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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung

Goethe in den Mittelpunkt, als er weitblickend und feinfühlig den Sinn des
Erlebnisses für die Dichtung erwog und das innere Verhältnis von Erlebnis und
Dichtung prüfte. Er vermied den Fehlgriff, künstlerisches Erlebnis aus einer möglichst
großen Menge biographischer Tatsachen erschließen zu wollen. Wohl steht bei Goethe
äußeres Erleben mit künstlerischem Schaffen in besonders enger Beziehung.
Darum konnte Goethe die Entstehung seiner Jugendschöpfungen aufzeigen,
indem er seine Jugend erzählte. Allein Goethe ist ein Ausnuhmefall. Das wurde
schon von Dilthey hinlänglich dargetan. Sein Leben war, mindestens in seiner
Jugend, so reich und so schön, daß es ihm zur Poesie werden konnte. Ander¬
seits ist ein Grundzug von Goethes Poesie, daß sie äußerem Leben nahe bleiben
und doch den Eindruck erwecken konnte, von künstlerisch gestaltender Phantasie
durchflutet und durchwärmt zu sein. Darum geht uns Goethes Kunst nicht
verloren, wenn wir sie mit seinem äußeren Leben in Beziehung bringen. Schon
bei Schiller trifft Gleiches nicht zu. Dichter aber und Künstler wie Heine,
Richard Wagner oder auch Hebbel werden, soweit Verständnis ihrer Kunst in
Frage ist, uns nur fremder und fremder, je emsiger wir ihren äußeren Schick¬
salen nachgehen. Die Vorsicht, die der Ergründung der Kunst eines Dichters
angesichts des äußeren Lebens dieses Dichters muß walten lassen, wurde jedoch
nicht nur da außer acht gelassen, wo zwischen Leben und Dichtung geradezu ein
starker und bewußter Gegensatz herrscht, wie bei Heine, Wagner, Hebbel, sondern
auch Goethes Biographie wurde in einem Umfang der Deutung seiner Werke
dienstbar gemacht, den er selbst nie gebilligt hätte, weil es dabei vom Versuche
künstlerischen Verständnisses zu zwecklos indiskreter Enthüllung von Lebensgeheim¬
nissen weiterging." Adolf Bartels wird diese Behauptung, daß bei vielen
Künstlern ein Gegensatz zwischen Leben und Dichtung bestehe, nie zugeben, ob¬
wohl auch er, der willigste Hebbelanbeter, noch nicht die Einheit von Hebbels
Leben und Dichtung restlos hat nachweisen können. Ebenso hat er sich --
besonders im Fall Heine -- "vom Versuche künstlerischen Verständnisses", ich
möchte lieber sagen: universalen Neuerlebens ganz "zur zwecklos indiskreten
Enthüllung von Lebensgeheimnissen" abdrängen lassen. So darf das Biographische
nie verwandt werden, denn sonst wird die Literaturwissenschaft abhängig von
der Menge der biographischen Tatsachen, die von einem Dichter erhalten sind.
Wie wollte man denn Kunstwerke gerecht verwalten, deren Dichter nach ihren
Lebensumständen unbekannt sind?! Einen Gottfried von Straßburg, die Sänger
der großen Nationalepen, Dichter der früheren Jahrhunderte, und des Alter¬
tums?! Der Literaturforschung bleibt natürlich die Aufgabe, das Leben der
Dichter den Tatsachen nach zu erschließen. Die Literaturwissenschaft hat aber
diese Tatsachen ihren psychologischen Resultaten nach nur insoweit zu benutzen,
als sie für die Erlebnisfrage und für die allgemeine Erkenntnis der Dichter¬
sprache, der Schaffensbedingungen usw. Wert haben, und das in universaler
Gesinnung, nicht vom Standpunkt engherziger Bürgermoral, wie bei Bartels,
der sich nur dann ein wenig von seinem Pharisäertum befreit, wenn er es


Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung

Goethe in den Mittelpunkt, als er weitblickend und feinfühlig den Sinn des
Erlebnisses für die Dichtung erwog und das innere Verhältnis von Erlebnis und
Dichtung prüfte. Er vermied den Fehlgriff, künstlerisches Erlebnis aus einer möglichst
großen Menge biographischer Tatsachen erschließen zu wollen. Wohl steht bei Goethe
äußeres Erleben mit künstlerischem Schaffen in besonders enger Beziehung.
