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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundziige einer Literaturbeurteilung

Inszenierung, sich im Glauben wiegt, sich selbst zu regieren. Wer regiert in
Wahrheit? Eine Herde von Rhetoren und Geschäftsleuten. Und alle sachlich
Interessierten, von Worten nicht Geblendeten blicken mit Neid auf das glückliche
Deutschland, das den Parlamentarismus nicht kennt.

Also: für Dein parlamentarisches Regime kann ich mich nicht begeistern --
trotz der vorurteilsfreien Gründe, die Du zu seinen Gunsten in das Feld
geführt hast. Ich halte es für undurchführbar und schädlich. Wir kommen
vom Regen in die Traufe. Der Wunsch nach ihm ist aus der Stimmung
des Kranken geboren, der hofft, seine Schmerzen würden aufhören, wenn er
sich auf die andere Seite legt. So einfach liegen die Dinge nicht -- leider.
Ich habe auch einige Gedanken über die Ursache der Schmerzen, die wir alle
empfinden -- auch über die Mittel zur Abhilfe. Meine Gedanken sind nicht
ganz so einfach, übrigens auch nicht so sehr reaktionär wie die Deinen, meine
Mittel vorsichtiger, weniger einschneidend, aber vielleicht wirksamer.

Wenn ich Zeit habe, bekommst Du sie demnächst zu hören. Wie kannst
Du es nur, während draußen die Felder im sattesten Grün stehen, in diesem
schlechtgeordneten Haufen schlechtverzierter Steine, der Berlin heißt, aus-
Dein Joachim. halten? Adio.




-Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung
Aus Anlaß der "Einführung in die Weltliteratur" von Adolf Bartels
Hcinns Martin Lister vonIII.
Bartels, der Literatnrpolitiker

Nach diesen Erkenntnissen nun erledigt sich die Frage: Soll die Literatur¬
wissenschaft national oder international sein? Erich Schmidt gab einst -- in
seiner Wiener Antrittsvorlesung vom Jahre 1880: "Wege und Ziele der deutschen
Literaturgeschichte" -- bereits die richtige Antwort, leider in politischer Fassung:
"Der Begriff der Nationalliteratur duldet gleichwohl keiner? engherzigen Schutz,
zoll; im geistigen Leben sind wir freihändlerisch." Wir müssen die politische
Fassung aufgeben, die Antwort muß heute lauten: die Literaturwissenschaft soll
universal sein. Das heißt nichts anderes, als daß sie sich über die Begriffe
des Politisch-nationalen und -Internationalen zu stellen hat. Dabei wird sie
in ihrem Wesen, eben weil sie aus einer deutschen Persönlichkeit entspringt, doch


Die Grundziige einer Literaturbeurteilung

Inszenierung, sich im Glauben wiegt, sich selbst zu regieren. Wer regiert in
Wahrheit? Eine Herde von Rhetoren und Geschäftsleuten. Und alle sachlich
Interessierten, von Worten nicht Geblendeten blicken mit Neid auf das glückliche
Deutschland, das den Parlamentarismus nicht kennt.

Also: für Dein parlamentarisches Regime kann ich mich nicht begeistern —
trotz der vorurteilsfreien Gründe, die Du zu seinen Gunsten in das Feld
geführt hast. Ich halte es für undurchführbar und schädlich. Wir kommen
vom Regen in die Traufe. Der Wunsch nach ihm ist aus der Stimmung
des Kranken geboren, der hofft, seine Schmerzen würden aufhören, wenn er
sich auf die andere Seite legt. So einfach liegen die Dinge nicht — leider.
Ich habe auch einige Gedanken über die Ursache der Schmerzen, die wir alle
empfinden — auch über die Mittel zur Abhilfe. Meine Gedanken sind nicht
ganz so einfach, übrigens auch nicht so sehr reaktionär wie die Deinen, meine
Mittel vorsichtiger, weniger einschneidend, aber vielleicht wirksamer.

