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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundzüge einer Literatnrbciuteilung

Damit soll gar nicht zu einer Betrachtungsweise der Erscheinungen der
Gegenwart gedrängt, die unsere Zeit in eine künstliche historische Distanz rückt,
sondern nur die Forderung befolgt werden: alle Beurteilung der Gegenwarts¬
literatur hat sich von allem Subjektiven frei zu halten, nur um die geistige
Leistung zu kümmern, nur geistiger Art zu sein. Nur dann allein vermag sie
den universalen Charakter auch für die Gegenwart, für das unmittelbar um
sie aufbrausende Leben zu bewahren und positive Arbeit zu tun. Auf solche
positive Arbeit kommt es aber an, uicht auf Bartels' negative Ablehnungs¬
methode; solche positive Arbeit wird in der und für die Gegenwart unternommen,
hat also nur relative Gültigkeit. Bartels aber naße sich an, als Literar¬
historiker schon über die Erscheinungen der Gegenwart ein absolut gültiges
Urteil zu besitzen! Das heißt verschiedene Maßstäbe anwenden: die Vergangen¬
heit sieht er, zugegebenerweise, wie es nicht anders möglich ist, vom Stand¬
punkte der Gegenwart aus an und die Gegenwart vom Standpunkte der Ver¬
gangenheit! Wie er den Standpunkt der Vergangenheit erreicht, vermag er
nicht zu sagen, auch nicht ihn zu charakterisieren, denn solch Unterfangen ist
unmöglich, erweckt freilich, wie Parteileute es wünschen, den Schein der Objek¬
tivität, der nichts weiter ist als subjektive Willkür. Einige Blicke in seine
Weltliteratur werden meine Worte bezeugen. III, 632 spricht er von Frank
Wedekind: "Auch Hannoveraner, wie Hartleben und Tovote, ist Fort
Wedekind ^geboren 1864^, der etwas wie eine dramatische Klownkunst, in der
Naturalismus und Symbolismus zusammenlaufen, geschaffen hat. Sie steht
zurzeit an der literarischen Börse ziemlich hoch im Werte." Das ist alles:
tendenziöse Behauptungen ohne Beweis und Begründung! Und dabei müßte
Bartels schon deswegen auf Wedekind näher eingehen, weil dieser Dichter
einen Anschauungskreis von Zeitgenossen, eine Seite des Gegenwartslebens ver¬
tritt und kennzeichnet, die kein anderer Künstler zu gestalten und zu charaüeri-
sieren vermag. Andere eigenartige Erscheinungen werden (M, 633) "einfach"
mit Schlagworten, wie z. B. Dehmel als Haupt der Symbolisten, abgemacht
oder nur, wie Rainer Maria Rilke, mit Namen angeführt, während die Bartels
genehmen Heimatskünstler, wie z. B. Heinrich Sohnrey (III, 635), die meist
keine symptomatische Bedeutung für das deutsche Gegenwartsleben besitzen, mehr
Raum erhalten! Die ganze Tendenz von Bartels' Art, unsere Zeit zu sehen,
bricht in den kurzen Worten hervor (III, 639f.): "Soll man die heutige Situation
der deutschen Literatur schlagend ^ kennzeichnen, so muß man wohl sagen, daß
sich eine ästhctizistische, vielfach dekadente und eine gesunde, neurealistische Rich¬
tung gegenüberstehen." So wird die ganze wunderbare Vielfältigkeit unseres
modernen literarischen Lebens aus eine Formel rein äußerlicher Art gebracht
und jeder Philister und Dilettant kann nun die Schafe von den Böcken scheiden,
je nach seinen Parteianschauungen. Wir danken für eine solche Darstellung der
deutschen Gegenwartsliteratur in einer "Einführung in die Weltliteratur", die
den Namen Goethes in Anspruch nimmt. Um Goethes willen danken wir!


