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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Wandern

hübsche Gesicht der jüngsten Tochter, man weiß einen Rat für Hüftweh oder
Kopfrose. Aber es ist immer schon genug, wenn man nur in ihrer Sprache
von ihren Angelegenheiten redet; man darf nur den Fremden nicht spielen. Um
meinen Hunger hab ich nie gesorgt, aber um des Hundes Magen. Föhn ist
kein Vegetarier, er braucht sein Fleisch. Da ging ich mit ihm zu den Wirts¬
häusern, und ihr glaubt nicht, welche Freude es ist. für einen Kameraden zu
betteln. Auch zeigte Föhn, was er kann; er ist dressiert wie nur ein Hund.
Da gaben ihm die Köche eine Kufe voll, bis er sich sür den Tag satt fraß.
Eine Satte Milch durfte er auch oft ausschlecken. Aber einmal hatte er auch
wunde Füße. Da lagen wir vierundzwanzig Stunden still, und der Dorfarzt
schenkte mir Puder für die aufgeriebenen Sohlen. Am nächsten Tag war er
gesund. Föhn liebt das Klettern wie ich. Auf einen Gletscher ist er mir sogar
gefolgt, und seinetwegen mußte ich umkehren, denn ich hatte keine Socken ihm
überzuziehen. So war ich nicht allein. Oft nachts, wenn mich der Regen in
der Scheune nicht schlafen ließ, unterhielten wir uns. Was geben doch die
Landstraßen für tiefe unaussprechliche Gedanken ein; nur den Tieren kann man
sie verständlich machen, die der Natur noch nahestehen, aus der sie kommen.
Der Hund lag da, horchte und schwieg, wie es der Weisen Art ist; und ich
wußte mich bis auf den Grund verstanden.

Wir gingen durch Regen, Sturm und Sonnenglut. Eines war schöner
als das andere, aber die Gewitter am schönsten. In den Bergen rollte es, als
sollte alle Ordnung der Alpen auf den Kopf gestellt werden. Der Blitz
leuchtete zu diesen Umwälzungen. Föhn drückte sich an mich, er ist empfindlich
für Elektrizität. Nachts schliefen wir dann unter einem Baum, der noch tropfte.
Es klang ganz süß, wie die Stimmen der leibhaftigen Nacht, es tropfte nah
und fern; ein Bach gurgelte. Föhn vergalt mir und wärmte mich. Groß wie
ein Mensch, aber wärmer und zärtlicher, drückte er sich an mich, und sein
Atem ging wie ein mütterliches Wiegenlied. Es war ein Birnbaum, unter dem
wir lagen, aber er trug noch keine Früchte. Einmal hatte ich eine Herbstnacht
unter einem Apfelbaum verbracht. Es war eine unbewegte stille Luft, aber
die ganze Nacht schüttete der liebe alte Baum seine Früchte auf mich nieder.
Ich aß sie dankbar auf, und wenn ich einschlafen wollte, so klopfte ein neuer
großer Apfel, goldgelb, auf meinen Leib und mahnte mich, für den Magen zu
sorgen. Und heut waren es die kühlen großen Tropfen, die fielen und mich weckten.

Wer kennt das Glück, tagein, tagaus in silbernen Morgenfrühen zu
wandern, naß von der Quelle, die die Nacht von einem abspülte, in Tau und
Duft hinein. Man hört die schlaftrunkenen Stimmen der Vögel, entzückt sich
am Orangerot, aus dem die Sonne steigt, die Berge schlafen noch, und plötzlich
beleben sie sich. Rosa Blut fließt durch die Firne, rollt durch die Gletscher,
ein Felsen speit Blut, ein anderer Gold. Die Welt erwacht. Auf einmal singen
alle Vögel munter, weht das Gras, rufen die Hähne, Wolken ziehen schnell,
als müßten sie die Nacht einholen, Menschen sind unversehens da, eine Sense


