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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundzüge einer Litoraturbeurteilung

nähme der Verbrechen sprechen da ganz deutlich -- aber die gegenwärtige
literarische Dekadenz" wolle er näher charakterisieren. Sie bestehe seit dem Aus¬
gang der sechziger Jahre, sei seitdem öfter z. B. im Sturm und Drang der achtziger
Jahre bekämpft worden, halte sich "in der Regel im Vordergrunde unserer
Literatur" und beherrsche "wenigstens scheinbar das ganze literarische Leben.
Doch ist die gesunde Gegenströmung im letzten Jahrzehnt immerhin stärker
geworden, und heute scheint so etwas wie eine reinliche Scheidung zwischen
Dekadenz und gesunder, deutscher Kunst eingetreten, die der politisch sozialen
zwischen Radikalismus und Konservativismus einigermaßen entspricht". Wo
bleibt bei solcher offensichtlichen Konstruktion die Wissenschaftlichkeit, die Bartels
immer für sich in Anspruch nimmt? Auf diese Weise kann man auch das
ganze Gegenteil seiner "Geschichtsauffassung" konstruieren: "Ich nehme an, daß
wir uns auf einem Höhepunkte deutscher Entwicklung befinden. . . usw."

Jeder unbefangen die Tatsachen abwägende Kunstfreund müßte sich empört
von solcher "Literaturwissenschaft" abwenden. Innerhalb seiner Partei mag
ein solcher Kopf sein Wesen treiben, irgendwelche Geltung für das ganze
deutsche Leben, darf er nie erringen. Nicht ein "ich nehme an", sondern Vor¬
urteilslosigkeit, Unbefangenheit, die universale Gesinnung aNein vermögen die
Gesamtheit der Erscheinungen gerecht abzuwägen, aus solchem Abwägen zu
einem gültigen Werturteil über den Stand der Gegenwart zu gelangen. Und
dies Werturteil hat für jetzt und alle Zeiten seineu kritischen Maßstab darin,
wieviel Lebensenergie eine Zeit offenbart. Und gerade die Gegenwart über¬
trifft wohl an Lebensenergie alle früheren Epochen. Und Lebensenergie allein
ist die Gesundheit eines Volkes, einer Literatur! Alle anderen Behauptungen,
Maßstäbe können nur relative Geltung beanspruchen, während für den univer¬
salen Literaturwissenschaftler nur ein absoluter Maßstab in Betracht kommt.
Denn dieser absolute Maßstab allein vermag der Zersplitterung des Spezialisten¬
tums entgegenzuwirken, dessen verschiedene und vielerlei Maßstäbe relativer
Gültigkeit die Quelle des Übels bilden. Der Begriff der Lebensenergie aber
faßt alle Einzelheiten, alles Spezielle zusammen, weil er über allen Teilungen
und Formen steht, weil er allen Teilen und Formen in gleicher Weise eigen
ist. Sowohl die Gesellschaftsschichten wie die Berufsstände müssen, wenn sie
ihrem Wesen und Handeln einen allgemeinen Wert beigeben wollen, die Lebens¬
energie als das anerkennen, was sie insgesamt gemeinsam haben, was sie zu¬
sammenkittet, was sie als die große Volkseinheit hervortreten läßt. Wie die
Lebensenergie in den Parteien, in den sozialen Schichten jedesmal in Er¬
scheinung tritt, Ausdruck wird, das charakterisiert stets das Besondere, eben die
Parteien, die sozialen Schichten, den Liberalismus oder den Konservativismus,
die Landwirtschaft oder die Industrie, nicht das Allgemeine: die Lebensenergie,
die der stets sich selbst gleiche, in Ruhe stehende Pol in der Erscheinungen
Flucht ist. Diese Erscheinungen an sich lassen kein Urteil über ihren Lebens¬
wert zu, sondern erst die Erkenntnis vom Grade des Gehalts an Lebensenergie