Darum konnte Goethe die Entstehung seiner Jugendschöpfungen aufzeigen,
indem er seine Jugend erzählte. Allein Goethe ist ein Ausnuhmefall. Das wurde
schon von Dilthey hinlänglich dargetan. Sein Leben war, mindestens in seiner
Jugend, so reich und so schön, daß es ihm zur Poesie werden konnte. Ander¬
seits ist ein Grundzug von Goethes Poesie, daß sie äußerem Leben nahe bleiben
und doch den Eindruck erwecken konnte, von künstlerisch gestaltender Phantasie
durchflutet und durchwärmt zu sein. Darum geht uns Goethes Kunst nicht
verloren, wenn wir sie mit seinem äußeren Leben in Beziehung bringen. Schon
bei Schiller trifft Gleiches nicht zu. Dichter aber und Künstler wie Heine,
Richard Wagner oder auch Hebbel werden, soweit Verständnis ihrer Kunst in
Frage ist, uns nur fremder und fremder, je emsiger wir ihren äußeren Schick¬
salen nachgehen. Die Vorsicht, die der Ergründung der Kunst eines Dichters
angesichts des äußeren Lebens dieses Dichters muß walten lassen, wurde jedoch
nicht nur da außer acht gelassen, wo zwischen Leben und Dichtung geradezu ein
starker und bewußter Gegensatz herrscht, wie bei Heine, Wagner, Hebbel, sondern
auch Goethes Biographie wurde in einem Umfang der Deutung seiner Werke
dienstbar gemacht, den er selbst nie gebilligt hätte, weil es dabei vom Versuche
künstlerischen Verständnisses zu zwecklos indiskreter Enthüllung von Lebensgeheim¬
nissen weiterging." Adolf Bartels wird diese Behauptung, daß bei vielen
Künstlern ein Gegensatz zwischen Leben und Dichtung bestehe, nie zugeben, ob¬
wohl auch er, der willigste Hebbelanbeter, noch nicht die Einheit von Hebbels
Leben und Dichtung restlos hat nachweisen können. Ebenso hat er sich —
besonders im Fall Heine — „vom Versuche künstlerischen Verständnisses", ich
möchte lieber sagen: universalen Neuerlebens ganz „zur zwecklos indiskreten
Enthüllung von Lebensgeheimnissen" abdrängen lassen. So darf das Biographische
nie verwandt werden, denn sonst wird die Literaturwissenschaft abhängig von
der Menge der biographischen Tatsachen, die von einem Dichter erhalten sind.
