mit den Vorgängen in
Serbien dem folgenden Aufsatz des Herrn Major Dr. von Szczepanski vor¬
ausschicken und zugleich an meine eignen früheren Ausführungen über Habsburgs
Sorgen (Heft 27) und über das polnische Problem (Heft 26) erinnern. Die
serbisch > österreichische Krise ist keine Habsburgische Sorge allein, sie ist eine
deutsche Sorge! Sie sollte alle Deutschen einmal veranlassen, die inneren Hader
ruhen zu lassen und über den heimischen Zaun zu blicken, ob da nicht doch
Verhältnisse eingetreten sind, die zum starken Betonen des nationalen, zu Taten
George Lleinow für das VolkstUM auffordern.




10"
Nationalpolitik und Staatspolitik

Seit der teilweisen Einigung der deutschen Nationalität im Reich ist ihre Be¬
deutung in allen andern europäischen Ländern Misch zurückgegangen: seit den
1880 er Jahren ziehen wir, teils durch die russische Regierung gezwungen, teils
freiwillig unsre Kolonisten aus Rußland zurück; seit 1872 ist das Deutschtum
in Galizien, das dort bis 1866 den Ton angab, zur geduldeten Schicht herabgesunken;
in Ungarn kämpfen die Schwaben einen Verzweiflungskampf; in Bosnien mit stiren
25000 deutschen Beamten, gibt es keine staatliche höhere deutsche Schule; in Oster--
reichisch-Schlesien ist es möglich geworden, daß die Deutschen, ähnlich wie im Mittel-
alter oder neuerdings in Rußland die staatlosen Juden, gehetzt werden, ohne daß
der deutsche Nationalstaat Mittel anwenden kann, solche Vorkommnisse ein für
allemal zu verhindern. Das Reich in der Organisation, wie Bismarck sie
geschaffen hat, erfüllt die Hoffnungen, die vor fünfzig Jahren in diesen Heften
gehegt wurden, nicht! Nationalpolitik und Staatspolitik gehen bei uns nicht
Hand in Hand und das völkisch-kulturelle muß hinter dem staatlichen zurück¬
stehen. Der wirtschaftende Staat macht sich wohl die hervorragenden wirt¬
schaftlichen Eigenschaften des deutschen Stammes mehr und mehr nutzbar und
sucht sie durch seine Einrichtungen im Innern, wie Schule und Heer, weiter zu
entwickeln, aber national'deutsche Politik treibt er nicht! Er kann sie nicht treiben,
weil er aus Selbsterhaltungstrieb bei uns zwischen den wirtschaftlichen Verbänden
hin- und herlavicren muß, ebenso wie der Habsburgische zwischen den Nationalitäten
in Österreich-Ungarn laviert.

Ich möchte diese Sätze gerade im Zusammenhang mit den Vorgängen in
Serbien dem folgenden Aufsatz des Herrn Major Dr. von Szczepanski vor¬
ausschicken und zugleich an meine eignen früheren Ausführungen über Habsburgs
Sorgen (Heft 27) und über das polnische Problem (Heft 26) erinnern. Die
serbisch > österreichische Krise ist keine Habsburgische Sorge allein, sie ist eine
deutsche Sorge! Sie sollte alle Deutschen einmal veranlassen, die inneren Hader
ruhen zu lassen und über den heimischen Zaun zu blicken, ob da nicht doch
Verhältnisse eingetreten sind, die zum starken Betonen des nationalen, zu Taten
George Lleinow für das VolkstUM auffordern.




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[0159] Nationalpolitik und Staatspolitik Seit der teilweisen Einigung der deutschen Nationalität im Reich ist ihre Be¬ deutung in allen andern europäischen Ländern Misch zurückgegangen: seit den 1880 er Jahren ziehen wir, teils durch die russische Regierung gezwungen, teils freiwillig unsre Kolonisten aus Rußland zurück; seit 1872 ist das Deutschtum in Galizien, das dort bis 1866 den Ton angab, zur geduldeten Schicht herabgesunken; in Ungarn kämpfen die Schwaben einen Verzweiflungskampf; in Bosnien mit stiren 25000 deutschen Beamten, gibt es keine staatliche höhere deutsche Schule; in Oster-- reichisch-Schlesien ist es möglich geworden, daß die Deutschen, ähnlich wie im Mittel- alter oder neuerdings in Rußland die staatlosen Juden, gehetzt werden, ohne daß der deutsche Nationalstaat Mittel anwenden kann, solche Vorkommnisse ein für allemal zu verhindern. Das Reich in der Organisation, wie Bismarck sie geschaffen hat, erfüllt die Hoffnungen, die vor fünfzig Jahren in diesen Heften gehegt wurden, nicht! Nationalpolitik und Staatspolitik gehen bei uns nicht Hand in Hand und das völkisch-kulturelle muß hinter dem staatlichen zurück¬ stehen. Der wirtschaftende Staat macht sich wohl die hervorragenden wirt¬ schaftlichen Eigenschaften des deutschen Stammes mehr und mehr nutzbar und sucht sie durch seine Einrichtungen im Innern, wie Schule und Heer, weiter zu entwickeln, aber national'deutsche Politik treibt er nicht! Er kann sie nicht treiben, weil er aus Selbsterhaltungstrieb bei uns zwischen den wirtschaftlichen Verbänden hin- und herlavicren muß, ebenso wie der Habsburgische zwischen den Nationalitäten in Österreich-Ungarn laviert. Ich möchte diese Sätze gerade im Zusammenhang mit den Vorgängen in Serbien dem folgenden Aufsatz des Herrn Major Dr. von Szczepanski vor¬ ausschicken und zugleich an meine eignen früheren Ausführungen über Habsburgs Sorgen (Heft 27) und über das polnische Problem (Heft 26) erinnern. Die serbisch > österreichische Krise ist keine Habsburgische Sorge allein, sie ist eine deutsche Sorge! Sie sollte alle Deutschen einmal veranlassen, die inneren Hader ruhen zu lassen und über den heimischen Zaun zu blicken, ob da nicht doch Verhältnisse eingetreten sind, die zum starken Betonen des nationalen, zu Taten George Lleinow für das VolkstUM auffordern. 10"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/159>, abgerufen am 01.09.2024.