Die Grundzüge einer Litoraturbeurteilung

nähme der Verbrechen sprechen da ganz deutlich — aber die gegenwärtige
literarische Dekadenz" wolle er näher charakterisieren. Sie bestehe seit dem Aus¬
gang der sechziger Jahre, sei seitdem öfter z. B. im Sturm und Drang der achtziger
Jahre bekämpft worden, halte sich „in der Regel im Vordergrunde unserer
Literatur" und beherrsche „wenigstens scheinbar das ganze literarische Leben.
Doch ist die gesunde Gegenströmung im letzten Jahrzehnt immerhin stärker
geworden, und heute scheint so etwas wie eine reinliche Scheidung zwischen
Dekadenz und gesunder, deutscher Kunst eingetreten, die der politisch sozialen
zwischen Radikalismus und Konservativismus einigermaßen entspricht". Wo
bleibt bei solcher offensichtlichen Konstruktion die Wissenschaftlichkeit, die Bartels
immer für sich in Anspruch nimmt? Auf diese Weise kann man auch das
ganze Gegenteil seiner „Geschichtsauffassung" konstruieren: „Ich nehme an, daß
wir uns auf einem Höhepunkte deutscher Entwicklung befinden. . . usw."

Jeder unbefangen die Tatsachen abwägende Kunstfreund müßte sich empört
von solcher „Literaturwissenschaft" abwenden. Innerhalb seiner Partei mag
ein solcher Kopf sein Wesen treiben, irgendwelche Geltung für das ganze
deutsche Leben, darf er nie erringen. Nicht ein „ich nehme an", sondern Vor¬
urteilslosigkeit, Unbefangenheit, die universale Gesinnung aNein vermögen die
Gesamtheit der Erscheinungen gerecht abzuwägen, aus solchem Abwägen zu
einem gültigen Werturteil über den Stand der Gegenwart zu gelangen. Und
dies Werturteil hat für jetzt und alle Zeiten seineu kritischen Maßstab darin,
wieviel Lebensenergie eine Zeit offenbart. Und gerade die Gegenwart über¬
trifft wohl an Lebensenergie alle früheren Epochen. Und Lebensenergie allein
ist die Gesundheit eines Volkes, einer Literatur! Alle anderen Behauptungen,
Maßstäbe können nur relative Geltung beanspruchen, während für den univer¬
salen Literaturwissenschaftler nur ein absoluter Maßstab in Betracht kommt.
Denn dieser absolute Maßstab allein vermag der Zersplitterung des Spezialisten¬
tums entgegenzuwirken, dessen verschiedene und vielerlei Maßstäbe relativer
Gültigkeit die Quelle des Übels bilden. Der Begriff der Lebensenergie aber
faßt alle Einzelheiten, alles Spezielle zusammen, weil er über allen Teilungen
und Formen steht, weil er allen Teilen und Formen in gleicher Weise eigen
ist. Sowohl die Gesellschaftsschichten wie die Berufsstände müssen, wenn sie
ihrem Wesen und Handeln einen allgemeinen Wert beigeben wollen, die Lebens¬
energie als das anerkennen, was sie insgesamt gemeinsam haben, was sie zu¬
sammenkittet, was sie als die große Volkseinheit hervortreten läßt. Wie die
Lebensenergie in den Parteien, in den sozialen Schichten jedesmal in Er¬
scheinung tritt, Ausdruck wird, das charakterisiert stets das Besondere, eben die
Parteien, die sozialen Schichten, den Liberalismus oder den Konservativismus,
die Landwirtschaft oder die Industrie, nicht das Allgemeine: die Lebensenergie,
die der stets sich selbst gleiche, in Ruhe stehende Pol in der Erscheinungen
Flucht ist. Diese Erscheinungen an sich lassen kein Urteil über ihren Lebens¬
wert zu, sondern erst die Erkenntnis vom Grade des Gehalts an Lebensenergie


