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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung

zu erleben und das Erleben allseitig mitzuteilen bestrebt sind, die weder eine
Freisinns- noch eine konservative Kultur ersehnen, sondern allein eine Universal¬
kultur des Wesens, das ihres Volkes ist, die Deutschen deutschen Wesens, die
Franzosen französischen Wesens usw.

Aus diesen Grundsätzen allem kann eine Politisierung des geistigen, des
literarischen Lebens, der Kunst vermieden werden, womit aber nicht gesagt und
dasür eingetreten werden soll, daß der Bürger nicht die so überaus notwendige
und verdienstvolle politische und staatsbürgerliche Erziehung erhalten solle. Diese
Erziehung ist eine Angelegenheit für sich, die mit der Politisierung des künst¬
lerischen Lebens und Schaffens, Urterlens und Seins nichts zu tun hat. Diese
zu verhindern ist die Pflicht aller Zuständigen, weil die Politisierung nicht
allein der geistige, sondern auch der wirtschaftliche Verderb alles reinen
Schöpfertums ist, wie wir es in der Gegenwart oft genug beobachten können,
wo es der Kunst wirtschaftlich rechts oder links am besten geht, die sich den
Forderungen dieser oder jener Parteianschauungen bedingungslos unterwirft,
und wo die ganze Literatur sich nach links hin dirigieren muß, weil man da
allein ihrem Sein und Werden die gebührende Achtung, das gebührende Ver¬
ständnis entgegenbringt, während die politische Rechte mit der Kunst unserer
Zeit -- wenige Ausnahmen bestehen natürlich zur Bestätigung der Regel, des
ganzen Verhältnisses -- so gut wie gar nichts anzufangen weiß. Dafür sucht die
Rechte sich freilich ihre besonderen Erklärungen, die jedoch nichts weiter als die
Verlängerungen ihrer politischen Tendenzen auf das künstlerische Gebiet hinüber sind.
Welche Früchte solche Behandlung der Kunst zeitigt, erleben wir in den Zensnr-
kämpfen der Gegenwart immer wieder. Während die Zensurbehörde Kunst¬
werke, die sittenlose Wildheiten unserer Zeit an den Pranger stellen, verbieten,
geschieht von den gesetzgebenden Faktoren nichts, die Ursachen und Anlässe der
bekämpften Kunstwerke zu beseitigen. Und diese Ursachen und Anlässe bedeuten
doch gerade den eigentlichen Schaden für das Volkstum, während die Kunst¬
werke ihn nur enthüllen und beseitigen wollen. Ich denke da an Dülbergs
"Korallenkettlin" u. a. in.

Barrels nun hat seine Tendenzen hin und wieder, wenn er sie auch mit
dem Nimbus geschichtlicher Notwendigkeiten zu umkleiden suchte, zugegeben,
einmal in einem Aufsatze der Baureuther Blätter (im Einzeldruck als "Deutsche
Literatur, Einsichten und Aussichten" bei Ed. Avenarius, Leipzig 1907, wonach
ich zitiere; S. 6): "Ich nehme an, daß die Gesamtheit des deutschen Volkes
erschüttert, daß eine Dekadenz, eine Zersetzung im deutschen Leben und dem¬
gemäß auch in Literatur und Kunst vorhanden ist, und daß unser Haupt-
bestreben zurzeit darauf gerichtet sein muß, diese zu überwinden und jene
wiederzugewinnen. Über die Ursachen der Zersetzung im deutschen Leben
brauche ich mich nicht des weiteren auszulassen, die Worte Industrialismus
und Judentum genügen da beinahe; ebensowenig ist es nötig, alle ihre Kenn¬
zeichen aufzuzählen, die starke Abnahme der Geburten, die (prozentuale) Zu-


Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung

zu erleben und das Erleben allseitig mitzuteilen bestrebt sind, die weder eine
Freisinns- noch eine konservative Kultur ersehnen, sondern allein eine Universal¬
kultur des Wesens, das ihres Volkes ist, die Deutschen deutschen Wesens, die
Franzosen französischen Wesens usw.

Aus diesen Grundsätzen allem kann eine Politisierung des geistigen, des
literarischen Lebens, der Kunst vermieden werden, womit aber nicht gesagt und
dasür eingetreten werden soll, daß der Bürger nicht die so überaus notwendige
und verdienstvolle politische und staatsbürgerliche Erziehung erhalten solle. Diese
Erziehung ist eine Angelegenheit für sich, die mit der Politisierung des künst¬
lerischen Lebens und Schaffens, Urterlens und Seins nichts zu tun hat. Diese
zu verhindern ist die Pflicht aller Zuständigen, weil die Politisierung nicht
allein der geistige, sondern auch der wirtschaftliche Verderb alles reinen
Schöpfertums ist, wie wir es in der Gegenwart oft genug beobachten können,
wo es der Kunst wirtschaftlich rechts oder links am besten geht, die sich den
Forderungen dieser oder jener Parteianschauungen bedingungslos unterwirft,
und wo die ganze Literatur sich nach links hin dirigieren muß, weil man da
allein ihrem Sein und Werden die gebührende Achtung, das gebührende Ver¬
ständnis entgegenbringt, während die politische Rechte mit der Kunst unserer
Zeit — wenige Ausnahmen bestehen natürlich zur Bestätigung der Regel, des
ganzen Verhältnisses — so gut wie gar nichts anzufangen weiß. Dafür sucht die
Rechte sich freilich ihre besonderen Erklärungen, die jedoch nichts weiter als die
Verlängerungen ihrer politischen Tendenzen auf das künstlerische Gebiet hinüber sind.
Welche Früchte solche Behandlung der Kunst zeitigt, erleben wir in den Zensnr-
kämpfen der Gegenwart immer wieder. Während die Zensurbehörde Kunst¬
werke, die sittenlose Wildheiten unserer Zeit an den Pranger stellen, verbieten,
geschieht von den gesetzgebenden Faktoren nichts, die Ursachen und Anlässe der
bekämpften Kunstwerke zu beseitigen. Und diese Ursachen und Anlässe bedeuten
doch gerade den eigentlichen Schaden für das Volkstum, während die Kunst¬
werke ihn nur enthüllen und beseitigen wollen. Ich denke da an Dülbergs
„Korallenkettlin" u. a. in.

