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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Das Wahlproblem

Wir kommen damit zur Frage des "Wahlproblems an sich". In
politischer Hinsicht kann man unsere Zeit als Herrschaft des konstitutionellen
Prinzips bezeichnen, bei dem die Volksvertretung neben der verfassungsgemäßen
Regierungsgewalt als Verkörperung der öffentlichen Meinung in den wichtigsten
Staatsangelegenheiten je nach der bestehenden Verfassung mehr oder minder
entscheidend und nebenbei kontrollierend mitwirkt. Die Wahl der Abgeordneten
zu dieser Volksvertretung ist demnach das wichtigste Mittel der aktiven Be-
tätigung des Staatsbürgers.

Nach welchem Modus soll nun diese Wahl vor sich gehen? Der bislang
überwiegende Zug unserer Zeit geht nach möglichster Erweiterung der Wahl¬
fähigkeit, in den weitaus meisten Staaten ist dementsprechend das gleiche,
geheime, direkte Wahlverfahren, wie es auch für die Reichstagswahl besteht,
zur Einführung gelangt.

Ist dieses System nun wirklich so ideal und zweckdienlich, wie seine weite
Verbreitung voraussetzen läßt? Sicherlich weist es auf den ersten Blick große
Vorzüge auf: wie vor dem Gesetze jeder gleich ist, wie jeder der gleichen
Wehrpflicht, auf der der moderne Staat im letzten Grunde beruht, sich zu
unterziehen hat, so sollen auch alle Staatsbürger politisch gleich sein. Bei
näherem Zusehen aber ergibt sich zwischen diesen "Gleichheiten" ein ganz
bedeutender Unterschied: die Gleichheit vor dem Gesetz und in der Übernahme
der Wehrpflicht setzt gleichsam nur ein passives Verhalten staatlichen Institutionen
gegenüber voraus, politische Gleichheit hingegen bedeutet die Gleichbewertung
aller politischen aktiven Betätigungen der einzelnen Staatsbürger. Und diese
aktiven Funktionen sind eben nicht gleichwertig, weil auch die Menschen selbst
von Natur nicht gleich sind, sie bleiben nicht einmal gleich bei demselben
Staatsbürger; denn sicher ist es für den Staat und sein Gedeihen ein Unter¬
schied, ob jemand als Fünfundzwanzigjähriger ohne Erfahrung oder als
Fünfzigjähriger mit Erfahrung, ob er als Alleinstehender in sorgloser
Flüchtigkeit oder als ernster Mann, der für seine Familie zu sorgen hat, seine
Anteilnahme am Staatsleben durch Abgabe seiner Stimme betätigt, ob er zum
Staatshaushalt keine Steuern bezahlt oder, durch Fleiß emporgekommen, seinen
größeren oder kleineren Anteil dazu beiträgt. Und was vom einzelnen gilt,
gilt entsprechend von den einzelnen Schichten der Bevölkerung; auch ihre Funk¬
tionen, als Gesamtheit betrachtet, haben selbstverständlich sür den Staat einen
verschiedenen Wert, mag man ihn nach der Höhe der Steuerbeträge bemessen
oder nach der Wichtigkeit der einzelnen Berufsleistungen für die Erhaltung und
Erhöhung der Kultur. Denn gerade die Kultur zu wahren und zu fördern ist
die Hauptaufgabe des Staates im Kampfe gegen die Instinkte der Masse, die
als Ganzes niemals imstande sein wird, diese Kultur sich anzueignen, die aus
sich heraus aber stetig die Strebenden emporsendet, um so die Kultur der
oberen Schichten dennoch mehren und stärken zu helfen. Was in allen Kultur¬
staaten sich als drohendes Gespenst eben gegen die Kultur erhebt, ist die plumpe


Das Wahlproblem

Wir kommen damit zur Frage des „Wahlproblems an sich". In
politischer Hinsicht kann man unsere Zeit als Herrschaft des konstitutionellen
Prinzips bezeichnen, bei dem die Volksvertretung neben der verfassungsgemäßen
Regierungsgewalt als Verkörperung der öffentlichen Meinung in den wichtigsten
Staatsangelegenheiten je nach der bestehenden Verfassung mehr oder minder
entscheidend und nebenbei kontrollierend mitwirkt. Die Wahl der Abgeordneten
zu dieser Volksvertretung ist demnach das wichtigste Mittel der aktiven Be-
tätigung des Staatsbürgers.

Nach welchem Modus soll nun diese Wahl vor sich gehen? Der bislang
überwiegende Zug unserer Zeit geht nach möglichster Erweiterung der Wahl¬
fähigkeit, in den weitaus meisten Staaten ist dementsprechend das gleiche,
geheime, direkte Wahlverfahren, wie es auch für die Reichstagswahl besteht,
zur Einführung gelangt.

