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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Literatur [Spaltenumbruch]

"Wir sterben nicht" (Berlin, Cotta) heißt sein
letzter Gedichtband, dessen Frische mich keines¬
wegs unmittelbar, sondern künstlich erhitzt an¬
mutete. Den Balladen fehlt das Knappe,
Gehaltene, Schlagende, und die Lieder sind
ja ganz brav, aber doch Wohl Alltagsware.
Auch die "Gedichte" von Fritz Kopp (Leipzig,
Fritz Eckardt) können nicht völlig befriedigen;
jedenfalls verheißen sie eine Entwicklung, wie
mich dünkt, und so will ich einer neuen Gabe
harren, ehe ich ein abschließendes Urteil fälle,
das ich jetzt als voreilig verwerfen müßte.

Als Intermezzo einige Frauenbücher: "Die
Laute" von Erika Rheinsch (Berlin, Egon
Fleischel). Wie soll ich meine Ansicht Präzi-
sieren? Ich müßte stets dasselbe wiederholen.
Glatte, angenehme, talentvolle Verse; es fehlt
nur eins, die Hauptsache: Gnade. Man kann
sich des Gefühls nicht erwehren, daß manche
belesenen, gebildeten Damen ähnliche Gedichte
schreiben können, und daß man sie im ein¬
zelnen doch nicht voneinander zu unterscheiden
vermöchte. "Die Oktave" von Eleonore
Kalkowska (Berlin, E. Fleischel) verrät etwas
mehr Individualität; aber ihre Bilder sind
manchmal nicht prägnant genug. Das Blut,
welches das Angesicht des Geliebten wie ein
roter Schild umrauscht, und dem blühend
Reis um Reis entsteigt -- ist nicht nur ge¬
wagt, sondern geschmacklos. Trotzdem zeigt
sich ein Ringen und ein Ernst, der gewinnend
wirkt. Dagegen haben die "Gedichte" von

[Ende Spaltensatz]

Neue Lyrik. Es lag mir eine sehr große
Anzahl Gedichtbucher vor, die ich alle nach
bestem Wissen geprüft habe, von denen aber
viele als völlig unwertig hier verschwiegen
werden müssen. Zudem bin ich gezwungen,
mich kurz zu fassen, denn diese Zeitschrift kann
-- als nicht ausschließlich literarische -- ohne¬
dies der Lyrik nur beschränkten Platz ein¬
räumen. Und wie wenig Verheißungsvolles
oder wirklich Vollkommenes habe ich gefunden!
Wieviel geschickten, geschmackvollen Versen bin
ich begegnet, und wie gering war die Aus¬
beute an Echten, wahrhaft Reifein und Be¬
gnadeten.

Ich erwähne zunächst jene Bücher, die ich
nicht völlig übergehen möchte, die aber nur
einer kurzen Bemerkung würdig sind. Da
sind die "Neuen Gedichte" von Max Alfred
Vogel (München, Georg Callwey), harmlose,
schlichte Weisen, in denen ab und zu ein
hübsches Bild aufglänzt, die aber im ganzen
wenig Eigenart und Reize bergen. "Die
frühen Stunden" von Carl Salm (Köln,
Schmitzsche Buchhandlung, Ferdinand Sohn)
verraten schon mehr Talent und frische Be¬
gabung, aber es mangelt an innerer Ge¬
schlossenheit, um Ausgleich der Verse gegen¬
einander. Jedenfalls liegt hier ein Erst¬
lingsbuch vor, das Hoffnung auf Wachstum
erweckt. Rudolf Herzog enttäuschte mich bitter.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Literatur [Spaltenumbruch]

„Wir sterben nicht" (Berlin, Cotta) heißt sein
letzter Gedichtband, dessen Frische mich keines¬
wegs unmittelbar, sondern künstlich erhitzt an¬
mutete. Den Balladen fehlt das Knappe,
Gehaltene, Schlagende, und die Lieder sind
ja ganz brav, aber doch Wohl Alltagsware.
Auch die „Gedichte" von Fritz Kopp (Leipzig,
Fritz Eckardt) können nicht völlig befriedigen;
jedenfalls verheißen sie eine Entwicklung, wie
mich dünkt, und so will ich einer neuen Gabe
harren, ehe ich ein abschließendes Urteil fälle,
das ich jetzt als voreilig verwerfen müßte.

Als Intermezzo einige Frauenbücher: „Die
Laute" von Erika Rheinsch (Berlin, Egon
Fleischel). Wie soll ich meine Ansicht Präzi-
sieren? Ich müßte stets dasselbe wiederholen.
Glatte, angenehme, talentvolle Verse; es fehlt
nur eins, die Hauptsache: Gnade. Man kann
sich des Gefühls nicht erwehren, daß manche
belesenen, gebildeten Damen ähnliche Gedichte
schreiben können, und daß man sie im ein¬
zelnen doch nicht voneinander zu unterscheiden
vermöchte. „Die Oktave" von Eleonore
Kalkowska (Berlin, E. Fleischel) verrät etwas
mehr Individualität; aber ihre Bilder sind
manchmal nicht prägnant genug. Das Blut,
welches das Angesicht des Geliebten wie ein
roter Schild umrauscht, und dem blühend
Reis um Reis entsteigt — ist nicht nur ge¬
wagt, sondern geschmacklos. Trotzdem zeigt
sich ein Ringen und ein Ernst, der gewinnend
wirkt. Dagegen haben die „Gedichte" von

[Ende Spaltensatz]

Neue Lyrik. Es lag mir eine sehr große
Anzahl Gedichtbucher vor, die ich alle nach
bestem Wissen geprüft habe, von denen aber
viele als völlig unwertig hier verschwiegen
werden müssen. Zudem bin ich gezwungen,
mich kurz zu fassen, denn diese Zeitschrift kann
— als nicht ausschließlich literarische — ohne¬
dies der Lyrik nur beschränkten Platz ein¬
räumen. Und wie wenig Verheißungsvolles
oder wirklich Vollkommenes habe ich gefunden!
Wieviel geschickten, geschmackvollen Versen bin
ich begegnet, und wie gering war die Aus¬
beute an Echten, wahrhaft Reifein und Be¬
gnadeten.

Ich erwähne zunächst jene Bücher, die ich
nicht völlig übergehen möchte, die aber nur
einer kurzen Bemerkung würdig sind. Da
sind die „Neuen Gedichte" von Max Alfred
Vogel (München, Georg Callwey), harmlose,
schlichte Weisen, in denen ab und zu ein
hübsches Bild aufglänzt, die aber im ganzen
wenig Eigenart und Reize bergen. „Die
frühen Stunden" von Carl Salm (Köln,
Schmitzsche Buchhandlung, Ferdinand Sohn)
verraten schon mehr Talent und frische Be¬
gabung, aber es mangelt an innerer Ge¬
schlossenheit, um Ausgleich der Verse gegen¬
einander. Jedenfalls liegt hier ein Erst¬
lingsbuch vor, das Hoffnung auf Wachstum
erweckt. Rudolf Herzog enttäuschte mich bitter.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/390>, abgerufen am 13.11.2024.