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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundzüge einer Literatnrbeurteilnng

Namen, Zahlen, Buchtiteln usw. -- selbst in deutschen Literaturepochen, z. B.
der des Humanismus bei Bartels auftretend -- vermag ich nicht einzusehen
(I, 30, 233 ff" 244 ff.) (Humanismus I, 495, 657, II. 165, 327 usw.). Solche
Bibliographie, solche Kompilationen sind auch nichts weiter als erste.Hilfs¬
mittel, die in ein Handbuch gehören, nicht aber Teile der Darstellung bilden
dürfen.

Das Gleiche gilt für das sich nur auf äußere Angaben beschränkende
Biographische. Erst wenn die Behandlung der Lebensgeschichte eines Dichters
psychologischen Gehalt für das Verständnis des Werkes ergibt, wirkliche all¬
gemein menschliche Resultate erwirkt, wird sie ein Teil des literaturwissenschaft¬
lichen Organismus, in dem ja die ganze Frage des Verhältnisses von Dichter
und Mensch in der ganzen Erscheinung des einzelnen Schaffenden eine Haupt¬
stelle inne hat. Bartels nimmt den Grundsatz: "der große Dichter ist immer
ein großer Mensch," für absolut gültig an, von dem Gedanken ausgehend,
daß es keine menschlichen Eigenschaften gäbe, die für die Kunst indifferent seien.
(II, S. 383.) Warum dieser Gedanke zutrifft -- des Erlebens halber --
sieht er nicht, sondern er wendet ihn ins Moralische: "Unvergleichlich hohe
künstlerische Vollendung ist unmöglich, wenn nicht ein ein sich vollendeter Mensch
hinter dem Kunstwerk steht." Einmal macht er hier den großen Fehler eines großen
Teils der bisherigen Literaturwissenschaft mit, Hintsr das Kunstwerk, nicht hinein
zu weisen. Dann kehrt er aber die Richtung des Grundsatzes um, denn es ist
wohl wünschenswert, daß hinter einem vollendeten Kunstwerk auch immer ein
vollendeter Mensch stehe, nicht aber den Tatsachen entsprechend. Mancher als
Mensch unvollendete Künstler kommt zu einem vollendeten Erlebnis und ver¬
mag es vollendet zu gestalten; Beispiele dafür sind Balzac, Verlaine, Grimmels-
hausen, Bürger, Schiller und viele andere. Schließlich aber läßt Bartels, der
nun sein Urteil über das Kunstwerk von dem Grade der menschlichen Vollendung
des Künstlers abhängig macht, vollkommen jene Bescheidenheit vermissen, die ich
als eines der ersten Gebote für den Literaturwissenschaftler ansehen muß: daß
die Verwaltung des geistigen Besitzes ein Nichts ist gegenüber der
Vermehrung. Mit der Bartelsschen These gelangen wir einfach zu einem
Pharisäertum unangenehmster Art, denn nie können wir Nichtschaffenden
ganz erfassen, was für die schöpferischen Geister menschliche Vollendung
heißt und heißen muß. Aber die Bürgermoral von Bartels bedarf ja solcher
Willkür, da sie sonst im Urteil, in der Anschauung und Darstellung ver¬
sagt. Der universale Literaturwissenschaftler kann nur folgendes festhalten:
des Erlebnisses wegen, das Goethe in seiner Bedeutung für den Dichter
aufzeigte, ist für die Kunst nichts Menschliches indifferent. Dies Menschliche
setzt sich aber nicht bloß aus einer Menge biographischer Tatsachen zusammen,
sondern auch aus der Gesamtheit von Künstler und .Kunstwerk, aus der Einheit
von Persönlichkeit und Schaffen. Oskar Walze! hat vollkommen recht, zu sagen
(Berliner Tageblatt, 31. August 1913, Ur. 441): "Wilhelm Dilthey stellte


Die Grundzüge einer Literatnrbeurteilnng

Namen, Zahlen, Buchtiteln usw. — selbst in deutschen Literaturepochen, z. B.
der des Humanismus bei Bartels auftretend — vermag ich nicht einzusehen
(I, 30, 233 ff„ 244 ff.) (Humanismus I, 495, 657, II. 165, 327 usw.). Solche
Bibliographie, solche Kompilationen sind auch nichts weiter als erste.Hilfs¬
mittel, die in ein Handbuch gehören, nicht aber Teile der Darstellung bilden
dürfen.