Wenn ich Zeit habe, bekommst Du sie demnächst zu hören. Wie kannst
Du es nur, während draußen die Felder im sattesten Grün stehen, in diesem
schlechtgeordneten Haufen schlechtverzierter Steine, der Berlin heißt, aus-
Dein Joachim. halten? Adio.




-Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung
Aus Anlaß der „Einführung in die Weltliteratur" von Adolf Bartels
Hcinns Martin Lister vonIII.
Bartels, der Literatnrpolitiker

Nach diesen Erkenntnissen nun erledigt sich die Frage: Soll die Literatur¬
wissenschaft national oder international sein? Erich Schmidt gab einst — in
seiner Wiener Antrittsvorlesung vom Jahre 1880: „Wege und Ziele der deutschen
Literaturgeschichte" — bereits die richtige Antwort, leider in politischer Fassung:
„Der Begriff der Nationalliteratur duldet gleichwohl keiner? engherzigen Schutz,
zoll; im geistigen Leben sind wir freihändlerisch." Wir müssen die politische
Fassung aufgeben, die Antwort muß heute lauten: die Literaturwissenschaft soll
universal sein. Das heißt nichts anderes, als daß sie sich über die Begriffe
des Politisch-nationalen und -Internationalen zu stellen hat. Dabei wird sie
in ihrem Wesen, eben weil sie aus einer deutschen Persönlichkeit entspringt, doch


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[0497] Die Grundziige einer Literaturbeurteilung Inszenierung, sich im Glauben wiegt, sich selbst zu regieren. Wer regiert in Wahrheit? Eine Herde von Rhetoren und Geschäftsleuten. Und alle sachlich Interessierten, von Worten nicht Geblendeten blicken mit Neid auf das glückliche Deutschland, das den Parlamentarismus nicht kennt. Also: für Dein parlamentarisches Regime kann ich mich nicht begeistern — trotz der vorurteilsfreien Gründe, die Du zu seinen Gunsten in das Feld geführt hast. Ich halte es für undurchführbar und schädlich. Wir kommen vom Regen in die Traufe. Der Wunsch nach ihm ist aus der Stimmung des Kranken geboren, der hofft, seine Schmerzen würden aufhören, wenn er sich auf die andere Seite legt. So einfach liegen die Dinge nicht — leider. Ich habe auch einige Gedanken über die Ursache der Schmerzen, die wir alle empfinden — auch über die Mittel zur Abhilfe. Meine Gedanken sind nicht ganz so einfach, übrigens auch nicht so sehr reaktionär wie die Deinen, meine Mittel vorsichtiger, weniger einschneidend, aber vielleicht wirksamer. Wenn ich Zeit habe, bekommst Du sie demnächst zu hören. Wie kannst Du es nur, während draußen die Felder im sattesten Grün stehen, in diesem schlechtgeordneten Haufen schlechtverzierter Steine, der Berlin heißt, aus- Dein Joachim. halten? Adio. -Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung Aus Anlaß der „Einführung in die Weltliteratur" von Adolf Bartels Hcinns Martin Lister vonIII. Bartels, der Literatnrpolitiker Nach diesen Erkenntnissen nun erledigt sich die Frage: Soll die Literatur¬ wissenschaft national oder international sein? Erich Schmidt gab einst — in seiner Wiener Antrittsvorlesung vom Jahre 1880: „Wege und Ziele der deutschen Literaturgeschichte" — bereits die richtige Antwort, leider in politischer Fassung: „Der Begriff der Nationalliteratur duldet gleichwohl keiner? engherzigen Schutz, zoll; im geistigen Leben sind wir freihändlerisch." Wir müssen die politische Fassung aufgeben, die Antwort muß heute lauten: die Literaturwissenschaft soll universal sein. Das heißt nichts anderes, als daß sie sich über die Begriffe des Politisch-nationalen und -Internationalen zu stellen hat. Dabei wird sie in ihrem Wesen, eben weil sie aus einer deutschen Persönlichkeit entspringt, doch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/497>, abgerufen am 13.11.2024.