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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Das Aaiscrhoch und die Sozialdemokratie

Wenn ein Mitglied die Ordnung verletzt, so wird es vom Präsidenten
mit Nennung des Namens darauf zurückgewiesen.

Im Falle gröblicher Verletzung der Ordnung kann das Mitglied durch
den Präsidenten von der Sitzung ausgeschlossen werden. Leistet dasselbe
der Aufforderung des Präsidenten zum Verlassen des Saales keine Folge,
o hat der Präsident in Gemäßheit des Z 61 dieser Geschäftsordnung zu
verfahren .... § 61: Wenn in der Versammlung störende Unruhe entsteht,
o kann der Präsident die Sitzung auf bestimmte Zeit aussetzen oder ganz
aufheben . . .

Die höchste Disziplinarstrafe für einen Reichstagsabgeordneten ist also
Ausschluß aus einer Sitzung. Dieser Strafe vermag er aber zunächst durch
passiven Widerstand zu begegnen. Tatsächlich enthält nämlich § 61 eine Ab-
chwächung der Polizeigewalt des Präsidenten, indem dieser in der gewaltsamen
Ausübung des ihm zustehenden Hausrechts beschränkt wird. Der Widerstand
leistende Abgeordnete kann im Schutze dieses Paragraphen den Präsidenten bis
zur Aufhebung der Sitzung treiben, weiter geht es nicht. Immerhin setzt sich
ein Abgeordneter, der dem Befehl des Präsidenten zum Verlassen des Saales
zuwiderhandelt, unabhängig von den Bestimmungen der Geschäftsordnung der
Gefahr aus, wegen Hausfriedensbruchs verfolgt zu werden. (S. Hubrich, parla¬
mentarische Redefreiheit und Disziplin, S. 437.)

Wie haben diese Bestimmungen in der Praxis gewirkt? Sie sind unseres
Wissens nur einmal angewandt worden, und zwar gegen den verstorbenen
Abgeordneten Singer, der übrigens bis dahin jahrelang Vorsitzender der Ge¬
schäftsordnungskommission gewesen war. Der Vorgang spielte sich während
der stürmischen Debatten bei der zweiten Beratung des Zolltarifes am 4. De¬
zember 1902 ab. (Stenographischer Bericht 1900--1903, B. 8, S. 6893.)
In einer der unzähligen Geschäftsordnungsdebatten hatte der Vizepräsident.
Graf von Stolberg-Wernigerode, unter stürmischen Zurufen der Sozialdemo¬
kraten dem Abgeordneten Spahn das Wort gegeben. Die Abgeordneten der
Linken drängten sich auf und vor der Treppe zur Rednertribüne zusammen,
unter ihnen führend der Abgeordnete Singer. Der Vizepräsident forderte den
Abgeordneten Singer auf, die Treppe zu verlassen, und rief ihn unter stür¬
mischen Kundgebungen von beiden Seiten des Hauses zur Ordnung. Der
Abgeordnete Singer verblieb auf der Treppe und wurde zum zweiten Male
zur Ordnung gerufen. Während Spahn zu sprechen begann, rief Singer mehr¬
mals dazwischen: Zur Geschäftsordnung! Darauf erfolgte der dritte Ordnungs¬
ruf. Während der Ausführungen Spahns lärmten die Sozialdemokraten unter
Führung singers weiter. Als Spahn geendigt hatte, nahm Graf Stolberg
das Wort: "Meine Herren, auf Grundlage des § 60 der Geschäftsordnung,
Absatz 3, schließe ich den Herrn Abgordneten Singer von der Sitzung aus.
(Stürmischer Beifall rechts und in der Mitte. Andauernder Lärm links.)
Meine Herren, da die Mittel, welche mir die Geschäftsordnung an die Hand


Das Aaiscrhoch und die Sozialdemokratie

Wenn ein Mitglied die Ordnung verletzt, so wird es vom Präsidenten
mit Nennung des Namens darauf zurückgewiesen.

Im Falle gröblicher Verletzung der Ordnung kann das Mitglied durch
den Präsidenten von der Sitzung ausgeschlossen werden. Leistet dasselbe
der Aufforderung des Präsidenten zum Verlassen des Saales keine Folge,
o hat der Präsident in Gemäßheit des Z 61 dieser Geschäftsordnung zu
verfahren .... § 61: Wenn in der Versammlung störende Unruhe entsteht,
o kann der Präsident die Sitzung auf bestimmte Zeit aussetzen oder ganz
aufheben . . .

Die höchste Disziplinarstrafe für einen Reichstagsabgeordneten ist also
Ausschluß aus einer Sitzung. Dieser Strafe vermag er aber zunächst durch
passiven Widerstand zu begegnen. Tatsächlich enthält nämlich § 61 eine Ab-
chwächung der Polizeigewalt des Präsidenten, indem dieser in der gewaltsamen
Ausübung des ihm zustehenden Hausrechts beschränkt wird. Der Widerstand
leistende Abgeordnete kann im Schutze dieses Paragraphen den Präsidenten bis
zur Aufhebung der Sitzung treiben, weiter geht es nicht. Immerhin setzt sich
ein Abgeordneter, der dem Befehl des Präsidenten zum Verlassen des Saales
zuwiderhandelt, unabhängig von den Bestimmungen der Geschäftsordnung der
Gefahr aus, wegen Hausfriedensbruchs verfolgt zu werden. (S. Hubrich, parla¬
mentarische Redefreiheit und Disziplin, S. 437.)

