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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

daß von den sieben Philisterfürsten sechs mit
ihrem Begehren sie umschleichen wie in einer
deutschen Kleinstadt ältere, skatspielende Herren
eine neue Venus -- mit allem dem nicht. Hier
müßte vielmehr die Bildnerkraft lebendig
werden, mit der etwa da Ponte das Ewige
der Sexualität zeichnet, die des älteren
Breughel, oder Goyas in seinen Kriegs¬
bildern, oder -- wollte der Dichter nur an
sich denken -- die seines "Frühlingserwachen".
Da ist echte -- hier nur erwünschte, am Ende
geheuchelte Erotik. Alles konnte der Dichter
wie "Simson" wagen und doch keusch bleiben,
wie Salomos "Hohes Lied" keusch ist: aber
mittels kleiner und großer Pikanterien ledig¬
lich sexuelle Urkraft vorzutäuschen, das durfte
er nicht. Denn damit verließ er das Gebiet
des Künstlerischen.

Wehmütig liest man die Verse, die von
dem Vermögen vergangener Jahre Wede¬
kinds zeugen. In ihnen tobt wieder, wie
einst ein wildes Leid, sprüht wieder ein Dä-
monentum, geht es wieder in wilden Sätzen
über Abgründe:

Am Webstuhl wird buntes Gespinst gewebt I
Hopsa!

Das Kind kommt im purpurnen Kleid zur Welt I
Hopsa!

Der Mann sieht im Weib einen Freudenkelch!
Hopsa!

Das Weib hat mit Küssen sein Kleid erkauft!
Hopsa!

Der Mann hat fürs Alter ein Ruhebett!
Hopsa!

Den Zuchtmeister hat sich das Weib erwählt!
Hopsa!

Dem Mann scheint verflogen die Lebenslust!
Hopsa!

Zeitlebens bezahlt den Gewinn das Weib!
Hopsa!

Sehe ich ab von der Tatsache, die dem
Theatraliker von Wert sein wird, daß der
blinde Simson zu diesen Versen um sein
Leben zu tanzen glaubt, nicht ahnend, daß
der, der Richter über dieses Lied und über
sein Leben ist, inzwischen sich mit Delila, die
einst ihm gehörie, davonschlich: so scheinen
mir doch die Kinematographenschnelle, mit
der diese grellen Einzelbilder aus dem Schicksal
des Mannes und des Weibes aufblitzen und

[Spaltenumbruch]

verschwinden, und die Eindrücke, die sie wie
feine, tiefe Schnittwunden hinterlassen, be¬
wunderungswürdig . . . Wedekind, der einst
war und der leider, augenblicklich wenigstens,
nicht ist.

Von einem anderen noch ist unerfreuliches
zu berichten. In den ersten Kritiken hieß es,
Hauptmanns "Bogen des Odysseus" ließe
wieder die alte Kraft seines Autors spüren.
Merkwürdig: das heißt es nun von jedem
Drama, das er schreibt. Und nach jedem
Werk seit nun fast einem Jahrzehnt kam die
Enttäuschung. Und mit der Enttäuschung
die Vergessenheit und mit der Vergessenheit
bei seinen Freunden die Trauer um einen,
der einmal so viel war, so viel geben konnte
und so schnell müde geworden ist. Müde,
das ist das einzige Wort, das ich für dieses
Werk finde. Hauptmann kennen wir alle
heute gut genug, um zu wissen, daß er ein
Werk nicht ohne Bruch und Sprung im
Innern hinaussenden konnte, das in seiner
formalen Glätte weder Widerspruch noch Zu¬
stimmung erwecken kann. War es überhaupt
nötig, einen Stoff zu ergreifen, der vor Jahr¬
tausenden in seine Formen gefügt ist? In
Formen, deren Riesenabmessungen gegenüber
Hauptmann immer, auch vor zwanzig Jahren,
ein mittelmäßiger hätte bleiben müssen? Die
Gewöhnung, aus dem Epos ganz großen
Stiles sich die Kleinodien zu rauben, wird
nachgerade zum groben Unfug; mit den ge¬
ringen Ausnahmen der Hebbelschen "Nibe¬
lungen" und des "Tristan" hat sie uns Gren-
säligkeiten genug beschert: weil sie fast immer
eine Verzerrung liebgewonnener Züge, im
besten Falle, wie hier, ein lächerliches Mi߬
verhältnis zwischen dem Riesenhaften dort
und dem bürgerlichen Mittelwuchs hier er¬
geben muß.

