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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Ein reaktionärer Briefwechsel

von selbst ergeben. Ein Blick auf die parlamentarisch regierten Länder genügt.
Dort sitzen fähige Leute in den Parlamenten, aus diesen fähigen Leuten
rekrutieren sich die Regierungen. Weil der Weg zur Macht über die Parlamente
führt, lockt die parlamentarische Laufbahn die besten Köpfe. Die Minister, die
aus dem Parlament hervorgegangen sind, kennen das Theater, verstehen die
Inszenierung und die ganze Maschinerie des schönen Scheins, die in unserer
Zeit die Zirzenses der Römer vertritt, jene Kunst, den Instinkten, Gefühlen,
Meinungen jenes Haufens urteilsunfähiger Menschen, den man Volk nennt, in
der Form so zu entsprechen, daß ein Nachgeben in der Sache sich erübrigt.
Da sie der Majorität des Parlaments entnommen sind, haben sie Rückhalt an
ihr; da die Majorität sich selbst an der Macht weiß, da ihre Führer die Re¬
gierungsmaschine und ihre Bedürfnisse kennen, tragen sie den Notwendigkeiten,
den großen und kleinen Rücksichten, die an dem Regieren haften. Rechnung.

Wie liegen die Dinge dagegen bei uns? Die Regierung versteht nichts
von der Inszenierung, auf die ein großes Volk, das sich mündig glaubt, doch
einen gerechten Anspruch hat. Die Parlamentarier verstehen nichts vom Re¬
gieren; es sind zum größten Teil kleine Leute, zumeist schwache, in einzelnen
Fällen mittlere Köpfe. Ihre politische Bildung haben sie aus der Lektüre von
Zeitungen lokaler Bedeutung, wobei hinzuzufügen ist, daß diese Zeitungen selbst
wieder von Leuten gemacht werden, welche niemals mit dem Regieren etwas
zu tun hatten, noch hoffen können, jemals damit etwas zu tun zu bekommen.

Ein paar Dutzend der Abgeordneten kennt vielleicht die Geschäftsordnung,
kaum ein Dutzend die Verfassung und einige können den Etat lesen. Die Führer
verfügen über Gerissenheit und Routine, verbessern aber den Durchschnitt kaum.
Die Regierung, die keinen Rückhalt im Parlament hat, ist dem Parlament
gegenüber machtloser als in allen anderen Ländern. Da sie keine persönliche
Gefolgschaft hat, deren Interessen mit den ihrigen verbunden sind, muß sie,
wenn sie etwas durchsetzen will, mit rechten Vernunftgründen Leute überzeugen,
welche gar kein Interesse daran haben, sich überzeugen zu lassen, sondern
zumeist schon vorher durch die Stimmungsberichte, die sie aus ihren Wahl¬
kreisen erhalten, von dem immer populäreren Gegenteil überzeugt sind. Deutsch¬
land ist das einzige Land der Erde, wo die Regierung die Naivität hat, an
die Wirksamkeit von Vernunftgründen zu glauben. Sie tut es ja auch nur
gezwungen, da sie über andere Machtmittel nicht verfügt.

Die Geschichte der letzten Jahre hat ja gezeigt, daß die Regierung nur
die Dinge vom Parlamente durchsetzen kann, die die Stimmung des Volkes
für sich haben, also Wehrvorlage und Sozialgesetze, dagegen in allen den
Fragen, bei denen das nicht der Fall ist, insbesondere der gesamten Steuer¬
gesetzgebung, sich dem Parlament auf Gnade und Ungnade ergeben muß. Der
weiß ja, wie gründlich der Reichstag alle Steuerprojekte der Regierung im
letzten Jahrzehnt umgekrempelt hat. Nicht zum Vorteil der Gesetze. Ganz
natürlich. Denn worauf soll ein Parlament, das zwar die Gesetze zu machen,


Ein reaktionärer Briefwechsel

von selbst ergeben. Ein Blick auf die parlamentarisch regierten Länder genügt.
Dort sitzen fähige Leute in den Parlamenten, aus diesen fähigen Leuten
rekrutieren sich die Regierungen. Weil der Weg zur Macht über die Parlamente
führt, lockt die parlamentarische Laufbahn die besten Köpfe. Die Minister, die
aus dem Parlament hervorgegangen sind, kennen das Theater, verstehen die
Inszenierung und die ganze Maschinerie des schönen Scheins, die in unserer
Zeit die Zirzenses der Römer vertritt, jene Kunst, den Instinkten, Gefühlen,
Meinungen jenes Haufens urteilsunfähiger Menschen, den man Volk nennt, in
der Form so zu entsprechen, daß ein Nachgeben in der Sache sich erübrigt.
Da sie der Majorität des Parlaments entnommen sind, haben sie Rückhalt an
ihr; da die Majorität sich selbst an der Macht weiß, da ihre Führer die Re¬
gierungsmaschine und ihre Bedürfnisse kennen, tragen sie den Notwendigkeiten,
den großen und kleinen Rücksichten, die an dem Regieren haften. Rechnung.

Wie liegen die Dinge dagegen bei uns? Die Regierung versteht nichts
von der Inszenierung, auf die ein großes Volk, das sich mündig glaubt, doch
einen gerechten Anspruch hat. Die Parlamentarier verstehen nichts vom Re¬
gieren; es sind zum größten Teil kleine Leute, zumeist schwache, in einzelnen
Fällen mittlere Köpfe. Ihre politische Bildung haben sie aus der Lektüre von
Zeitungen lokaler Bedeutung, wobei hinzuzufügen ist, daß diese Zeitungen selbst
wieder von Leuten gemacht werden, welche niemals mit dem Regieren etwas
zu tun hatten, noch hoffen können, jemals damit etwas zu tun zu bekommen.

Ein paar Dutzend der Abgeordneten kennt vielleicht die Geschäftsordnung,
kaum ein Dutzend die Verfassung und einige können den Etat lesen. Die Führer
verfügen über Gerissenheit und Routine, verbessern aber den Durchschnitt kaum.
Die Regierung, die keinen Rückhalt im Parlament hat, ist dem Parlament
gegenüber machtloser als in allen anderen Ländern. Da sie keine persönliche
Gefolgschaft hat, deren Interessen mit den ihrigen verbunden sind, muß sie,
wenn sie etwas durchsetzen will, mit rechten Vernunftgründen Leute überzeugen,
welche gar kein Interesse daran haben, sich überzeugen zu lassen, sondern
zumeist schon vorher durch die Stimmungsberichte, die sie aus ihren Wahl¬
kreisen erhalten, von dem immer populäreren Gegenteil überzeugt sind. Deutsch¬
land ist das einzige Land der Erde, wo die Regierung die Naivität hat, an
die Wirksamkeit von Vernunftgründen zu glauben. Sie tut es ja auch nur
gezwungen, da sie über andere Machtmittel nicht verfügt.

Die Geschichte der letzten Jahre hat ja gezeigt, daß die Regierung nur
die Dinge vom Parlamente durchsetzen kann, die die Stimmung des Volkes
für sich haben, also Wehrvorlage und Sozialgesetze, dagegen in allen den
Fragen, bei denen das nicht der Fall ist, insbesondere der gesamten Steuer¬
gesetzgebung, sich dem Parlament auf Gnade und Ungnade ergeben muß. Der
weiß ja, wie gründlich der Reichstag alle Steuerprojekte der Regierung im
letzten Jahrzehnt umgekrempelt hat. Nicht zum Vorteil der Gesetze. Ganz
natürlich. Denn worauf soll ein Parlament, das zwar die Gesetze zu machen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/446>, abgerufen am 04.07.2024.