9*
Wandern

hübsche Gesicht der jüngsten Tochter, man weiß einen Rat für Hüftweh oder
Kopfrose. Aber es ist immer schon genug, wenn man nur in ihrer Sprache
von ihren Angelegenheiten redet; man darf nur den Fremden nicht spielen. Um
meinen Hunger hab ich nie gesorgt, aber um des Hundes Magen. Föhn ist
kein Vegetarier, er braucht sein Fleisch. Da ging ich mit ihm zu den Wirts¬
häusern, und ihr glaubt nicht, welche Freude es ist. für einen Kameraden zu
betteln. Auch zeigte Föhn, was er kann; er ist dressiert wie nur ein Hund.
Da gaben ihm die Köche eine Kufe voll, bis er sich sür den Tag satt fraß.
Eine Satte Milch durfte er auch oft ausschlecken. Aber einmal hatte er auch
wunde Füße. Da lagen wir vierundzwanzig Stunden still, und der Dorfarzt
schenkte mir Puder für die aufgeriebenen Sohlen. Am nächsten Tag war er
gesund. Föhn liebt das Klettern wie ich. Auf einen Gletscher ist er mir sogar
gefolgt, und seinetwegen mußte ich umkehren, denn ich hatte keine Socken ihm
überzuziehen. So war ich nicht allein. Oft nachts, wenn mich der Regen in
der Scheune nicht schlafen ließ, unterhielten wir uns. Was geben doch die
Landstraßen für tiefe unaussprechliche Gedanken ein; nur den Tieren kann man
sie verständlich machen, die der Natur noch nahestehen, aus der sie kommen.
Der Hund lag da, horchte und schwieg, wie es der Weisen Art ist; und ich
wußte mich bis auf den Grund verstanden.

Wir gingen durch Regen, Sturm und Sonnenglut. Eines war schöner
als das andere, aber die Gewitter am schönsten. In den Bergen rollte es, als
sollte alle Ordnung der Alpen auf den Kopf gestellt werden. Der Blitz
leuchtete zu diesen Umwälzungen. Föhn drückte sich an mich, er ist empfindlich
für Elektrizität. Nachts schliefen wir dann unter einem Baum, der noch tropfte.
Es klang ganz süß, wie die Stimmen der leibhaftigen Nacht, es tropfte nah
und fern; ein Bach gurgelte. Föhn vergalt mir und wärmte mich. Groß wie
ein Mensch, aber wärmer und zärtlicher, drückte er sich an mich, und sein
Atem ging wie ein mütterliches Wiegenlied. Es war ein Birnbaum, unter dem
wir lagen, aber er trug noch keine Früchte. Einmal hatte ich eine Herbstnacht
unter einem Apfelbaum verbracht. Es war eine unbewegte stille Luft, aber
die ganze Nacht schüttete der liebe alte Baum seine Früchte auf mich nieder.
Ich aß sie dankbar auf, und wenn ich einschlafen wollte, so klopfte ein neuer
großer Apfel, goldgelb, auf meinen Leib und mahnte mich, für den Magen zu
sorgen. Und heut waren es die kühlen großen Tropfen, die fielen und mich weckten.

Wer kennt das Glück, tagein, tagaus in silbernen Morgenfrühen zu
wandern, naß von der Quelle, die die Nacht von einem abspülte, in Tau und
Duft hinein. Man hört die schlaftrunkenen Stimmen der Vögel, entzückt sich
am Orangerot, aus dem die Sonne steigt, die Berge schlafen noch, und plötzlich
beleben sie sich. Rosa Blut fließt durch die Firne, rollt durch die Gletscher,
ein Felsen speit Blut, ein anderer Gold. Die Welt erwacht. Auf einmal singen
alle Vögel munter, weht das Gras, rufen die Hähne, Wolken ziehen schnell,
als müßten sie die Nacht einholen, Menschen sind unversehens da, eine Sense