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[0502] Die Grundzüge einer Litoraturbeurteilung nähme der Verbrechen sprechen da ganz deutlich — aber die gegenwärtige literarische Dekadenz" wolle er näher charakterisieren. Sie bestehe seit dem Aus¬ gang der sechziger Jahre, sei seitdem öfter z. B. im Sturm und Drang der achtziger Jahre bekämpft worden, halte sich „in der Regel im Vordergrunde unserer Literatur" und beherrsche „wenigstens scheinbar das ganze literarische Leben. Doch ist die gesunde Gegenströmung im letzten Jahrzehnt immerhin stärker geworden, und heute scheint so etwas wie eine reinliche Scheidung zwischen Dekadenz und gesunder, deutscher Kunst eingetreten, die der politisch sozialen zwischen Radikalismus und Konservativismus einigermaßen entspricht". Wo bleibt bei solcher offensichtlichen Konstruktion die Wissenschaftlichkeit, die Bartels immer für sich in Anspruch nimmt? Auf diese Weise kann man auch das ganze Gegenteil seiner „Geschichtsauffassung" konstruieren: „Ich nehme an, daß wir uns auf einem Höhepunkte deutscher Entwicklung befinden. . . usw." Jeder unbefangen die Tatsachen abwägende Kunstfreund müßte sich empört von solcher „Literaturwissenschaft" abwenden. Innerhalb seiner Partei mag ein solcher Kopf sein Wesen treiben, irgendwelche Geltung für das ganze deutsche Leben, darf er nie erringen. Nicht ein „ich nehme an", sondern Vor¬ urteilslosigkeit, Unbefangenheit, die universale Gesinnung aNein vermögen die Gesamtheit der Erscheinungen gerecht abzuwägen, aus solchem Abwägen zu einem gültigen Werturteil über den Stand der Gegenwart zu gelangen. Und dies Werturteil hat für jetzt und alle Zeiten seineu kritischen Maßstab darin, wieviel Lebensenergie eine Zeit offenbart. Und gerade die Gegenwart über¬ trifft wohl an Lebensenergie alle früheren Epochen. Und Lebensenergie allein ist die Gesundheit eines Volkes, einer Literatur! Alle anderen Behauptungen, Maßstäbe können nur relative Geltung beanspruchen, während für den univer¬ salen Literaturwissenschaftler nur ein absoluter Maßstab in Betracht kommt. Denn dieser absolute Maßstab allein vermag der Zersplitterung des Spezialisten¬ tums entgegenzuwirken, dessen verschiedene und vielerlei Maßstäbe relativer Gültigkeit die Quelle des Übels bilden. Der Begriff der Lebensenergie aber faßt alle Einzelheiten, alles Spezielle zusammen, weil er über allen Teilungen und Formen steht, weil er allen Teilen und Formen in gleicher Weise eigen ist. Sowohl die Gesellschaftsschichten wie die Berufsstände müssen, wenn sie ihrem Wesen und Handeln einen allgemeinen Wert beigeben wollen, die Lebens¬ energie als das anerkennen, was sie insgesamt gemeinsam haben, was sie zu¬ sammenkittet, was sie als die große Volkseinheit hervortreten läßt. Wie die Lebensenergie in den Parteien, in den sozialen Schichten jedesmal in Er¬ scheinung tritt, Ausdruck wird, das charakterisiert stets das Besondere, eben die Parteien, die sozialen Schichten, den Liberalismus oder den Konservativismus, die Landwirtschaft oder die Industrie, nicht das Allgemeine: die Lebensenergie, die der stets sich selbst gleiche, in Ruhe stehende Pol in der Erscheinungen Flucht ist. Diese Erscheinungen an sich lassen kein Urteil über ihren Lebens¬ wert zu, sondern erst die Erkenntnis vom Grade des Gehalts an Lebensenergie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/502>, abgerufen am 25.07.2024.