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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung

den Kultur. Durch sie entsteht eben das, was wir Persönlichkeit nennen,
welcher Begriff wieder den der Individualität voraussetzt, aber sich nicht mit
ihm deckt. Persönlichkeit, d. i. gebildete Individualität, aber hat
Goethe als das höchste Glück der Erdenkinder erklärt," woraus folge: "Sage
mir, wie du zu der Persönlichkeit Goethes stehst und ich will dir
sagen, ob du und was für eine Persönlichkeit du bist." Diese An¬
schauung gilt nicht bloß im allgemeinen, sondern vor allem für den, der Literatur¬
wissenschaft treibt oder zu treiben gedenkt. Er soll sich nicht etwa -- das wäre
absurd -- bemühen, ein anderer Goethe zu werden, sondern den Dichter nur
zum Maßstab und Gipfelpunkt der bestimmten, für alle und für ihn insbesondere
vorbildlichen Gattung: "deutsche Persönlichkeit" nehmen. Diese Gattung
charakterisiert sich -- und hier trete ich weit von Bartels fort -- durch das
Bestreben nach -- ich übernehme den Begriff und Ausdruck gerne von Bartels
(I, S. 8. S. 13 usw.): Universalität und innerer Freiheit. Stimmt der
Literaturwissenschaftler in dieses Bemühen nicht ein. so vermag er nicht
jener allseitig gerechte und anzuerkennende Verwalter des geistigen Volks- und
Weltbesitzes zu sein, sondern nur ein einseitiger, den einzelne Parteien anerkennen
mögen. Denn Universalität allein verleiht die Befähigung, Natur und
Kultur in ihrer Gegensätzlichkeit und Verbundenheit voll zu be- und ergreifen,
innere Freiheit allein läßt ein gerechtes Urteil und sicheres Verhältnis zu
allen Richtungen und Arten des schöpferischen Ausdrucks zu; beide Eigenschaften
zusammen, die wir mit einem Bartelsschen Wort, (I, 1) "normativ" nennen
können, strömen jene Allseitigkeit aus, durch die Goethe gerade über Raum
und Zeit hinauswächst.

Bartels hat nun einst in seiner "Geschichte der deutschen Literatur" (I, 460f.)
gezeigt, wie er Goethe in dieser Allseitigkeit erfaßt hat: "Das ist kein Deutscher, der
für Goethe etwas anderes als Liebe hat; wenn bei irgendeinem Dichter, so genügt
auch die höchste Bewunderung nicht bei ihm, der mehr als jeder andere sich und
sein Leben an sein Volk hingegeben hat, als der größte auch der wahrste, offenste
und ehrlichste, ein Dichter, aber weder Rhetoriker noch Phantast, ein Kämpfer, aber
kein Hasser, alles in allem nur ein Mensch, Gott sei Dank, ein Mensch gewesen ist.
Ja. bei Goethe fühlt man sich zu Hause als Deutscher, ihn umgibt die Atmosphäre
der absoluten Wahrheit und zugleich der göttlichen Milde, in der uns im Grunde
allein wohl wird; da ist man nicht versucht, eine Maske vorzubinden oder den
Kothurn unterzuschnallen, vor ihm sind wir so groß oder so klein, so schön oder
so häßlich, so gut oder so schlecht, wie uns die Natur geschaffen hat -- was
des Lebenden Auge, das vollbringt noch immer des Toten Geist: er zwingt zur
Lauterkeit. Und weder stürmisch und hitzig, noch leidend und ängstlich,
ruhig und vertrauensvoll gibt man sich an Goethe hin: er ist Freund,
Bruder, Vater, in allen Stunden, guten wie bösen, hat er für uns das Wort,
das Wahrheit und Leben ist, kein Heiland, Retter. Erlöser, wie es Künstler
und Philosophen nach ihm haben sein wollen, aber ein Mensch, Gott sei Dank,


Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung

den Kultur. Durch sie entsteht eben das, was wir Persönlichkeit nennen,
welcher Begriff wieder den der Individualität voraussetzt, aber sich nicht mit
ihm deckt. Persönlichkeit, d. i. gebildete Individualität, aber hat
Goethe als das höchste Glück der Erdenkinder erklärt," woraus folge: „Sage
mir, wie du zu der Persönlichkeit Goethes stehst und ich will dir
sagen, ob du und was für eine Persönlichkeit du bist." Diese An¬
schauung gilt nicht bloß im allgemeinen, sondern vor allem für den, der Literatur¬
wissenschaft treibt oder zu treiben gedenkt. Er soll sich nicht etwa — das wäre
absurd — bemühen, ein anderer Goethe zu werden, sondern den Dichter nur
zum Maßstab und Gipfelpunkt der bestimmten, für alle und für ihn insbesondere
vorbildlichen Gattung: „deutsche Persönlichkeit" nehmen. Diese Gattung
charakterisiert sich — und hier trete ich weit von Bartels fort — durch das
Bestreben nach — ich übernehme den Begriff und Ausdruck gerne von Bartels
(I, S. 8. S. 13 usw.): Universalität und innerer Freiheit. Stimmt der
Literaturwissenschaftler in dieses Bemühen nicht ein. so vermag er nicht
jener allseitig gerechte und anzuerkennende Verwalter des geistigen Volks- und
Weltbesitzes zu sein, sondern nur ein einseitiger, den einzelne Parteien anerkennen
mögen. Denn Universalität allein verleiht die Befähigung, Natur und
Kultur in ihrer Gegensätzlichkeit und Verbundenheit voll zu be- und ergreifen,
innere Freiheit allein läßt ein gerechtes Urteil und sicheres Verhältnis zu
allen Richtungen und Arten des schöpferischen Ausdrucks zu; beide Eigenschaften
zusammen, die wir mit einem Bartelsschen Wort, (I, 1) „normativ" nennen
können, strömen jene Allseitigkeit aus, durch die Goethe gerade über Raum
und Zeit hinauswächst.

