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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

aus der Vaterstadt und der engeren Heimat
führte, in den Kampf ums Brod drängte und
manches Hoffen knickte, hat sie dann die Kraft
des Überwindens gefunden und die Ruhe der
Entsagung, in der die Freude am Menschen
und seinen Schicksalen leuchtet. Freude an
der Vielgestaltigkeit der Lebensoffenbarung ist
stets Bedingung und Krone wahren Künstler-
iums gewesen. Wir grüßen deshalb Char¬
lotte Niese als eine begnadete Frau. Mit
ihrem Wollen und Können greift sie nicht ins
Überlebensgroße, aber fein und glatt weis;
sie de Fäden zu spinnen, die sich zu einem zart¬
farbigen Gobelin fügen. In ihrem sechzigsten
Lebensjahr hat sie uns ein neues Werk beschert,
"DieHexe vonMayen", daS dieGrenzboten auf
dem Wege ins Publikum geleiten durften*).
Die Grenzboten sind Charlstte Niese bereits
öfters Sprachrohr gewesen. Es ist schon lange
her, daß sie zum erstenmal eine Arbeit aus
ihrer Feder an die Öffentlichkeit brachten"")
und für die junge Schriftstellerin Freunde
warben. Frisch und jung ist aber ihr Schaffen
heute noch. Die Bilder, die sie einst in
Holstein und am Rhein in sich aufgenommen
hat, sind noch lebendig und wirken echt und
farbenfroh in der künstlerischen Realisierung.
Die Fabel der "Hexe von Mayen" ist im
kulturhistorischen Gewände des siebzehnten
Jahrhunderts das alte Lied von einer Liebe,
die keine Erfüllung fand und versickern mußte.
Charlotte Niese liegt jede Überhitzung fern,
fein abgetönt ist das Gefüge ihrer Arbeit und
der Hauch kühler Zurückhaltung gibt ihr den
Reiz der Vornehmheit, der in unserer Zeit
rücksichtsloser Selbstoffenbarung so wohltuend

[Spaltenumbruch]

wirkt. Charlotte Niese ist uns wert in, Kranze
ihrer Genossinnen, deshalb wünschen wir,
daß ihr die Freude am Erzählen noch lange
erhalten bleibe. Wer eine kurze Charakteri¬
sierung ihres literarischen Schaffens sucht, sei
auf die anläßlich ihres Geburtsfestes ebenfalls
bei Fr. Wilh. Grunow erschienene Studie aus
der Feder Friedrich Castelles hingewiesen.

M. U.
In Uemoriam Gustave Flaubert.

Ohne
Frage ist Flaubert gegenwärtig einer der
modernsten fremdländischen Schriftsteller in
Deutschland. Es scheint, daß dieser 1830
gestorbene Mann erst jetzt seine volle künst¬
lerische Wirkung bei uns auszuüben beginnt,
und dies hängt vielleicht damit zusammen,
daß er in einem erleseneren Sinne Künstler
gewesen ist als diejenigen Franzosen, die,
obwohl jünger, doch früher bei uns gelesen
wurden. Wozu denn freilich kommt, daß der
eherne Ernst seiner im Feuer geschmiedeten
Darstellungen auch den heikelsten Stoffen
jenen Lüsternheitsreiz nimmt, der nun ein¬
mal für die Verbreitung von Büchern, die
aus dem galanten Frankreich kommen, nicht
ohne Einfluß ist.

Fast mehr noch als seine Werke scheinen
heute Dokumente seines Persönlichen und in
der Tat ganz eigenen Lebens zu interessieren,
und jede neugegründete Zeitschrift, die etwas
auf sich hält, paradiert mit Flaubertbriefen
oder -tagebuchblättern. Die große deutsche
Ausgabe ist vollendet -- auch der Rachlaß
liegt bereits vor -- und ihr Herausgeber,
Dr. E. W. Fischer, bringt nun im Verlage
Kurt Wolfs - Leipzig einen "In Mvmormm
Gustave Flaubert" betitelten Band heraus,
der Aufzeichnungen und Erinnerungen von
Personen enthält, die dem Dichter nahe¬
gestanden haben. Frau Caroline Franklin-
Grout, seine Nichte, die er erzog, eröffnet den
Reigen. Nun, eines hat sie von ihm nicht
gelernt: schreiben. Es ist alles ein wenig
familienhaft, ein wenig frauenzimmerlich,
und wenn man interessante Julina erfährt,
so erfährt man sie trotz der Verfasserin: sie
sind ihr so nebenbei entschlüpft, sie sind nicht
herausgearbeitet, weil ihre Bedeutung nicht
durchschaut worden ist.

