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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die energetische Naturauffassung

rätselhaften Naturerscheinungen in widerspruchloser und befriedigender Weise
erklären. Wir erkennen, von welch ungeheurer Bedeutung diese Ausgestaltung
der Theorie für unser gesamtes naturwissenschaftliches Weltbild ist, wie ver¬
hängnisvoll sie für die mechanistische Naturauffassung ist! Die Bausteine unseres
Universums, die Elektronen, besitzen keine Masse. Sie sind reine Elektrizitäts¬
einheiten. Elektrizität aber ist eine besondere Form von Energie. Die sogenannte
Masse aber ist nichts als "kondensierte" Energie. Damit fallen die Grund¬
pfeiler der mechanistischen Naturauffassung: einmal der Massebegriff selber, und
dann auch die Erhaltungsgesetze (Satz von der Erhaltung der Masse und von
der Erhaltung der Energie), die in der von der mechanistischen Ausfassung
verfochtenen Form jetzt nicht mehr gültig sind.

Denn der Gedanke ist jetzt physikalisch nicht mehr unmöglich, daß jene
Energiekondensation, als welche sich die Masse dargestellt hat, so wie sie sich
kondensiert hat, sich dereinst auch wieder "dissoziiere", auflöse. Dann würde
also Masse aus dem Weltall verschwinden und Elektrizität als ihr Zersetzungs¬
produkt zurücklassen. Es ist klar, daß mit solchen Vorstellungen das Weltbild
der mechanistischen Naturauffassung endgültig verlassen ist. Wir gehen damit
zu einer ganz andersartigen, einer "energetischen" Naturauffassung über. Diese
stellt sich für Gustave le Bon in großen Zügen folgendermaßen dar: Ur¬
sprünglich hat der masselose, imponderable Lichtäther, gleichsam als ein un¬
geheures Energiereservoir, das Weltall erfüllt. Es ist das "Chaos", von dem
der antike Mythos singt und den die alten Philosophen als "Quintessenz"
aller Dinge annahmen. In ihm haben irgendwelche unbekannte, durch die
menschliche Wissenschaft nicht weiter faßbare Kräfte jene Verdichtungen ge¬
bildet, die wir die Materie nennen. So bedeutet jedes materielle Atom ein
Energiereservoir. Daß aus ihm scheinbar keine Energie in die materielle
Welt ausfließt und daß in dieser also scheinbar das Energieerhaltungsgesetz im
mechanistischen Sinne herrscht, liegt daran, daß die Auflösung der Atome in
Energie -- ihre "Dissoziation" -- ungeheuer langsam vor sich geht. Wir
können uns das materielle Atom vorstellen unter dem Bilde eines festverschlossenen
Geldschrankes voll von Gold, aus dem wir stets nur winzige Goldmengen
durch das Schlüsselloch herausziehen können. Wer einen solchen Geldschrank
besitzt, ist enorm reich und doch zugleich arm. Er besitzt das Gold und kann
es doch nicht in die Hände bekommen und verwerten. So sind auch wir
Menschen mit unseren ungeheuren Energiereservoiren der Atome zugleich un¬
endlich reich und doch arm. Denn wir besitzen die Energie und können sie
doch nicht nutzbar machen. Der Gelehrte, der das Mittel finden würde, die
Auflösung der Atome in Energie, die "Dissoziation der Materie" so zu be¬
schleunigen, daß wir die dabei frei werdenden Energiemengen technisch nutzbar
machen könnten, würde mit einem Schlage unser gesamtes Weltbild ändern.
Die Menschen würden in der Materie selbst eine ungeheure Energiespenderin
kostenlos zur Verfügung haben, die uns willig die erforderliche Arbeit leisten


Die energetische Naturauffassung

rätselhaften Naturerscheinungen in widerspruchloser und befriedigender Weise
erklären. Wir erkennen, von welch ungeheurer Bedeutung diese Ausgestaltung
der Theorie für unser gesamtes naturwissenschaftliches Weltbild ist, wie ver¬
hängnisvoll sie für die mechanistische Naturauffassung ist! Die Bausteine unseres
Universums, die Elektronen, besitzen keine Masse. Sie sind reine Elektrizitäts¬
einheiten. Elektrizität aber ist eine besondere Form von Energie. Die sogenannte
Masse aber ist nichts als „kondensierte" Energie. Damit fallen die Grund¬
pfeiler der mechanistischen Naturauffassung: einmal der Massebegriff selber, und
dann auch die Erhaltungsgesetze (Satz von der Erhaltung der Masse und von
der Erhaltung der Energie), die in der von der mechanistischen Ausfassung
verfochtenen Form jetzt nicht mehr gültig sind.

