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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Das Wahlproblem

Wähler zuliebe, als Bedingung seiner Mithilfe der Rechten abgerungen hatte.
Wie sich infolge dieser Änderung in der Zukunft die Handhabung des gesamten
Wahlgesetzes gestaltet haben würde, wäre abzuwarten gewesen. Als sicher hätte
man zunächst eine beträchtliche Steigerung der Wahlbeteiligung annehmen können,
zu befürchten wäre weiter gewesen, daß die sozialdemokratische Flut durch dieses
Tor gegen die Quadern des durch das Wahlgesetz sonst gut gesicherten bürger¬
lichen Bestandes an Parlamentssitzen herangerollt wäre. Es ist darum wohl
zu verstehen, daß die Rechte, der man von ihrem Standpunkte aus zielsicherste
Klarheit nachrühmen muß, den verlorenen Posten der Öffentlichkeit der Gesamt¬
wahl mit der za'besten Energie verteidigt hat: dieses System der rücksichtslosen
Klassenbevorrechtigung ist eben nur durch straffe Beaufsichtigung jedes einzelnen
zu behaupten, und die auch nur teilweise Einführung der geheimen Wahl
bedeutete ohne Frage nicht nur einen Bruch des gesamten Prinzips, sondern
auch eine Gefährdung des sonst sicheren Wahlersolges. Denn auf die zweite
Klasse der Wähler als der ständigen Bundesgenossin der ersten ist, zumal in
den städtischen Bezirken, durchaus nicht sicher zu rechnen; auch in ihr wird der
geringer bewertete Einfluß des einzelnen den Wählern der ersten Klasse gegenüber
genau so persönlich als Unrecht empfunden wie in der dritten Klasse den beiden
ersten gegenüber. Dazu kommt ganz allgemein ein gewisses soziales Empfinden,
das eine derartige Abstufung des Wertverhältnisses, wie es zwischen den drei
Klassen besteht, in unserer Zeit des Reichstagswahlrechts für einen politischen
Anachronismus ansteht und dementsprechend zu bekämpfen trachtet. Unter diesen
Umständen wird für eine große Zahl von Wählern der Wahlakt überhaupt nur
zu einer Protestkundgebung -- nur dadurch sind die Erfolge der Sozialdemo¬
kraten bei den letzten Landtagswahlen in den Berliner Wahlkreisen zu erklären.
Dieser Protest aber wäre bei der geheimen Wahl viel billiger zu erkaufen
gewesen als früher bei der öffentlichen, und dieser unbestimmte Faktor hätte
dementsprechend die ganze Rechnung bei den künftigen Wahlen höchst unbestimmt
gemacht.

Und nicht nur bei den in Aussicht genommenen geheimen Wahlen zum
preußischen Abgeordnetenhause hätte sich dieser Protest stärker zu erkennen gegeben,
sondern er hat sich bereits, wie schon oben bemerkt, auch bei den letzten Reichs¬
tagswahlen fühlbar gemacht und wird sich weiter bei den künftigen fühlbar
machen. Denn hier ist die verhängnisvolle Stelle, wo sich notgedrungen preußische
Politik und Reichspolitik unmittelbar berühren müssen. Es geht nicht an. beide
Gebiete als Parallelerscheinungen zu betrachten, die sich nie berühren könnten,
es geht nicht an, für die Reichstagswahlen den idealen Sinn des deutschen
Volkes als Bundesgenossen der Regierung im Kampf gegen die Sozialdemokratie
aufzurufen, in der preußischen Politik hingegen diesen idealen Faktor völlig
auszuschalten und sein Vorhandensein überhaupt zu vernachlässigen. Preußen schließt
zwei Drittel des Deutschen Reiches in sich, zwei Drittel der deutschen Reichs¬
wählerschaft sind demnach preußisch: wird sich dieser selben Wählerschaft gegen-


Das Wahlproblem

Wähler zuliebe, als Bedingung seiner Mithilfe der Rechten abgerungen hatte.
Wie sich infolge dieser Änderung in der Zukunft die Handhabung des gesamten
Wahlgesetzes gestaltet haben würde, wäre abzuwarten gewesen. Als sicher hätte
man zunächst eine beträchtliche Steigerung der Wahlbeteiligung annehmen können,
zu befürchten wäre weiter gewesen, daß die sozialdemokratische Flut durch dieses
Tor gegen die Quadern des durch das Wahlgesetz sonst gut gesicherten bürger¬
lichen Bestandes an Parlamentssitzen herangerollt wäre. Es ist darum wohl
zu verstehen, daß die Rechte, der man von ihrem Standpunkte aus zielsicherste
Klarheit nachrühmen muß, den verlorenen Posten der Öffentlichkeit der Gesamt¬
wahl mit der za'besten Energie verteidigt hat: dieses System der rücksichtslosen
Klassenbevorrechtigung ist eben nur durch straffe Beaufsichtigung jedes einzelnen
zu behaupten, und die auch nur teilweise Einführung der geheimen Wahl
bedeutete ohne Frage nicht nur einen Bruch des gesamten Prinzips, sondern
auch eine Gefährdung des sonst sicheren Wahlersolges. Denn auf die zweite
Klasse der Wähler als der ständigen Bundesgenossin der ersten ist, zumal in
den städtischen Bezirken, durchaus nicht sicher zu rechnen; auch in ihr wird der
geringer bewertete Einfluß des einzelnen den Wählern der ersten Klasse gegenüber
genau so persönlich als Unrecht empfunden wie in der dritten Klasse den beiden
ersten gegenüber. Dazu kommt ganz allgemein ein gewisses soziales Empfinden,
das eine derartige Abstufung des Wertverhältnisses, wie es zwischen den drei
Klassen besteht, in unserer Zeit des Reichstagswahlrechts für einen politischen
Anachronismus ansteht und dementsprechend zu bekämpfen trachtet. Unter diesen
Umständen wird für eine große Zahl von Wählern der Wahlakt überhaupt nur
zu einer Protestkundgebung — nur dadurch sind die Erfolge der Sozialdemo¬
kraten bei den letzten Landtagswahlen in den Berliner Wahlkreisen zu erklären.
Dieser Protest aber wäre bei der geheimen Wahl viel billiger zu erkaufen
gewesen als früher bei der öffentlichen, und dieser unbestimmte Faktor hätte
dementsprechend die ganze Rechnung bei den künftigen Wahlen höchst unbestimmt
gemacht.