Bartels hat nun einst in seiner „Geschichte der deutschen Literatur" (I, 460f.)
gezeigt, wie er Goethe in dieser Allseitigkeit erfaßt hat: „Das ist kein Deutscher, der
für Goethe etwas anderes als Liebe hat; wenn bei irgendeinem Dichter, so genügt
auch die höchste Bewunderung nicht bei ihm, der mehr als jeder andere sich und
sein Leben an sein Volk hingegeben hat, als der größte auch der wahrste, offenste
und ehrlichste, ein Dichter, aber weder Rhetoriker noch Phantast, ein Kämpfer, aber
kein Hasser, alles in allem nur ein Mensch, Gott sei Dank, ein Mensch gewesen ist.
Ja. bei Goethe fühlt man sich zu Hause als Deutscher, ihn umgibt die Atmosphäre
der absoluten Wahrheit und zugleich der göttlichen Milde, in der uns im Grunde
allein wohl wird; da ist man nicht versucht, eine Maske vorzubinden oder den
Kothurn unterzuschnallen, vor ihm sind wir so groß oder so klein, so schön oder
so häßlich, so gut oder so schlecht, wie uns die Natur geschaffen hat — was
des Lebenden Auge, das vollbringt noch immer des Toten Geist: er zwingt zur
Lauterkeit. Und weder stürmisch und hitzig, noch leidend und ängstlich,
ruhig und vertrauensvoll gibt man sich an Goethe hin: er ist Freund,
Bruder, Vater, in allen Stunden, guten wie bösen, hat er für uns das Wort,
das Wahrheit und Leben ist, kein Heiland, Retter. Erlöser, wie es Künstler
und Philosophen nach ihm haben sein wollen, aber ein Mensch, Gott sei Dank,


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[0458] Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung den Kultur. Durch sie entsteht eben das, was wir Persönlichkeit nennen, welcher Begriff wieder den der Individualität voraussetzt, aber sich nicht mit ihm deckt. Persönlichkeit, d. i. gebildete Individualität, aber hat Goethe als das höchste Glück der Erdenkinder erklärt," woraus folge: „Sage mir, wie du zu der Persönlichkeit Goethes stehst und ich will dir sagen, ob du und was für eine Persönlichkeit du bist." Diese An¬ schauung gilt nicht bloß im allgemeinen, sondern vor allem für den, der Literatur¬ wissenschaft treibt oder zu treiben gedenkt. Er soll sich nicht etwa — das wäre absurd — bemühen, ein anderer Goethe zu werden, sondern den Dichter nur zum Maßstab und Gipfelpunkt der bestimmten, für alle und für ihn insbesondere vorbildlichen Gattung: „deutsche Persönlichkeit" nehmen. Diese Gattung charakterisiert sich — und hier trete ich weit von Bartels fort — durch das Bestreben nach — ich übernehme den Begriff und Ausdruck gerne von Bartels (I, S. 8. S. 13 usw.): Universalität und innerer Freiheit. Stimmt der Literaturwissenschaftler in dieses Bemühen nicht ein. so vermag er nicht jener allseitig gerechte und anzuerkennende Verwalter des geistigen Volks- und Weltbesitzes zu sein, sondern nur ein einseitiger, den einzelne Parteien anerkennen mögen. Denn Universalität allein verleiht die Befähigung, Natur und Kultur in ihrer Gegensätzlichkeit und Verbundenheit voll zu be- und ergreifen, innere Freiheit allein läßt ein gerechtes Urteil und sicheres Verhältnis zu allen Richtungen und Arten des schöpferischen Ausdrucks zu; beide Eigenschaften zusammen, die wir mit einem Bartelsschen Wort, (I, 1) „normativ" nennen können, strömen jene Allseitigkeit aus, durch die Goethe gerade über Raum und Zeit hinauswächst. Bartels hat nun einst in seiner „Geschichte der deutschen Literatur" (I, 460f.) gezeigt, wie er Goethe in dieser Allseitigkeit erfaßt hat: „Das ist kein Deutscher, der für Goethe etwas anderes als Liebe hat; wenn bei irgendeinem Dichter, so genügt auch die höchste Bewunderung nicht bei ihm, der mehr als jeder andere sich und sein Leben an sein Volk hingegeben hat, als der größte auch der wahrste, offenste und ehrlichste, ein Dichter, aber weder Rhetoriker noch Phantast, ein Kämpfer, aber kein Hasser, alles in allem nur ein Mensch, Gott sei Dank, ein Mensch gewesen ist. Ja. bei Goethe fühlt man sich zu Hause als Deutscher, ihn umgibt die Atmosphäre der absoluten Wahrheit und zugleich der göttlichen Milde, in der uns im Grunde allein wohl wird; da ist man nicht versucht, eine Maske vorzubinden oder den Kothurn unterzuschnallen, vor ihm sind wir so groß oder so klein, so schön oder so häßlich, so gut oder so schlecht, wie uns die Natur geschaffen hat — was des Lebenden Auge, das vollbringt noch immer des Toten Geist: er zwingt zur Lauterkeit. Und weder stürmisch und hitzig, noch leidend und ängstlich, ruhig und vertrauensvoll gibt man sich an Goethe hin: er ist Freund, Bruder, Vater, in allen Stunden, guten wie bösen, hat er für uns das Wort, das Wahrheit und Leben ist, kein Heiland, Retter. Erlöser, wie es Künstler und Philosophen nach ihm haben sein wollen, aber ein Mensch, Gott sei Dank,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/458>, abgerufen am 25.07.2024.