Wie wollte man denn Kunstwerke gerecht verwalten, deren Dichter nach ihren
Lebensumständen unbekannt sind?! Einen Gottfried von Straßburg, die Sänger
der großen Nationalepen, Dichter der früheren Jahrhunderte, und des Alter¬
tums?! Der Literaturforschung bleibt natürlich die Aufgabe, das Leben der
Dichter den Tatsachen nach zu erschließen. Die Literaturwissenschaft hat aber
diese Tatsachen ihren psychologischen Resultaten nach nur insoweit zu benutzen,
als sie für die Erlebnisfrage und für die allgemeine Erkenntnis der Dichter¬
sprache, der Schaffensbedingungen usw. Wert haben, und das in universaler
Gesinnung, nicht vom Standpunkt engherziger Bürgermoral, wie bei Bartels,
der sich nur dann ein wenig von seinem Pharisäertum befreit, wenn er es


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[0561] Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung Goethe in den Mittelpunkt, als er weitblickend und feinfühlig den Sinn des Erlebnisses für die Dichtung erwog und das innere Verhältnis von Erlebnis und Dichtung prüfte. Er vermied den Fehlgriff, künstlerisches Erlebnis aus einer möglichst großen Menge biographischer Tatsachen erschließen zu wollen. Wohl steht bei Goethe äußeres Erleben mit künstlerischem Schaffen in besonders enger Beziehung. Darum konnte Goethe die Entstehung seiner Jugendschöpfungen aufzeigen, indem er seine Jugend erzählte. Allein Goethe ist ein Ausnuhmefall. Das wurde schon von Dilthey hinlänglich dargetan. Sein Leben war, mindestens in seiner Jugend, so reich und so schön, daß es ihm zur Poesie werden konnte. Ander¬ seits ist ein Grundzug von Goethes Poesie, daß sie äußerem Leben nahe bleiben und doch den Eindruck erwecken konnte, von künstlerisch gestaltender Phantasie durchflutet und durchwärmt zu sein. Darum geht uns Goethes Kunst nicht verloren, wenn wir sie mit seinem äußeren Leben in Beziehung bringen. Schon bei Schiller trifft Gleiches nicht zu. Dichter aber und Künstler wie Heine, Richard Wagner oder auch Hebbel werden, soweit Verständnis ihrer Kunst in Frage ist, uns nur fremder und fremder, je emsiger wir ihren äußeren Schick¬ salen nachgehen. Die Vorsicht, die der Ergründung der Kunst eines Dichters angesichts des äußeren Lebens dieses Dichters muß walten lassen, wurde jedoch nicht nur da außer acht gelassen, wo zwischen Leben und Dichtung geradezu ein starker und bewußter Gegensatz herrscht, wie bei Heine, Wagner, Hebbel, sondern auch Goethes Biographie wurde in einem Umfang der Deutung seiner Werke dienstbar gemacht, den er selbst nie gebilligt hätte, weil es dabei vom Versuche künstlerischen Verständnisses zu zwecklos indiskreter Enthüllung von Lebensgeheim¬ nissen weiterging." Adolf Bartels wird diese Behauptung, daß bei vielen Künstlern ein Gegensatz zwischen Leben und Dichtung bestehe, nie zugeben, ob¬ wohl auch er, der willigste Hebbelanbeter, noch nicht die Einheit von Hebbels Leben und Dichtung restlos hat nachweisen können. Ebenso hat er sich — besonders im Fall Heine — „vom Versuche künstlerischen Verständnisses", ich möchte lieber sagen: universalen Neuerlebens ganz „zur zwecklos indiskreten Enthüllung von Lebensgeheimnissen" abdrängen lassen. So darf das Biographische nie verwandt werden, denn sonst wird die Literaturwissenschaft abhängig von der Menge der biographischen Tatsachen, die von einem Dichter erhalten sind. Wie wollte man denn Kunstwerke gerecht verwalten, deren Dichter nach ihren Lebensumständen unbekannt sind?! Einen Gottfried von Straßburg, die Sänger der großen Nationalepen, Dichter der früheren Jahrhunderte, und des Alter¬ tums?! Der Literaturforschung bleibt natürlich die Aufgabe, das Leben der Dichter den Tatsachen nach zu erschließen. Die Literaturwissenschaft hat aber diese Tatsachen ihren psychologischen Resultaten nach nur insoweit zu benutzen, als sie für die Erlebnisfrage und für die allgemeine Erkenntnis der Dichter¬ sprache, der Schaffensbedingungen usw. Wert haben, und das in universaler Gesinnung, nicht vom Standpunkt engherziger Bürgermoral, wie bei Bartels, der sich nur dann ein wenig von seinem Pharisäertum befreit, wenn er es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/561>, abgerufen am 25.07.2024.