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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Hoetzsch: Rußland

das erste Kapitel preisgeben und seinen Materialberg von einer anderen Seite
her anbohren. Dann wäre er zweifellos bis an den Kern gekommen, der jetzt
seiner Arbeit fehlt: an die Geschichte der konstitutionellen Verfassungspartei.

Anerkannter Führer der heutigen Konstitutionalisten ist nämlich seit etwa
1876 I. I. Petrunkewitsch, ein Sjemstwomann aus Tschernigow. Hoetzsch er¬
wähnt diese Seele der konstitutionellen Sjemstwobewegung zum ersten Male 1903
und gibt, gestützt auf eine englische Quelle, an, die Vorbereitungen gingen
auf 1894 zurück. Nun wäre es ja für eine Einführung vielleicht unerheblich,
ob die Darstellung einer politischen Bewegung, hier in der Landschaft, zwanzig
Jahre früher oder später begonnen wird. Im vorliegenden Falle ist es aus
verschiedenen Gründen ein Fehler, der bloßgelegt werden muß: gerade das
Auftreten der Sjemstwo in den siebziger Jahren unter Führung von Petrunke¬
witsch ist für die Haltung der Regierung gegen die Sjemstwo maßgebend
geworden. Zweierlei hat die Regierung den Sjemstwomännern besonders
verübelt: daß sie erstens alle Parteien der Opposition, also auch die Terroristen,
zum Zusammenschluß und gemeinsamen Kampf für die Konstitution aufforderten,
und zweitens, daß sie ständig mit den Polen und Ukrainophilen in Verbindung
standen, die als Föderalisten für nationale Autonomie der im russischen Reich
vereinigten Völkerschaften eintraten. Petrunkewitsch aber war die Seele des
Kampfes. Er hatte 1878 in Kijew mit Polen, Ukrainophilen und Terroristen
jene Vorbesprechungen eingeleitet, die die Preisgabe des politischen Mordes zum
Zweck hatten. Als einige Monate später in Charkow eine Gedächtnisfeier zu
Ehren des kleinrussischen Patrioten und Schriftstellers Konto-Osnowjanenko statt¬
fand, war es Petrunkewitsch, der die etwa fünfzig anwesenden Sjemstwomänner
von Tschernigow, Twer, Charkow, Poltawa und Ssamara zur Bildung eines
Sjemstwo-Bundes veranlaßte. Petrunkewitsch wurde aus Tschernigow verbannt;
dennoch konnte er schon im April 1879 mit Goltzews, des späteren Herausgebers
der Russkaja Myssl. Hilfe, die Vertretungen von sechzehn Sjemstwo in Moskau ver¬
einigen, die die Berufung einer Volksvertretung forderten. Als im Februar 1880
Loris-Melikow die Petersburger Gesellschaft zum Kampf gegen den Terror
aufrief, entstand in Moskau die Wochenschrift Sjemstwo, an der die aus dem Jahr
1905 wohlbekannten Männer Muromtzow, Baron Korff u.a. als Konstitutionalisten
mitarbeiteten. 1881 arbeitete der Sjemstwoverband sein Programm aus, dessen
einer Punkt die Forderung enthielt: eine allgemeine Volksvertretung als voll¬
berechtigtes gesetzgebendes Organ, gewählt mittels allgemeiner Stimmabgabe.
Neben dieser Neichsduma sollte eine Bundesduma bestehen; ans dem Wortlaut
des Programms ist schwer zu ersehen, ob damit der Sjemstwo-Bund oder ein
Bund der Nationalitüten oder beides berücksichtigt war. Die Tatsache, daß das
Organ des ukrainophilen Föderalisten, Professors Dragomanows, später (1882)
zum offiziellen Organ des Sjemstwo-Bundes im Auslande gemacht wurde,
spricht jedenfalls für die Richtigkeit der amtlichen Auffassung, daß die Sjemstwo
und Petrunkewitsch Föderalisten waren. Die Feststellung aber, daß es auch unter


Hoetzsch: Rußland

das erste Kapitel preisgeben und seinen Materialberg von einer anderen Seite
her anbohren. Dann wäre er zweifellos bis an den Kern gekommen, der jetzt
seiner Arbeit fehlt: an die Geschichte der konstitutionellen Verfassungspartei.