Wie haben diese Bestimmungen in der Praxis gewirkt? Sie sind unseres
Wissens nur einmal angewandt worden, und zwar gegen den verstorbenen
Abgeordneten Singer, der übrigens bis dahin jahrelang Vorsitzender der Ge¬
schäftsordnungskommission gewesen war. Der Vorgang spielte sich während
der stürmischen Debatten bei der zweiten Beratung des Zolltarifes am 4. De¬
zember 1902 ab. (Stenographischer Bericht 1900—1903, B. 8, S. 6893.)
In einer der unzähligen Geschäftsordnungsdebatten hatte der Vizepräsident.
Graf von Stolberg-Wernigerode, unter stürmischen Zurufen der Sozialdemo¬
kraten dem Abgeordneten Spahn das Wort gegeben. Die Abgeordneten der
Linken drängten sich auf und vor der Treppe zur Rednertribüne zusammen,
unter ihnen führend der Abgeordnete Singer. Der Vizepräsident forderte den
Abgeordneten Singer auf, die Treppe zu verlassen, und rief ihn unter stür¬
mischen Kundgebungen von beiden Seiten des Hauses zur Ordnung. Der
Abgeordnete Singer verblieb auf der Treppe und wurde zum zweiten Male
zur Ordnung gerufen. Während Spahn zu sprechen begann, rief Singer mehr¬
mals dazwischen: Zur Geschäftsordnung! Darauf erfolgte der dritte Ordnungs¬
ruf. Während der Ausführungen Spahns lärmten die Sozialdemokraten unter
Führung singers weiter. Als Spahn geendigt hatte, nahm Graf Stolberg
das Wort: „Meine Herren, auf Grundlage des § 60 der Geschäftsordnung,
Absatz 3, schließe ich den Herrn Abgordneten Singer von der Sitzung aus.
(Stürmischer Beifall rechts und in der Mitte. Andauernder Lärm links.)
Meine Herren, da die Mittel, welche mir die Geschäftsordnung an die Hand


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[0454] Das Aaiscrhoch und die Sozialdemokratie Wenn ein Mitglied die Ordnung verletzt, so wird es vom Präsidenten mit Nennung des Namens darauf zurückgewiesen. Im Falle gröblicher Verletzung der Ordnung kann das Mitglied durch den Präsidenten von der Sitzung ausgeschlossen werden. Leistet dasselbe der Aufforderung des Präsidenten zum Verlassen des Saales keine Folge, o hat der Präsident in Gemäßheit des Z 61 dieser Geschäftsordnung zu verfahren .... § 61: Wenn in der Versammlung störende Unruhe entsteht, o kann der Präsident die Sitzung auf bestimmte Zeit aussetzen oder ganz aufheben . . . Die höchste Disziplinarstrafe für einen Reichstagsabgeordneten ist also Ausschluß aus einer Sitzung. Dieser Strafe vermag er aber zunächst durch passiven Widerstand zu begegnen. Tatsächlich enthält nämlich § 61 eine Ab- chwächung der Polizeigewalt des Präsidenten, indem dieser in der gewaltsamen Ausübung des ihm zustehenden Hausrechts beschränkt wird. Der Widerstand leistende Abgeordnete kann im Schutze dieses Paragraphen den Präsidenten bis zur Aufhebung der Sitzung treiben, weiter geht es nicht. Immerhin setzt sich ein Abgeordneter, der dem Befehl des Präsidenten zum Verlassen des Saales zuwiderhandelt, unabhängig von den Bestimmungen der Geschäftsordnung der Gefahr aus, wegen Hausfriedensbruchs verfolgt zu werden. (S. Hubrich, parla¬ mentarische Redefreiheit und Disziplin, S. 437.) Wie haben diese Bestimmungen in der Praxis gewirkt? Sie sind unseres Wissens nur einmal angewandt worden, und zwar gegen den verstorbenen Abgeordneten Singer, der übrigens bis dahin jahrelang Vorsitzender der Ge¬ schäftsordnungskommission gewesen war. Der Vorgang spielte sich während der stürmischen Debatten bei der zweiten Beratung des Zolltarifes am 4. De¬ zember 1902 ab. (Stenographischer Bericht 1900—1903, B. 8, S. 6893.) In einer der unzähligen Geschäftsordnungsdebatten hatte der Vizepräsident. Graf von Stolberg-Wernigerode, unter stürmischen Zurufen der Sozialdemo¬ kraten dem Abgeordneten Spahn das Wort gegeben. Die Abgeordneten der Linken drängten sich auf und vor der Treppe zur Rednertribüne zusammen, unter ihnen führend der Abgeordnete Singer. Der Vizepräsident forderte den Abgeordneten Singer auf, die Treppe zu verlassen, und rief ihn unter stür¬ mischen Kundgebungen von beiden Seiten des Hauses zur Ordnung. Der Abgeordnete Singer verblieb auf der Treppe und wurde zum zweiten Male zur Ordnung gerufen. Während Spahn zu sprechen begann, rief Singer mehr¬ mals dazwischen: Zur Geschäftsordnung! Darauf erfolgte der dritte Ordnungs¬ ruf. Während der Ausführungen Spahns lärmten die Sozialdemokraten unter Führung singers weiter. Als Spahn geendigt hatte, nahm Graf Stolberg das Wort: „Meine Herren, auf Grundlage des § 60 der Geschäftsordnung, Absatz 3, schließe ich den Herrn Abgordneten Singer von der Sitzung aus. (Stürmischer Beifall rechts und in der Mitte. Andauernder Lärm links.) Meine Herren, da die Mittel, welche mir die Geschäftsordnung an die Hand

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/454>, abgerufen am 25.07.2024.