9*
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[0143] Wandern hübsche Gesicht der jüngsten Tochter, man weiß einen Rat für Hüftweh oder Kopfrose. Aber es ist immer schon genug, wenn man nur in ihrer Sprache von ihren Angelegenheiten redet; man darf nur den Fremden nicht spielen. Um meinen Hunger hab ich nie gesorgt, aber um des Hundes Magen. Föhn ist kein Vegetarier, er braucht sein Fleisch. Da ging ich mit ihm zu den Wirts¬ häusern, und ihr glaubt nicht, welche Freude es ist. für einen Kameraden zu betteln. Auch zeigte Föhn, was er kann; er ist dressiert wie nur ein Hund. Da gaben ihm die Köche eine Kufe voll, bis er sich sür den Tag satt fraß. Eine Satte Milch durfte er auch oft ausschlecken. Aber einmal hatte er auch wunde Füße. Da lagen wir vierundzwanzig Stunden still, und der Dorfarzt schenkte mir Puder für die aufgeriebenen Sohlen. Am nächsten Tag war er gesund. Föhn liebt das Klettern wie ich. Auf einen Gletscher ist er mir sogar gefolgt, und seinetwegen mußte ich umkehren, denn ich hatte keine Socken ihm überzuziehen. So war ich nicht allein. Oft nachts, wenn mich der Regen in der Scheune nicht schlafen ließ, unterhielten wir uns. Was geben doch die Landstraßen für tiefe unaussprechliche Gedanken ein; nur den Tieren kann man sie verständlich machen, die der Natur noch nahestehen, aus der sie kommen. Der Hund lag da, horchte und schwieg, wie es der Weisen Art ist; und ich wußte mich bis auf den Grund verstanden. Wir gingen durch Regen, Sturm und Sonnenglut. Eines war schöner als das andere, aber die Gewitter am schönsten. In den Bergen rollte es, als sollte alle Ordnung der Alpen auf den Kopf gestellt werden. Der Blitz leuchtete zu diesen Umwälzungen. Föhn drückte sich an mich, er ist empfindlich für Elektrizität. Nachts schliefen wir dann unter einem Baum, der noch tropfte. Es klang ganz süß, wie die Stimmen der leibhaftigen Nacht, es tropfte nah und fern; ein Bach gurgelte. Föhn vergalt mir und wärmte mich. Groß wie ein Mensch, aber wärmer und zärtlicher, drückte er sich an mich, und sein Atem ging wie ein mütterliches Wiegenlied. Es war ein Birnbaum, unter dem wir lagen, aber er trug noch keine Früchte. Einmal hatte ich eine Herbstnacht unter einem Apfelbaum verbracht. Es war eine unbewegte stille Luft, aber die ganze Nacht schüttete der liebe alte Baum seine Früchte auf mich nieder. Ich aß sie dankbar auf, und wenn ich einschlafen wollte, so klopfte ein neuer großer Apfel, goldgelb, auf meinen Leib und mahnte mich, für den Magen zu sorgen. Und heut waren es die kühlen großen Tropfen, die fielen und mich weckten. Wer kennt das Glück, tagein, tagaus in silbernen Morgenfrühen zu wandern, naß von der Quelle, die die Nacht von einem abspülte, in Tau und Duft hinein. Man hört die schlaftrunkenen Stimmen der Vögel, entzückt sich am Orangerot, aus dem die Sonne steigt, die Berge schlafen noch, und plötzlich beleben sie sich. Rosa Blut fließt durch die Firne, rollt durch die Gletscher, ein Felsen speit Blut, ein anderer Gold. Die Welt erwacht. Auf einmal singen alle Vögel munter, weht das Gras, rufen die Hähne, Wolken ziehen schnell, als müßten sie die Nacht einholen, Menschen sind unversehens da, eine Sense 9*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/143>, abgerufen am 22.12.2024.