Die Grundzüge einer Literatnrbciuteilung

Damit soll gar nicht zu einer Betrachtungsweise der Erscheinungen der
Gegenwart gedrängt, die unsere Zeit in eine künstliche historische Distanz rückt,
sondern nur die Forderung befolgt werden: alle Beurteilung der Gegenwarts¬
literatur hat sich von allem Subjektiven frei zu halten, nur um die geistige
Leistung zu kümmern, nur geistiger Art zu sein. Nur dann allein vermag sie
den universalen Charakter auch für die Gegenwart, für das unmittelbar um
sie aufbrausende Leben zu bewahren und positive Arbeit zu tun. Auf solche
positive Arbeit kommt es aber an, uicht auf Bartels' negative Ablehnungs¬
methode; solche positive Arbeit wird in der und für die Gegenwart unternommen,
hat also nur relative Gültigkeit. Bartels aber naße sich an, als Literar¬
historiker schon über die Erscheinungen der Gegenwart ein absolut gültiges
Urteil zu besitzen! Das heißt verschiedene Maßstäbe anwenden: die Vergangen¬
heit sieht er, zugegebenerweise, wie es nicht anders möglich ist, vom Stand¬
punkte der Gegenwart aus an und die Gegenwart vom Standpunkte der Ver¬
gangenheit! Wie er den Standpunkt der Vergangenheit erreicht, vermag er
nicht zu sagen, auch nicht ihn zu charakterisieren, denn solch Unterfangen ist
unmöglich, erweckt freilich, wie Parteileute es wünschen, den Schein der Objek¬
tivität, der nichts weiter ist als subjektive Willkür. Einige Blicke in seine
Weltliteratur werden meine Worte bezeugen. III, 632 spricht er von Frank
Wedekind: „Auch Hannoveraner, wie Hartleben und Tovote, ist Fort
Wedekind ^geboren 1864^, der etwas wie eine dramatische Klownkunst, in der
Naturalismus und Symbolismus zusammenlaufen, geschaffen hat. Sie steht
zurzeit an der literarischen Börse ziemlich hoch im Werte." Das ist alles:
tendenziöse Behauptungen ohne Beweis und Begründung! Und dabei müßte
Bartels schon deswegen auf Wedekind näher eingehen, weil dieser Dichter
einen Anschauungskreis von Zeitgenossen, eine Seite des Gegenwartslebens ver¬
tritt und kennzeichnet, die kein anderer Künstler zu gestalten und zu charaüeri-
sieren vermag. Andere eigenartige Erscheinungen werden (M, 633) „einfach"
mit Schlagworten, wie z. B. Dehmel als Haupt der Symbolisten, abgemacht
oder nur, wie Rainer Maria Rilke, mit Namen angeführt, während die Bartels
genehmen Heimatskünstler, wie z. B. Heinrich Sohnrey (III, 635), die meist
keine symptomatische Bedeutung für das deutsche Gegenwartsleben besitzen, mehr
Raum erhalten! Die ganze Tendenz von Bartels' Art, unsere Zeit zu sehen,
bricht in den kurzen Worten hervor (III, 639f.): „Soll man die heutige Situation
der deutschen Literatur schlagend ^ kennzeichnen, so muß man wohl sagen, daß
sich eine ästhctizistische, vielfach dekadente und eine gesunde, neurealistische Rich¬
tung gegenüberstehen." So wird die ganze wunderbare Vielfältigkeit unseres
modernen literarischen Lebens aus eine Formel rein äußerlicher Art gebracht
und jeder Philister und Dilettant kann nun die Schafe von den Böcken scheiden,
je nach seinen Parteianschauungen. Wir danken für eine solche Darstellung der
deutschen Gegenwartsliteratur in einer „Einführung in die Weltliteratur", die
den Namen Goethes in Anspruch nimmt. Um Goethes willen danken wir!


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[0563] Die Grundzüge einer Literatnrbciuteilung Damit soll gar nicht zu einer Betrachtungsweise der Erscheinungen der Gegenwart gedrängt, die unsere Zeit in eine künstliche historische Distanz rückt, sondern nur die Forderung befolgt werden: alle Beurteilung der Gegenwarts¬ literatur hat sich von allem Subjektiven frei zu halten, nur um die geistige Leistung zu kümmern, nur geistiger Art zu sein. Nur dann allein vermag sie den universalen Charakter auch für die Gegenwart, für das unmittelbar um sie aufbrausende Leben zu bewahren und positive Arbeit zu tun. Auf solche positive Arbeit kommt es aber an, uicht auf Bartels' negative Ablehnungs¬ methode; solche positive Arbeit wird in der und für die Gegenwart unternommen, hat also nur relative Gültigkeit. Bartels aber naße sich an, als Literar¬ historiker schon über die Erscheinungen der Gegenwart ein absolut gültiges Urteil zu besitzen! Das heißt verschiedene Maßstäbe anwenden: die Vergangen¬ heit sieht er, zugegebenerweise, wie es nicht anders möglich ist, vom Stand¬ punkte der Gegenwart aus an und die Gegenwart vom Standpunkte der Ver¬ gangenheit! Wie er den Standpunkt der Vergangenheit erreicht, vermag er nicht zu sagen, auch nicht ihn zu charakterisieren, denn solch Unterfangen ist unmöglich, erweckt freilich, wie Parteileute es wünschen, den Schein der Objek¬ tivität, der nichts weiter ist als subjektive Willkür. Einige Blicke in seine Weltliteratur werden meine Worte bezeugen. III, 632 spricht er von Frank Wedekind: „Auch Hannoveraner, wie Hartleben und Tovote, ist Fort Wedekind ^geboren 1864^, der etwas wie eine dramatische Klownkunst, in der Naturalismus und Symbolismus zusammenlaufen, geschaffen hat. Sie steht zurzeit an der literarischen Börse ziemlich hoch im Werte." Das ist alles: tendenziöse Behauptungen ohne Beweis und Begründung! Und dabei müßte Bartels schon deswegen auf Wedekind näher eingehen, weil dieser Dichter einen Anschauungskreis von Zeitgenossen, eine Seite des Gegenwartslebens ver¬ tritt und kennzeichnet, die kein anderer Künstler zu gestalten und zu charaüeri- sieren vermag. Andere eigenartige Erscheinungen werden (M, 633) „einfach" mit Schlagworten, wie z. B. Dehmel als Haupt der Symbolisten, abgemacht oder nur, wie Rainer Maria Rilke, mit Namen angeführt, während die Bartels genehmen Heimatskünstler, wie z. B. Heinrich Sohnrey (III, 635), die meist keine symptomatische Bedeutung für das deutsche Gegenwartsleben besitzen, mehr Raum erhalten! Die ganze Tendenz von Bartels' Art, unsere Zeit zu sehen, bricht in den kurzen Worten hervor (III, 639f.): „Soll man die heutige Situation der deutschen Literatur schlagend ^ kennzeichnen, so muß man wohl sagen, daß sich eine ästhctizistische, vielfach dekadente und eine gesunde, neurealistische Rich¬ tung gegenüberstehen." So wird die ganze wunderbare Vielfältigkeit unseres modernen literarischen Lebens aus eine Formel rein äußerlicher Art gebracht und jeder Philister und Dilettant kann nun die Schafe von den Böcken scheiden, je nach seinen Parteianschauungen. Wir danken für eine solche Darstellung der deutschen Gegenwartsliteratur in einer „Einführung in die Weltliteratur", die den Namen Goethes in Anspruch nimmt. Um Goethes willen danken wir!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/563>, abgerufen am 25.07.2024.