[Ende Spaltensatz]
*) Der Roman ist jetzt bei Fr. Wilhelm
Grunow in Leipzig in Buchform erschienen-
"") Von Charlotte Rieses Erzählungen sind
in den Grenzboten erschienen: Die Reise ins
Kloster (1.892), Der langweilige Kammerherr
(1892), Corisande (1393), Die Geschichte von
einem, der nichts durfte (1893), Die Geschichte
des Etatsrath (1893), Am Leuchtfeuer (1394),
Der verrückte Flinsheim (1894), Die erste
Liebe (1896), Aus dem Laude der Zypressen
(1902), Die Gräfin von Genlis' (1903), Die
Klabunkerstrnße (1904), Menschenfrühling
(1907), Die Stadt in der ich wohne (1908),
Reifezeit (1908).
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

aus der Vaterstadt und der engeren Heimat
führte, in den Kampf ums Brod drängte und
manches Hoffen knickte, hat sie dann die Kraft
des Überwindens gefunden und die Ruhe der
Entsagung, in der die Freude am Menschen
und seinen Schicksalen leuchtet. Freude an
der Vielgestaltigkeit der Lebensoffenbarung ist
stets Bedingung und Krone wahren Künstler-
iums gewesen. Wir grüßen deshalb Char¬
lotte Niese als eine begnadete Frau. Mit
ihrem Wollen und Können greift sie nicht ins
Überlebensgroße, aber fein und glatt weis;
sie de Fäden zu spinnen, die sich zu einem zart¬
farbigen Gobelin fügen. In ihrem sechzigsten
Lebensjahr hat sie uns ein neues Werk beschert,
„DieHexe vonMayen", daS dieGrenzboten auf
dem Wege ins Publikum geleiten durften*).
Die Grenzboten sind Charlstte Niese bereits
öfters Sprachrohr gewesen. Es ist schon lange
her, daß sie zum erstenmal eine Arbeit aus
ihrer Feder an die Öffentlichkeit brachten"")
und für die junge Schriftstellerin Freunde
warben. Frisch und jung ist aber ihr Schaffen
heute noch. Die Bilder, die sie einst in
Holstein und am Rhein in sich aufgenommen
hat, sind noch lebendig und wirken echt und
farbenfroh in der künstlerischen Realisierung.
Die Fabel der „Hexe von Mayen" ist im
kulturhistorischen Gewände des siebzehnten
Jahrhunderts das alte Lied von einer Liebe,
die keine Erfüllung fand und versickern mußte.
Charlotte Niese liegt jede Überhitzung fern,
fein abgetönt ist das Gefüge ihrer Arbeit und
der Hauch kühler Zurückhaltung gibt ihr den
Reiz der Vornehmheit, der in unserer Zeit
rücksichtsloser Selbstoffenbarung so wohltuend

[Spaltenumbruch]

wirkt. Charlotte Niese ist uns wert in, Kranze
ihrer Genossinnen, deshalb wünschen wir,
daß ihr die Freude am Erzählen noch lange
erhalten bleibe. Wer eine kurze Charakteri¬
sierung ihres literarischen Schaffens sucht, sei
auf die anläßlich ihres Geburtsfestes ebenfalls
bei Fr. Wilh. Grunow erschienene Studie aus
der Feder Friedrich Castelles hingewiesen.