Ist dieses System nun wirklich so ideal und zweckdienlich, wie seine weite
Verbreitung voraussetzen läßt? Sicherlich weist es auf den ersten Blick große
Vorzüge auf: wie vor dem Gesetze jeder gleich ist, wie jeder der gleichen
Wehrpflicht, auf der der moderne Staat im letzten Grunde beruht, sich zu
unterziehen hat, so sollen auch alle Staatsbürger politisch gleich sein. Bei
näherem Zusehen aber ergibt sich zwischen diesen „Gleichheiten" ein ganz
bedeutender Unterschied: die Gleichheit vor dem Gesetz und in der Übernahme
der Wehrpflicht setzt gleichsam nur ein passives Verhalten staatlichen Institutionen
gegenüber voraus, politische Gleichheit hingegen bedeutet die Gleichbewertung
aller politischen aktiven Betätigungen der einzelnen Staatsbürger. Und diese
aktiven Funktionen sind eben nicht gleichwertig, weil auch die Menschen selbst
von Natur nicht gleich sind, sie bleiben nicht einmal gleich bei demselben
Staatsbürger; denn sicher ist es für den Staat und sein Gedeihen ein Unter¬
schied, ob jemand als Fünfundzwanzigjähriger ohne Erfahrung oder als
Fünfzigjähriger mit Erfahrung, ob er als Alleinstehender in sorgloser
Flüchtigkeit oder als ernster Mann, der für seine Familie zu sorgen hat, seine
Anteilnahme am Staatsleben durch Abgabe seiner Stimme betätigt, ob er zum
Staatshaushalt keine Steuern bezahlt oder, durch Fleiß emporgekommen, seinen
größeren oder kleineren Anteil dazu beiträgt. Und was vom einzelnen gilt,
gilt entsprechend von den einzelnen Schichten der Bevölkerung; auch ihre Funk¬
tionen, als Gesamtheit betrachtet, haben selbstverständlich sür den Staat einen
verschiedenen Wert, mag man ihn nach der Höhe der Steuerbeträge bemessen
oder nach der Wichtigkeit der einzelnen Berufsleistungen für die Erhaltung und
Erhöhung der Kultur. Denn gerade die Kultur zu wahren und zu fördern ist
die Hauptaufgabe des Staates im Kampfe gegen die Instinkte der Masse, die
als Ganzes niemals imstande sein wird, diese Kultur sich anzueignen, die aus
sich heraus aber stetig die Strebenden emporsendet, um so die Kultur der
oberen Schichten dennoch mehren und stärken zu helfen. Was in allen Kultur¬
staaten sich als drohendes Gespenst eben gegen die Kultur erhebt, ist die plumpe


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[0405] Das Wahlproblem Wir kommen damit zur Frage des „Wahlproblems an sich". In politischer Hinsicht kann man unsere Zeit als Herrschaft des konstitutionellen Prinzips bezeichnen, bei dem die Volksvertretung neben der verfassungsgemäßen Regierungsgewalt als Verkörperung der öffentlichen Meinung in den wichtigsten Staatsangelegenheiten je nach der bestehenden Verfassung mehr oder minder entscheidend und nebenbei kontrollierend mitwirkt. Die Wahl der Abgeordneten zu dieser Volksvertretung ist demnach das wichtigste Mittel der aktiven Be- tätigung des Staatsbürgers. Nach welchem Modus soll nun diese Wahl vor sich gehen? Der bislang überwiegende Zug unserer Zeit geht nach möglichster Erweiterung der Wahl¬ fähigkeit, in den weitaus meisten Staaten ist dementsprechend das gleiche, geheime, direkte Wahlverfahren, wie es auch für die Reichstagswahl besteht, zur Einführung gelangt. Ist dieses System nun wirklich so ideal und zweckdienlich, wie seine weite Verbreitung voraussetzen läßt? Sicherlich weist es auf den ersten Blick große Vorzüge auf: wie vor dem Gesetze jeder gleich ist, wie jeder der gleichen Wehrpflicht, auf der der moderne Staat im letzten Grunde beruht, sich zu unterziehen hat, so sollen auch alle Staatsbürger politisch gleich sein. Bei näherem Zusehen aber ergibt sich zwischen diesen „Gleichheiten" ein ganz bedeutender Unterschied: die Gleichheit vor dem Gesetz und in der Übernahme der Wehrpflicht setzt gleichsam nur ein passives Verhalten staatlichen Institutionen gegenüber voraus, politische Gleichheit hingegen bedeutet die Gleichbewertung aller politischen aktiven Betätigungen der einzelnen Staatsbürger. Und diese aktiven Funktionen sind eben nicht gleichwertig, weil auch die Menschen selbst von Natur nicht gleich sind, sie bleiben nicht einmal gleich bei demselben Staatsbürger; denn sicher ist es für den Staat und sein Gedeihen ein Unter¬ schied, ob jemand als Fünfundzwanzigjähriger ohne Erfahrung oder als Fünfzigjähriger mit Erfahrung, ob er als Alleinstehender in sorgloser Flüchtigkeit oder als ernster Mann, der für seine Familie zu sorgen hat, seine Anteilnahme am Staatsleben durch Abgabe seiner Stimme betätigt, ob er zum Staatshaushalt keine Steuern bezahlt oder, durch Fleiß emporgekommen, seinen größeren oder kleineren Anteil dazu beiträgt. Und was vom einzelnen gilt, gilt entsprechend von den einzelnen Schichten der Bevölkerung; auch ihre Funk¬ tionen, als Gesamtheit betrachtet, haben selbstverständlich sür den Staat einen verschiedenen Wert, mag man ihn nach der Höhe der Steuerbeträge bemessen oder nach der Wichtigkeit der einzelnen Berufsleistungen für die Erhaltung und Erhöhung der Kultur. Denn gerade die Kultur zu wahren und zu fördern ist die Hauptaufgabe des Staates im Kampfe gegen die Instinkte der Masse, die als Ganzes niemals imstande sein wird, diese Kultur sich anzueignen, die aus sich heraus aber stetig die Strebenden emporsendet, um so die Kultur der oberen Schichten dennoch mehren und stärken zu helfen. Was in allen Kultur¬ staaten sich als drohendes Gespenst eben gegen die Kultur erhebt, ist die plumpe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/405>, abgerufen am 25.07.2024.