Barrels nun hat seine Tendenzen hin und wieder, wenn er sie auch mit
dem Nimbus geschichtlicher Notwendigkeiten zu umkleiden suchte, zugegeben,
einmal in einem Aufsatze der Baureuther Blätter (im Einzeldruck als „Deutsche
Literatur, Einsichten und Aussichten" bei Ed. Avenarius, Leipzig 1907, wonach
ich zitiere; S. 6): „Ich nehme an, daß die Gesamtheit des deutschen Volkes
erschüttert, daß eine Dekadenz, eine Zersetzung im deutschen Leben und dem¬
gemäß auch in Literatur und Kunst vorhanden ist, und daß unser Haupt-
bestreben zurzeit darauf gerichtet sein muß, diese zu überwinden und jene
wiederzugewinnen. Über die Ursachen der Zersetzung im deutschen Leben
brauche ich mich nicht des weiteren auszulassen, die Worte Industrialismus
und Judentum genügen da beinahe; ebensowenig ist es nötig, alle ihre Kenn¬
zeichen aufzuzählen, die starke Abnahme der Geburten, die (prozentuale) Zu-


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[0501] Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung zu erleben und das Erleben allseitig mitzuteilen bestrebt sind, die weder eine Freisinns- noch eine konservative Kultur ersehnen, sondern allein eine Universal¬ kultur des Wesens, das ihres Volkes ist, die Deutschen deutschen Wesens, die Franzosen französischen Wesens usw. Aus diesen Grundsätzen allem kann eine Politisierung des geistigen, des literarischen Lebens, der Kunst vermieden werden, womit aber nicht gesagt und dasür eingetreten werden soll, daß der Bürger nicht die so überaus notwendige und verdienstvolle politische und staatsbürgerliche Erziehung erhalten solle. Diese Erziehung ist eine Angelegenheit für sich, die mit der Politisierung des künst¬ lerischen Lebens und Schaffens, Urterlens und Seins nichts zu tun hat. Diese zu verhindern ist die Pflicht aller Zuständigen, weil die Politisierung nicht allein der geistige, sondern auch der wirtschaftliche Verderb alles reinen Schöpfertums ist, wie wir es in der Gegenwart oft genug beobachten können, wo es der Kunst wirtschaftlich rechts oder links am besten geht, die sich den Forderungen dieser oder jener Parteianschauungen bedingungslos unterwirft, und wo die ganze Literatur sich nach links hin dirigieren muß, weil man da allein ihrem Sein und Werden die gebührende Achtung, das gebührende Ver¬ ständnis entgegenbringt, während die politische Rechte mit der Kunst unserer Zeit — wenige Ausnahmen bestehen natürlich zur Bestätigung der Regel, des ganzen Verhältnisses — so gut wie gar nichts anzufangen weiß. Dafür sucht die Rechte sich freilich ihre besonderen Erklärungen, die jedoch nichts weiter als die Verlängerungen ihrer politischen Tendenzen auf das künstlerische Gebiet hinüber sind. Welche Früchte solche Behandlung der Kunst zeitigt, erleben wir in den Zensnr- kämpfen der Gegenwart immer wieder. Während die Zensurbehörde Kunst¬ werke, die sittenlose Wildheiten unserer Zeit an den Pranger stellen, verbieten, geschieht von den gesetzgebenden Faktoren nichts, die Ursachen und Anlässe der bekämpften Kunstwerke zu beseitigen. Und diese Ursachen und Anlässe bedeuten doch gerade den eigentlichen Schaden für das Volkstum, während die Kunst¬ werke ihn nur enthüllen und beseitigen wollen. Ich denke da an Dülbergs „Korallenkettlin" u. a. in. Barrels nun hat seine Tendenzen hin und wieder, wenn er sie auch mit dem Nimbus geschichtlicher Notwendigkeiten zu umkleiden suchte, zugegeben, einmal in einem Aufsatze der Baureuther Blätter (im Einzeldruck als „Deutsche Literatur, Einsichten und Aussichten" bei Ed. Avenarius, Leipzig 1907, wonach ich zitiere; S. 6): „Ich nehme an, daß die Gesamtheit des deutschen Volkes erschüttert, daß eine Dekadenz, eine Zersetzung im deutschen Leben und dem¬ gemäß auch in Literatur und Kunst vorhanden ist, und daß unser Haupt- bestreben zurzeit darauf gerichtet sein muß, diese zu überwinden und jene wiederzugewinnen. Über die Ursachen der Zersetzung im deutschen Leben brauche ich mich nicht des weiteren auszulassen, die Worte Industrialismus und Judentum genügen da beinahe; ebensowenig ist es nötig, alle ihre Kenn¬ zeichen aufzuzählen, die starke Abnahme der Geburten, die (prozentuale) Zu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/501>, abgerufen am 25.07.2024.