Daß Hauptmann auch hier technische --
der epischen Vorlage fremde -- Fehler be¬
gangen hat, daß die Erkennungsszene bis
zum letzten Akt hincmsgezerrt wird und dort
ihren dramatischen Zündstoff ^wirkungslos ver¬
pufft, daß dieser berühmte Bogen am Ende
seine Pfeile in das Leere, in die Nacht hinaus¬
schießt, nicht auf ein Ziel, das nichr ist als
ein Phantom, das alles soll hingehen. Haupt¬
mann hat Werke geschrieben, die an allen
dramatischen Möglichkeiten Vorbeigehen und

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

daß von den sieben Philisterfürsten sechs mit
ihrem Begehren sie umschleichen wie in einer
deutschen Kleinstadt ältere, skatspielende Herren
eine neue Venus — mit allem dem nicht. Hier
müßte vielmehr die Bildnerkraft lebendig
werden, mit der etwa da Ponte das Ewige
der Sexualität zeichnet, die des älteren
Breughel, oder Goyas in seinen Kriegs¬
bildern, oder — wollte der Dichter nur an
sich denken — die seines „Frühlingserwachen".
Da ist echte — hier nur erwünschte, am Ende
geheuchelte Erotik. Alles konnte der Dichter
wie „Simson" wagen und doch keusch bleiben,
wie Salomos „Hohes Lied" keusch ist: aber
mittels kleiner und großer Pikanterien ledig¬
lich sexuelle Urkraft vorzutäuschen, das durfte
er nicht. Denn damit verließ er das Gebiet
des Künstlerischen.

Wehmütig liest man die Verse, die von
dem Vermögen vergangener Jahre Wede¬
kinds zeugen. In ihnen tobt wieder, wie
einst ein wildes Leid, sprüht wieder ein Dä-
monentum, geht es wieder in wilden Sätzen
über Abgründe:

Am Webstuhl wird buntes Gespinst gewebt I
Hopsa!

Das Kind kommt im purpurnen Kleid zur Welt I
Hopsa!

Der Mann sieht im Weib einen Freudenkelch!
Hopsa!

Das Weib hat mit Küssen sein Kleid erkauft!
Hopsa!

Der Mann hat fürs Alter ein Ruhebett!
Hopsa!

Den Zuchtmeister hat sich das Weib erwählt!
Hopsa!

Dem Mann scheint verflogen die Lebenslust!
Hopsa!

Zeitlebens bezahlt den Gewinn das Weib!
Hopsa!

Sehe ich ab von der Tatsache, die dem
Theatraliker von Wert sein wird, daß der
blinde Simson zu diesen Versen um sein
Leben zu tanzen glaubt, nicht ahnend, daß
der, der Richter über dieses Lied und über
sein Leben ist, inzwischen sich mit Delila, die
einst ihm gehörie, davonschlich: so scheinen
mir doch die Kinematographenschnelle, mit
der diese grellen Einzelbilder aus dem Schicksal
des Mannes und des Weibes aufblitzen und

[Spaltenumbruch]

verschwinden, und die Eindrücke, die sie wie
feine, tiefe Schnittwunden hinterlassen, be¬
wunderungswürdig . . . Wedekind, der einst
war und der leider, augenblicklich wenigstens,
nicht ist.

Von einem anderen noch ist unerfreuliches
zu berichten. In den ersten Kritiken hieß es,
Hauptmanns „Bogen des Odysseus" ließe
wieder die alte Kraft seines Autors spüren.
Merkwürdig: das heißt es nun von jedem
Drama, das er schreibt. Und nach jedem
Werk seit nun fast einem Jahrzehnt kam die
Enttäuschung. Und mit der Enttäuschung
die Vergessenheit und mit der Vergessenheit
bei seinen Freunden die Trauer um einen,
der einmal so viel war, so viel geben konnte
und so schnell müde geworden ist. Müde,
das ist das einzige Wort, das ich für dieses
Werk finde. Hauptmann kennen wir alle
heute gut genug, um zu wissen, daß er ein
Werk nicht ohne Bruch und Sprung im
Innern hinaussenden konnte, das in seiner
formalen Glätte weder Widerspruch noch Zu¬
stimmung erwecken kann. War es überhaupt
nötig, einen Stoff zu ergreifen, der vor Jahr¬
tausenden in seine Formen gefügt ist? In
Formen, deren Riesenabmessungen gegenüber
Hauptmann immer, auch vor zwanzig Jahren,
ein mittelmäßiger hätte bleiben müssen? Die
Gewöhnung, aus dem Epos ganz großen
Stiles sich die Kleinodien zu rauben, wird
nachgerade zum groben Unfug; mit den ge¬
ringen Ausnahmen der Hebbelschen „Nibe¬
lungen" und des „Tristan" hat sie uns Gren-
säligkeiten genug beschert: weil sie fast immer
eine Verzerrung liebgewonnener Züge, im
besten Falle, wie hier, ein lächerliches Mi߬
verhältnis zwischen dem Riesenhaften dort
und dem bürgerlichen Mittelwuchs hier er¬
geben muß.

Daß Hauptmann auch hier technische —
der epischen Vorlage fremde — Fehler be¬
gangen hat, daß die Erkennungsszene bis
zum letzten Akt hincmsgezerrt wird und dort
ihren dramatischen Zündstoff ^wirkungslos ver¬
pufft, daß dieser berühmte Bogen am Ende
seine Pfeile in das Leere, in die Nacht hinaus¬
schießt, nicht auf ein Ziel, das nichr ist als
ein Phantom, das alles soll hingehen. Haupt¬
mann hat Werke geschrieben, die an allen
dramatischen Möglichkeiten Vorbeigehen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/490>, abgerufen am 04.07.2024.