Das Gleiche gilt für das sich nur auf äußere Angaben beschränkende
Biographische. Erst wenn die Behandlung der Lebensgeschichte eines Dichters
psychologischen Gehalt für das Verständnis des Werkes ergibt, wirkliche all¬
gemein menschliche Resultate erwirkt, wird sie ein Teil des literaturwissenschaft¬
lichen Organismus, in dem ja die ganze Frage des Verhältnisses von Dichter
und Mensch in der ganzen Erscheinung des einzelnen Schaffenden eine Haupt¬
stelle inne hat. Bartels nimmt den Grundsatz: „der große Dichter ist immer
ein großer Mensch," für absolut gültig an, von dem Gedanken ausgehend,
daß es keine menschlichen Eigenschaften gäbe, die für die Kunst indifferent seien.
(II, S. 383.) Warum dieser Gedanke zutrifft — des Erlebens halber —
sieht er nicht, sondern er wendet ihn ins Moralische: „Unvergleichlich hohe
künstlerische Vollendung ist unmöglich, wenn nicht ein ein sich vollendeter Mensch
hinter dem Kunstwerk steht." Einmal macht er hier den großen Fehler eines großen
Teils der bisherigen Literaturwissenschaft mit, Hintsr das Kunstwerk, nicht hinein
zu weisen. Dann kehrt er aber die Richtung des Grundsatzes um, denn es ist
wohl wünschenswert, daß hinter einem vollendeten Kunstwerk auch immer ein
vollendeter Mensch stehe, nicht aber den Tatsachen entsprechend. Mancher als
Mensch unvollendete Künstler kommt zu einem vollendeten Erlebnis und ver¬
mag es vollendet zu gestalten; Beispiele dafür sind Balzac, Verlaine, Grimmels-
hausen, Bürger, Schiller und viele andere. Schließlich aber läßt Bartels, der
nun sein Urteil über das Kunstwerk von dem Grade der menschlichen Vollendung
des Künstlers abhängig macht, vollkommen jene Bescheidenheit vermissen, die ich
als eines der ersten Gebote für den Literaturwissenschaftler ansehen muß: daß
die Verwaltung des geistigen Besitzes ein Nichts ist gegenüber der
Vermehrung. Mit der Bartelsschen These gelangen wir einfach zu einem
Pharisäertum unangenehmster Art, denn nie können wir Nichtschaffenden
ganz erfassen, was für die schöpferischen Geister menschliche Vollendung
heißt und heißen muß. Aber die Bürgermoral von Bartels bedarf ja solcher
Willkür, da sie sonst im Urteil, in der Anschauung und Darstellung ver¬
sagt. Der universale Literaturwissenschaftler kann nur folgendes festhalten:
des Erlebnisses wegen, das Goethe in seiner Bedeutung für den Dichter
aufzeigte, ist für die Kunst nichts Menschliches indifferent. Dies Menschliche
setzt sich aber nicht bloß aus einer Menge biographischer Tatsachen zusammen,
sondern auch aus der Gesamtheit von Künstler und .Kunstwerk, aus der Einheit
von Persönlichkeit und Schaffen. Oskar Walze! hat vollkommen recht, zu sagen
(Berliner Tageblatt, 31. August 1913, Ur. 441): „Wilhelm Dilthey stellte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/560>, abgerufen am 25.07.2024.