Und nicht nur bei den in Aussicht genommenen geheimen Wahlen zum
preußischen Abgeordnetenhause hätte sich dieser Protest stärker zu erkennen gegeben,
sondern er hat sich bereits, wie schon oben bemerkt, auch bei den letzten Reichs¬
tagswahlen fühlbar gemacht und wird sich weiter bei den künftigen fühlbar
machen. Denn hier ist die verhängnisvolle Stelle, wo sich notgedrungen preußische
Politik und Reichspolitik unmittelbar berühren müssen. Es geht nicht an. beide
Gebiete als Parallelerscheinungen zu betrachten, die sich nie berühren könnten,
es geht nicht an, für die Reichstagswahlen den idealen Sinn des deutschen
Volkes als Bundesgenossen der Regierung im Kampf gegen die Sozialdemokratie
aufzurufen, in der preußischen Politik hingegen diesen idealen Faktor völlig
auszuschalten und sein Vorhandensein überhaupt zu vernachlässigen. Preußen schließt
zwei Drittel des Deutschen Reiches in sich, zwei Drittel der deutschen Reichs¬
wählerschaft sind demnach preußisch: wird sich dieser selben Wählerschaft gegen-


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[0403] Das Wahlproblem Wähler zuliebe, als Bedingung seiner Mithilfe der Rechten abgerungen hatte. Wie sich infolge dieser Änderung in der Zukunft die Handhabung des gesamten Wahlgesetzes gestaltet haben würde, wäre abzuwarten gewesen. Als sicher hätte man zunächst eine beträchtliche Steigerung der Wahlbeteiligung annehmen können, zu befürchten wäre weiter gewesen, daß die sozialdemokratische Flut durch dieses Tor gegen die Quadern des durch das Wahlgesetz sonst gut gesicherten bürger¬ lichen Bestandes an Parlamentssitzen herangerollt wäre. Es ist darum wohl zu verstehen, daß die Rechte, der man von ihrem Standpunkte aus zielsicherste Klarheit nachrühmen muß, den verlorenen Posten der Öffentlichkeit der Gesamt¬ wahl mit der za'besten Energie verteidigt hat: dieses System der rücksichtslosen Klassenbevorrechtigung ist eben nur durch straffe Beaufsichtigung jedes einzelnen zu behaupten, und die auch nur teilweise Einführung der geheimen Wahl bedeutete ohne Frage nicht nur einen Bruch des gesamten Prinzips, sondern auch eine Gefährdung des sonst sicheren Wahlersolges. Denn auf die zweite Klasse der Wähler als der ständigen Bundesgenossin der ersten ist, zumal in den städtischen Bezirken, durchaus nicht sicher zu rechnen; auch in ihr wird der geringer bewertete Einfluß des einzelnen den Wählern der ersten Klasse gegenüber genau so persönlich als Unrecht empfunden wie in der dritten Klasse den beiden ersten gegenüber. Dazu kommt ganz allgemein ein gewisses soziales Empfinden, das eine derartige Abstufung des Wertverhältnisses, wie es zwischen den drei Klassen besteht, in unserer Zeit des Reichstagswahlrechts für einen politischen Anachronismus ansteht und dementsprechend zu bekämpfen trachtet. Unter diesen Umständen wird für eine große Zahl von Wählern der Wahlakt überhaupt nur zu einer Protestkundgebung — nur dadurch sind die Erfolge der Sozialdemo¬ kraten bei den letzten Landtagswahlen in den Berliner Wahlkreisen zu erklären. Dieser Protest aber wäre bei der geheimen Wahl viel billiger zu erkaufen gewesen als früher bei der öffentlichen, und dieser unbestimmte Faktor hätte dementsprechend die ganze Rechnung bei den künftigen Wahlen höchst unbestimmt gemacht. Und nicht nur bei den in Aussicht genommenen geheimen Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhause hätte sich dieser Protest stärker zu erkennen gegeben, sondern er hat sich bereits, wie schon oben bemerkt, auch bei den letzten Reichs¬ tagswahlen fühlbar gemacht und wird sich weiter bei den künftigen fühlbar machen. Denn hier ist die verhängnisvolle Stelle, wo sich notgedrungen preußische Politik und Reichspolitik unmittelbar berühren müssen. Es geht nicht an. beide Gebiete als Parallelerscheinungen zu betrachten, die sich nie berühren könnten, es geht nicht an, für die Reichstagswahlen den idealen Sinn des deutschen Volkes als Bundesgenossen der Regierung im Kampf gegen die Sozialdemokratie aufzurufen, in der preußischen Politik hingegen diesen idealen Faktor völlig auszuschalten und sein Vorhandensein überhaupt zu vernachlässigen. Preußen schließt zwei Drittel des Deutschen Reiches in sich, zwei Drittel der deutschen Reichs¬ wählerschaft sind demnach preußisch: wird sich dieser selben Wählerschaft gegen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/403>, abgerufen am 25.07.2024.