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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Hoetzsch: Rußland

Entwicklung der russischen Verfassung enthält, trotz der vielen über sie vor¬
handenen Arbeiten, noch so gut wie unerschlossen ist. Besonders über die Per¬
sönlichkeiten Alexanders des Zweiten und seines Ministers, Graf Dmitri Tolstoj,
ist noch keine wissenschaftlich einwandfreie Untersuchung vorhanden, ein Um¬
stand, der mir selbst beim Studium der Polenfrage die größten Kopfzerbrechen
verursachte und mich zu Vorarbeiten zwang, die ich bei Aufnahme der Polen¬
frage nicht vorausgesehen hatte. Wieviel wichtiger muß diese Epoche für eine
Arbeit, wie Hoetzsch sie unternommen hat, sein! Das Material über beide Männer ist
in Hunderten von Zeitschriftheften verstreut. Wollte Hoetzsch wirklich von der Epoche
1904 bis 1912 aus einführen und dazu die Verfassungsgeschichte auf der
breiten von ihm gewählten Grundlage benutzen, wollte er das Wesen des jüngsten
offenen Ausbruchs der Revolution erfassen, so mußte er vor allen Dingen Rechen¬
schaft über die Epoche der russischen Geschichte von 1864 bis 1880 geben. Nun er
es nicht getan hat, erscheinen seine im übrigen einwandfreien Angaben über die
achtzehnhundertsiebziger Jahre so dürftig, daß der mit der Materie nicht vertraute
Leser leicht zu dem Eindruck kommen kann, als habe die Regierung Alexanders
des Dritten das russische Volk von vor 1881 vom Erdboden vertilgen
können. Davon kann nun natürlich nicht die Rede sein. So schwer
das System, das die Namen Alexanders des Dritten, Pobjedonostzews,
Wildes, Plehwes e tutti qu-mei trägt, auf Rußland lastete, die Gedanken der
Befreiungsära vermochte es nicht zu ersticken, und während es Hundderttausende
in Bergwerken und Gefängnissen schmachten und verkommen ließ, die Führer
der jüngsten Verfassungsbewegung waren doch Veteranen aus der Zeit Alexanders
des Zweiten. Die Programme von 1905 knüpfen direkt an die Gedanken an,
die bereits im Jahre 1880 formuliert waren. Die Regierungspolitik des Zar-
Befreiers, der bei der von Hoetzsch gewählten Aufgabestellung ein Drittel des
ganzen Werkes hätte eingeräumt werden müssen, wird auf einigen wenigen
Seiten abgetan. Und doch liegen gerade dort, besonders in den Jahren vom
polnischen Aufstande (1863/64) bis zur Ernennung des Grafen Dmitri Tolstoj,
erst zum Oberprokuror des Heiligsten Srmods (1865). dann auch zum Minister
für Volksaufklärung (1866), die "Voraussetzungen" der permanenten Revolution,
in der Rußland seit der ersten Hälfte der 1870 er Jahre bis zur Ermordung
Stolnpins im Jahre 1911 gestanden hat. Die Erscheinungen der jüngsten
Jahre sind nichts als die Fortsetzung der Kämpfe, in deren Mittelpunkt die
Seelenkämpfe Alexanders des Zweiten, des Selbstherrschers, standen. Dmitri
Tolstoj hatte die beiden Posten, die ihn zum unumschränkten Verwalter über
die Geisteswelt der Russen machten, bis 1880 ununterbrochen inne; 1882
ward er Minister des Innern. Ihm gegenüber stand der Terrorl Aber
Zwischen den beiden Extremen gab es eine konstitutionelle Verfassungspartei,
die zeitweilig den Zaren selbst auf ihrer Seite hatte.

Wollte Hoetzsch aus bestimmten Gründen den zur Durchführung seiner
Aufgabe notwendigen Vorarbeiten aus dem Wege gehen, dann mußte er auch


Hoetzsch: Rußland

Entwicklung der russischen Verfassung enthält, trotz der vielen über sie vor¬
handenen Arbeiten, noch so gut wie unerschlossen ist. Besonders über die Per¬
sönlichkeiten Alexanders des Zweiten und seines Ministers, Graf Dmitri Tolstoj,
ist noch keine wissenschaftlich einwandfreie Untersuchung vorhanden, ein Um¬
stand, der mir selbst beim Studium der Polenfrage die größten Kopfzerbrechen
verursachte und mich zu Vorarbeiten zwang, die ich bei Aufnahme der Polen¬
frage nicht vorausgesehen hatte. Wieviel wichtiger muß diese Epoche für eine
Arbeit, wie Hoetzsch sie unternommen hat, sein! Das Material über beide Männer ist
in Hunderten von Zeitschriftheften verstreut. Wollte Hoetzsch wirklich von der Epoche
1904 bis 1912 aus einführen und dazu die Verfassungsgeschichte auf der
breiten von ihm gewählten Grundlage benutzen, wollte er das Wesen des jüngsten
offenen Ausbruchs der Revolution erfassen, so mußte er vor allen Dingen Rechen¬
schaft über die Epoche der russischen Geschichte von 1864 bis 1880 geben. Nun er
es nicht getan hat, erscheinen seine im übrigen einwandfreien Angaben über die
achtzehnhundertsiebziger Jahre so dürftig, daß der mit der Materie nicht vertraute
Leser leicht zu dem Eindruck kommen kann, als habe die Regierung Alexanders
des Dritten das russische Volk von vor 1881 vom Erdboden vertilgen
können. Davon kann nun natürlich nicht die Rede sein. So schwer
das System, das die Namen Alexanders des Dritten, Pobjedonostzews,
Wildes, Plehwes e tutti qu-mei trägt, auf Rußland lastete, die Gedanken der
Befreiungsära vermochte es nicht zu ersticken, und während es Hundderttausende
in Bergwerken und Gefängnissen schmachten und verkommen ließ, die Führer
der jüngsten Verfassungsbewegung waren doch Veteranen aus der Zeit Alexanders
des Zweiten. Die Programme von 1905 knüpfen direkt an die Gedanken an,
die bereits im Jahre 1880 formuliert waren. Die Regierungspolitik des Zar-
Befreiers, der bei der von Hoetzsch gewählten Aufgabestellung ein Drittel des
ganzen Werkes hätte eingeräumt werden müssen, wird auf einigen wenigen
Seiten abgetan. Und doch liegen gerade dort, besonders in den Jahren vom
polnischen Aufstande (1863/64) bis zur Ernennung des Grafen Dmitri Tolstoj,
erst zum Oberprokuror des Heiligsten Srmods (1865). dann auch zum Minister
für Volksaufklärung (1866), die „Voraussetzungen" der permanenten Revolution,
in der Rußland seit der ersten Hälfte der 1870 er Jahre bis zur Ermordung
Stolnpins im Jahre 1911 gestanden hat. Die Erscheinungen der jüngsten
Jahre sind nichts als die Fortsetzung der Kämpfe, in deren Mittelpunkt die
Seelenkämpfe Alexanders des Zweiten, des Selbstherrschers, standen. Dmitri
Tolstoj hatte die beiden Posten, die ihn zum unumschränkten Verwalter über
die Geisteswelt der Russen machten, bis 1880 ununterbrochen inne; 1882
ward er Minister des Innern. Ihm gegenüber stand der Terrorl Aber
Zwischen den beiden Extremen gab es eine konstitutionelle Verfassungspartei,
die zeitweilig den Zaren selbst auf ihrer Seite hatte.