Denn der Gedanke ist jetzt physikalisch nicht mehr unmöglich, daß jene
Energiekondensation, als welche sich die Masse dargestellt hat, so wie sie sich
kondensiert hat, sich dereinst auch wieder „dissoziiere", auflöse. Dann würde
also Masse aus dem Weltall verschwinden und Elektrizität als ihr Zersetzungs¬
produkt zurücklassen. Es ist klar, daß mit solchen Vorstellungen das Weltbild
der mechanistischen Naturauffassung endgültig verlassen ist. Wir gehen damit
zu einer ganz andersartigen, einer „energetischen" Naturauffassung über. Diese
stellt sich für Gustave le Bon in großen Zügen folgendermaßen dar: Ur¬
sprünglich hat der masselose, imponderable Lichtäther, gleichsam als ein un¬
geheures Energiereservoir, das Weltall erfüllt. Es ist das „Chaos", von dem
der antike Mythos singt und den die alten Philosophen als „Quintessenz"
aller Dinge annahmen. In ihm haben irgendwelche unbekannte, durch die
menschliche Wissenschaft nicht weiter faßbare Kräfte jene Verdichtungen ge¬
bildet, die wir die Materie nennen. So bedeutet jedes materielle Atom ein
Energiereservoir. Daß aus ihm scheinbar keine Energie in die materielle
Welt ausfließt und daß in dieser also scheinbar das Energieerhaltungsgesetz im
mechanistischen Sinne herrscht, liegt daran, daß die Auflösung der Atome in
Energie — ihre „Dissoziation" — ungeheuer langsam vor sich geht. Wir
können uns das materielle Atom vorstellen unter dem Bilde eines festverschlossenen
Geldschrankes voll von Gold, aus dem wir stets nur winzige Goldmengen
durch das Schlüsselloch herausziehen können. Wer einen solchen Geldschrank
besitzt, ist enorm reich und doch zugleich arm. Er besitzt das Gold und kann
es doch nicht in die Hände bekommen und verwerten. So sind auch wir
Menschen mit unseren ungeheuren Energiereservoiren der Atome zugleich un¬
endlich reich und doch arm. Denn wir besitzen die Energie und können sie
doch nicht nutzbar machen. Der Gelehrte, der das Mittel finden würde, die
Auflösung der Atome in Energie, die „Dissoziation der Materie" so zu be¬
schleunigen, daß wir die dabei frei werdenden Energiemengen technisch nutzbar
machen könnten, würde mit einem Schlage unser gesamtes Weltbild ändern.
Die Menschen würden in der Materie selbst eine ungeheure Energiespenderin
kostenlos zur Verfügung haben, die uns willig die erforderliche Arbeit leisten


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[0128] Die energetische Naturauffassung rätselhaften Naturerscheinungen in widerspruchloser und befriedigender Weise erklären. Wir erkennen, von welch ungeheurer Bedeutung diese Ausgestaltung der Theorie für unser gesamtes naturwissenschaftliches Weltbild ist, wie ver¬ hängnisvoll sie für die mechanistische Naturauffassung ist! Die Bausteine unseres Universums, die Elektronen, besitzen keine Masse. Sie sind reine Elektrizitäts¬ einheiten. Elektrizität aber ist eine besondere Form von Energie. Die sogenannte Masse aber ist nichts als „kondensierte" Energie. Damit fallen die Grund¬ pfeiler der mechanistischen Naturauffassung: einmal der Massebegriff selber, und dann auch die Erhaltungsgesetze (Satz von der Erhaltung der Masse und von der Erhaltung der Energie), die in der von der mechanistischen Ausfassung verfochtenen Form jetzt nicht mehr gültig sind. Denn der Gedanke ist jetzt physikalisch nicht mehr unmöglich, daß jene Energiekondensation, als welche sich die Masse dargestellt hat, so wie sie sich kondensiert hat, sich dereinst auch wieder „dissoziiere", auflöse. Dann würde also Masse aus dem Weltall verschwinden und Elektrizität als ihr Zersetzungs¬ produkt zurücklassen. Es ist klar, daß mit solchen Vorstellungen das Weltbild der mechanistischen Naturauffassung endgültig verlassen ist. Wir gehen damit zu einer ganz andersartigen, einer „energetischen" Naturauffassung über. Diese stellt sich für Gustave le Bon in großen Zügen folgendermaßen dar: Ur¬ sprünglich hat der masselose, imponderable Lichtäther, gleichsam als ein un¬ geheures Energiereservoir, das Weltall erfüllt. Es ist das „Chaos", von dem der antike Mythos singt und den die alten Philosophen als „Quintessenz" aller Dinge annahmen. In ihm haben irgendwelche unbekannte, durch die menschliche Wissenschaft nicht weiter faßbare Kräfte jene Verdichtungen ge¬ bildet, die wir die Materie nennen. So bedeutet jedes materielle Atom ein Energiereservoir. Daß aus ihm scheinbar keine Energie in die materielle Welt ausfließt und daß in dieser also scheinbar das Energieerhaltungsgesetz im mechanistischen Sinne herrscht, liegt daran, daß die Auflösung der Atome in Energie — ihre „Dissoziation" — ungeheuer langsam vor sich geht. Wir können uns das materielle Atom vorstellen unter dem Bilde eines festverschlossenen Geldschrankes voll von Gold, aus dem wir stets nur winzige Goldmengen durch das Schlüsselloch herausziehen können. Wer einen solchen Geldschrank besitzt, ist enorm reich und doch zugleich arm. Er besitzt das Gold und kann es doch nicht in die Hände bekommen und verwerten. So sind auch wir Menschen mit unseren ungeheuren Energiereservoiren der Atome zugleich un¬ endlich reich und doch arm. Denn wir besitzen die Energie und können sie doch nicht nutzbar machen. Der Gelehrte, der das Mittel finden würde, die Auflösung der Atome in Energie, die „Dissoziation der Materie" so zu be¬ schleunigen, daß wir die dabei frei werdenden Energiemengen technisch nutzbar machen könnten, würde mit einem Schlage unser gesamtes Weltbild ändern. Die Menschen würden in der Materie selbst eine ungeheure Energiespenderin kostenlos zur Verfügung haben, die uns willig die erforderliche Arbeit leisten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/128>, abgerufen am 01.09.2024.