Anerkannter Führer der heutigen Konstitutionalisten ist nämlich seit etwa
1876 I. I. Petrunkewitsch, ein Sjemstwomann aus Tschernigow. Hoetzsch er¬
wähnt diese Seele der konstitutionellen Sjemstwobewegung zum ersten Male 1903
und gibt, gestützt auf eine englische Quelle, an, die Vorbereitungen gingen
auf 1894 zurück. Nun wäre es ja für eine Einführung vielleicht unerheblich,
ob die Darstellung einer politischen Bewegung, hier in der Landschaft, zwanzig
Jahre früher oder später begonnen wird. Im vorliegenden Falle ist es aus
verschiedenen Gründen ein Fehler, der bloßgelegt werden muß: gerade das
Auftreten der Sjemstwo in den siebziger Jahren unter Führung von Petrunke¬
witsch ist für die Haltung der Regierung gegen die Sjemstwo maßgebend
geworden. Zweierlei hat die Regierung den Sjemstwomännern besonders
verübelt: daß sie erstens alle Parteien der Opposition, also auch die Terroristen,
zum Zusammenschluß und gemeinsamen Kampf für die Konstitution aufforderten,
und zweitens, daß sie ständig mit den Polen und Ukrainophilen in Verbindung
standen, die als Föderalisten für nationale Autonomie der im russischen Reich
vereinigten Völkerschaften eintraten. Petrunkewitsch aber war die Seele des
Kampfes. Er hatte 1878 in Kijew mit Polen, Ukrainophilen und Terroristen
jene Vorbesprechungen eingeleitet, die die Preisgabe des politischen Mordes zum
Zweck hatten. Als einige Monate später in Charkow eine Gedächtnisfeier zu
Ehren des kleinrussischen Patrioten und Schriftstellers Konto-Osnowjanenko statt¬
fand, war es Petrunkewitsch, der die etwa fünfzig anwesenden Sjemstwomänner
von Tschernigow, Twer, Charkow, Poltawa und Ssamara zur Bildung eines
Sjemstwo-Bundes veranlaßte. Petrunkewitsch wurde aus Tschernigow verbannt;
dennoch konnte er schon im April 1879 mit Goltzews, des späteren Herausgebers
der Russkaja Myssl. Hilfe, die Vertretungen von sechzehn Sjemstwo in Moskau ver¬
einigen, die die Berufung einer Volksvertretung forderten. Als im Februar 1880
Loris-Melikow die Petersburger Gesellschaft zum Kampf gegen den Terror
aufrief, entstand in Moskau die Wochenschrift Sjemstwo, an der die aus dem Jahr
1905 wohlbekannten Männer Muromtzow, Baron Korff u.a. als Konstitutionalisten
mitarbeiteten. 1881 arbeitete der Sjemstwoverband sein Programm aus, dessen
einer Punkt die Forderung enthielt: eine allgemeine Volksvertretung als voll¬
berechtigtes gesetzgebendes Organ, gewählt mittels allgemeiner Stimmabgabe.
Neben dieser Neichsduma sollte eine Bundesduma bestehen; ans dem Wortlaut
des Programms ist schwer zu ersehen, ob damit der Sjemstwo-Bund oder ein
Bund der Nationalitüten oder beides berücksichtigt war. Die Tatsache, daß das
Organ des ukrainophilen Föderalisten, Professors Dragomanows, später (1882)
zum offiziellen Organ des Sjemstwo-Bundes im Auslande gemacht wurde,
spricht jedenfalls für die Richtigkeit der amtlichen Auffassung, daß die Sjemstwo
und Petrunkewitsch Föderalisten waren. Die Feststellung aber, daß es auch unter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/532>, abgerufen am 25.07.2024.