M. U.
In Uemoriam Gustave Flaubert.

Ohne
Frage ist Flaubert gegenwärtig einer der
modernsten fremdländischen Schriftsteller in
Deutschland. Es scheint, daß dieser 1830
gestorbene Mann erst jetzt seine volle künst¬
lerische Wirkung bei uns auszuüben beginnt,
und dies hängt vielleicht damit zusammen,
daß er in einem erleseneren Sinne Künstler
gewesen ist als diejenigen Franzosen, die,
obwohl jünger, doch früher bei uns gelesen
wurden. Wozu denn freilich kommt, daß der
eherne Ernst seiner im Feuer geschmiedeten
Darstellungen auch den heikelsten Stoffen
jenen Lüsternheitsreiz nimmt, der nun ein¬
mal für die Verbreitung von Büchern, die
aus dem galanten Frankreich kommen, nicht
ohne Einfluß ist.

Fast mehr noch als seine Werke scheinen
heute Dokumente seines Persönlichen und in
der Tat ganz eigenen Lebens zu interessieren,
und jede neugegründete Zeitschrift, die etwas
auf sich hält, paradiert mit Flaubertbriefen
oder -tagebuchblättern. Die große deutsche
Ausgabe ist vollendet — auch der Rachlaß
liegt bereits vor — und ihr Herausgeber,
Dr. E. W. Fischer, bringt nun im Verlage
Kurt Wolfs - Leipzig einen „In Mvmormm
Gustave Flaubert" betitelten Band heraus,
der Aufzeichnungen und Erinnerungen von
Personen enthält, die dem Dichter nahe¬
gestanden haben. Frau Caroline Franklin-
Grout, seine Nichte, die er erzog, eröffnet den
Reigen. Nun, eines hat sie von ihm nicht
gelernt: schreiben. Es ist alles ein wenig
familienhaft, ein wenig frauenzimmerlich,
und wenn man interessante Julina erfährt,
so erfährt man sie trotz der Verfasserin: sie
sind ihr so nebenbei entschlüpft, sie sind nicht
herausgearbeitet, weil ihre Bedeutung nicht
durchschaut worden ist.