Wollte Hoetzsch aus bestimmten Gründen den zur Durchführung seiner
Aufgabe notwendigen Vorarbeiten aus dem Wege gehen, dann mußte er auch


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[0531] Hoetzsch: Rußland Entwicklung der russischen Verfassung enthält, trotz der vielen über sie vor¬ handenen Arbeiten, noch so gut wie unerschlossen ist. Besonders über die Per¬ sönlichkeiten Alexanders des Zweiten und seines Ministers, Graf Dmitri Tolstoj, ist noch keine wissenschaftlich einwandfreie Untersuchung vorhanden, ein Um¬ stand, der mir selbst beim Studium der Polenfrage die größten Kopfzerbrechen verursachte und mich zu Vorarbeiten zwang, die ich bei Aufnahme der Polen¬ frage nicht vorausgesehen hatte. Wieviel wichtiger muß diese Epoche für eine Arbeit, wie Hoetzsch sie unternommen hat, sein! Das Material über beide Männer ist in Hunderten von Zeitschriftheften verstreut. Wollte Hoetzsch wirklich von der Epoche 1904 bis 1912 aus einführen und dazu die Verfassungsgeschichte auf der breiten von ihm gewählten Grundlage benutzen, wollte er das Wesen des jüngsten offenen Ausbruchs der Revolution erfassen, so mußte er vor allen Dingen Rechen¬ schaft über die Epoche der russischen Geschichte von 1864 bis 1880 geben. Nun er es nicht getan hat, erscheinen seine im übrigen einwandfreien Angaben über die achtzehnhundertsiebziger Jahre so dürftig, daß der mit der Materie nicht vertraute Leser leicht zu dem Eindruck kommen kann, als habe die Regierung Alexanders des Dritten das russische Volk von vor 1881 vom Erdboden vertilgen können. Davon kann nun natürlich nicht die Rede sein. So schwer das System, das die Namen Alexanders des Dritten, Pobjedonostzews, Wildes, Plehwes e tutti qu-mei trägt, auf Rußland lastete, die Gedanken der Befreiungsära vermochte es nicht zu ersticken, und während es Hundderttausende in Bergwerken und Gefängnissen schmachten und verkommen ließ, die Führer der jüngsten Verfassungsbewegung waren doch Veteranen aus der Zeit Alexanders des Zweiten. Die Programme von 1905 knüpfen direkt an die Gedanken an, die bereits im Jahre 1880 formuliert waren. Die Regierungspolitik des Zar- Befreiers, der bei der von Hoetzsch gewählten Aufgabestellung ein Drittel des ganzen Werkes hätte eingeräumt werden müssen, wird auf einigen wenigen Seiten abgetan. Und doch liegen gerade dort, besonders in den Jahren vom polnischen Aufstande (1863/64) bis zur Ernennung des Grafen Dmitri Tolstoj, erst zum Oberprokuror des Heiligsten Srmods (1865). dann auch zum Minister für Volksaufklärung (1866), die „Voraussetzungen" der permanenten Revolution, in der Rußland seit der ersten Hälfte der 1870 er Jahre bis zur Ermordung Stolnpins im Jahre 1911 gestanden hat. Die Erscheinungen der jüngsten Jahre sind nichts als die Fortsetzung der Kämpfe, in deren Mittelpunkt die Seelenkämpfe Alexanders des Zweiten, des Selbstherrschers, standen. Dmitri Tolstoj hatte die beiden Posten, die ihn zum unumschränkten Verwalter über die Geisteswelt der Russen machten, bis 1880 ununterbrochen inne; 1882 ward er Minister des Innern. Ihm gegenüber stand der Terrorl Aber Zwischen den beiden Extremen gab es eine konstitutionelle Verfassungspartei, die zeitweilig den Zaren selbst auf ihrer Seite hatte. Wollte Hoetzsch aus bestimmten Gründen den zur Durchführung seiner Aufgabe notwendigen Vorarbeiten aus dem Wege gehen, dann mußte er auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/531>, abgerufen am 25.07.2024.