[Ende Spaltensatz]
*) Der Roman ist jetzt bei Fr. Wilhelm
Grunow in Leipzig in Buchform erschienen-
"") Von Charlotte Rieses Erzählungen sind
in den Grenzboten erschienen: Die Reise ins
Kloster (1.892), Der langweilige Kammerherr
(1892), Corisande (1393), Die Geschichte von
einem, der nichts durfte (1893), Die Geschichte
des Etatsrath (1893), Am Leuchtfeuer (1394),
Der verrückte Flinsheim (1894), Die erste
Liebe (1896), Aus dem Laude der Zypressen
(1902), Die Gräfin von Genlis' (1903), Die
Klabunkerstrnße (1904), Menschenfrühling
(1907), Die Stadt in der ich wohne (1908),
Reifezeit (1908).
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[0442] Maßgebliches und Unmaßgebliches aus der Vaterstadt und der engeren Heimat führte, in den Kampf ums Brod drängte und manches Hoffen knickte, hat sie dann die Kraft des Überwindens gefunden und die Ruhe der Entsagung, in der die Freude am Menschen und seinen Schicksalen leuchtet. Freude an der Vielgestaltigkeit der Lebensoffenbarung ist stets Bedingung und Krone wahren Künstler- iums gewesen. Wir grüßen deshalb Char¬ lotte Niese als eine begnadete Frau. Mit ihrem Wollen und Können greift sie nicht ins Überlebensgroße, aber fein und glatt weis; sie de Fäden zu spinnen, die sich zu einem zart¬ farbigen Gobelin fügen. In ihrem sechzigsten Lebensjahr hat sie uns ein neues Werk beschert, „DieHexe vonMayen", daS dieGrenzboten auf dem Wege ins Publikum geleiten durften*). Die Grenzboten sind Charlstte Niese bereits öfters Sprachrohr gewesen. Es ist schon lange her, daß sie zum erstenmal eine Arbeit aus ihrer Feder an die Öffentlichkeit brachten"") und für die junge Schriftstellerin Freunde warben. Frisch und jung ist aber ihr Schaffen heute noch. Die Bilder, die sie einst in Holstein und am Rhein in sich aufgenommen hat, sind noch lebendig und wirken echt und farbenfroh in der künstlerischen Realisierung. Die Fabel der „Hexe von Mayen" ist im kulturhistorischen Gewände des siebzehnten Jahrhunderts das alte Lied von einer Liebe, die keine Erfüllung fand und versickern mußte. Charlotte Niese liegt jede Überhitzung fern, fein abgetönt ist das Gefüge ihrer Arbeit und der Hauch kühler Zurückhaltung gibt ihr den Reiz der Vornehmheit, der in unserer Zeit rücksichtsloser Selbstoffenbarung so wohltuend wirkt. Charlotte Niese ist uns wert in, Kranze ihrer Genossinnen, deshalb wünschen wir, daß ihr die Freude am Erzählen noch lange erhalten bleibe. Wer eine kurze Charakteri¬ sierung ihres literarischen Schaffens sucht, sei auf die anläßlich ihres Geburtsfestes ebenfalls bei Fr. Wilh. Grunow erschienene Studie aus der Feder Friedrich Castelles hingewiesen. M. U. In Uemoriam Gustave Flaubert. Ohne Frage ist Flaubert gegenwärtig einer der modernsten fremdländischen Schriftsteller in Deutschland. Es scheint, daß dieser 1830 gestorbene Mann erst jetzt seine volle künst¬ lerische Wirkung bei uns auszuüben beginnt, und dies hängt vielleicht damit zusammen, daß er in einem erleseneren Sinne Künstler gewesen ist als diejenigen Franzosen, die, obwohl jünger, doch früher bei uns gelesen wurden. Wozu denn freilich kommt, daß der eherne Ernst seiner im Feuer geschmiedeten Darstellungen auch den heikelsten Stoffen jenen Lüsternheitsreiz nimmt, der nun ein¬ mal für die Verbreitung von Büchern, die aus dem galanten Frankreich kommen, nicht ohne Einfluß ist. Fast mehr noch als seine Werke scheinen heute Dokumente seines Persönlichen und in der Tat ganz eigenen Lebens zu interessieren, und jede neugegründete Zeitschrift, die etwas auf sich hält, paradiert mit Flaubertbriefen oder -tagebuchblättern. Die große deutsche Ausgabe ist vollendet — auch der Rachlaß liegt bereits vor — und ihr Herausgeber, Dr. E. W. Fischer, bringt nun im Verlage Kurt Wolfs - Leipzig einen „In Mvmormm Gustave Flaubert" betitelten Band heraus, der Aufzeichnungen und Erinnerungen von Personen enthält, die dem Dichter nahe¬ gestanden haben. Frau Caroline Franklin- Grout, seine Nichte, die er erzog, eröffnet den Reigen. Nun, eines hat sie von ihm nicht gelernt: schreiben. Es ist alles ein wenig familienhaft, ein wenig frauenzimmerlich, und wenn man interessante Julina erfährt, so erfährt man sie trotz der Verfasserin: sie sind ihr so nebenbei entschlüpft, sie sind nicht herausgearbeitet, weil ihre Bedeutung nicht durchschaut worden ist. *) Der Roman ist jetzt bei Fr. Wilhelm Grunow in Leipzig in Buchform erschienen- "") Von Charlotte Rieses Erzählungen sind in den Grenzboten erschienen: Die Reise ins Kloster (1.892), Der langweilige Kammerherr (1892), Corisande (1393), Die Geschichte von einem, der nichts durfte (1893), Die Geschichte des Etatsrath (1893), Am Leuchtfeuer (1394), Der verrückte Flinsheim (1894), Die erste Liebe (1896), Aus dem Laude der Zypressen (1902), Die Gräfin von Genlis' (1903), Die Klabunkerstrnße (1904), Menschenfrühling (1907), Die Stadt in der ich wohne (1908), Reifezeit (1908).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/442>, abgerufen am 13.11.2024.