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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Russische Lindnicke eines Kroaten

Kunstwerk. Er will das Publikum zu einem gewissen Expressionismus im
Kunstgenuß erziehen, und zwar im Genusse der Kunst schlechthin und gewiß
nicht im Genuß einzelner Kunstrichtungen, wie zum Beispiel des künstlerischen
Expressionismus. Dennoch kann gerade der künstlerische Expresstonismus aus
der Arbeit Nutz' manche Lehre und manchen Vorteil ziehen. Er kann aus ihr
die Wichtigkeit der Form des Gefühlsausdrucks, d. h. der objektiv ein für
allemal bestimmten Ausdrucksform noch einmal sich eindringlich zu Gemüte führen
lassen. Er kann aber zweitens hoffen, daß expressive Kunsterziehung,
die mittels der Rutzschen Methode möglich ist, das Interesse und die Auf¬
fassungsbereitschaft des Publikums für den künstlerischen Expresstonismus günstig
beeinflussen wird, sobald es ihm nur gelungen ist, zu einem einigermaßen festen
und bestimmten Formenschatz vorzudringen.

So beginnen der künstlerische und der ästhetische Expresstonismus ihre
Arbeit an ganz verschiedenen Enden: der eine beim Künstler, der andere beim
Publikum. Sie treffen sich aber, oder sollten sich wenigstens treffen in ein und
demselben Punkte: bei der Ausdrucksform des Gefühls.




Russische Eindrücke eines Urvater*)
Prof. Dr. ZZragutin prohask'a von II.
Moskau

MMM
MWodsolnuschki sind die Samenkerne der Sonnenblume. An und für
sich verdient die Sonnenblume nicht viel Aufmerksamkeit. Ich
fand in ihr nie Poesie. Keine Blume hat ein so prosaisches
Gesicht wie sie. Nicht daran riechen läßt es sich, ins Knopfloch
paßt sie nicht. Sie ist ein Symbol der Bourgeoisie, weil die
Frucht süß und ölig, mehlhaltig, daher nahrhaft und nutzbringend ist. Die
Samen der Sonnenblume sind eßbar. Der Kern wird zwischen die Zähne gesteckt,
man drückt seine Rippen ein, die Schale bricht entzwei, der Same fällt auf die
Zunge und schon ist er geschmolzen.

Der Moskaner Händler, der an der Promenade einen Stand mit Kwaß.
Zucker, Süßigkeiten und Sonnenblumen aufgeschlagen hat, zeigt mir, die Hand
einen Meter hoch über den Sack erhebend, daß er täglich soviel "Podsolnuschki"
verkauft. Ganz Moskau ist mit den Hülsen von Sonnenblumenkernen bedeckt.



") Vergl. Heft 4.
Russische Lindnicke eines Kroaten

Kunstwerk. Er will das Publikum zu einem gewissen Expressionismus im
Kunstgenuß erziehen, und zwar im Genusse der Kunst schlechthin und gewiß
nicht im Genuß einzelner Kunstrichtungen, wie zum Beispiel des künstlerischen
Expressionismus. Dennoch kann gerade der künstlerische Expresstonismus aus
der Arbeit Nutz' manche Lehre und manchen Vorteil ziehen. Er kann aus ihr
die Wichtigkeit der Form des Gefühlsausdrucks, d. h. der objektiv ein für
allemal bestimmten Ausdrucksform noch einmal sich eindringlich zu Gemüte führen
lassen. Er kann aber zweitens hoffen, daß expressive Kunsterziehung,
die mittels der Rutzschen Methode möglich ist, das Interesse und die Auf¬
fassungsbereitschaft des Publikums für den künstlerischen Expresstonismus günstig
beeinflussen wird, sobald es ihm nur gelungen ist, zu einem einigermaßen festen
und bestimmten Formenschatz vorzudringen.

So beginnen der künstlerische und der ästhetische Expresstonismus ihre
Arbeit an ganz verschiedenen Enden: der eine beim Künstler, der andere beim
Publikum. Sie treffen sich aber, oder sollten sich wenigstens treffen in ein und
demselben Punkte: bei der Ausdrucksform des Gefühls.




Russische Eindrücke eines Urvater*)
Prof. Dr. ZZragutin prohask'a von II.
Moskau

MMM
MWodsolnuschki sind die Samenkerne der Sonnenblume. An und für
sich verdient die Sonnenblume nicht viel Aufmerksamkeit. Ich
fand in ihr nie Poesie. Keine Blume hat ein so prosaisches
Gesicht wie sie. Nicht daran riechen läßt es sich, ins Knopfloch
paßt sie nicht. Sie ist ein Symbol der Bourgeoisie, weil die
Frucht süß und ölig, mehlhaltig, daher nahrhaft und nutzbringend ist. Die
Samen der Sonnenblume sind eßbar. Der Kern wird zwischen die Zähne gesteckt,
man drückt seine Rippen ein, die Schale bricht entzwei, der Same fällt auf die
Zunge und schon ist er geschmolzen.

Der Moskaner Händler, der an der Promenade einen Stand mit Kwaß.
Zucker, Süßigkeiten und Sonnenblumen aufgeschlagen hat, zeigt mir, die Hand
einen Meter hoch über den Sack erhebend, daß er täglich soviel „Podsolnuschki"
verkauft. Ganz Moskau ist mit den Hülsen von Sonnenblumenkernen bedeckt.



") Vergl. Heft 4.
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[0330] Russische Lindnicke eines Kroaten Kunstwerk. Er will das Publikum zu einem gewissen Expressionismus im Kunstgenuß erziehen, und zwar im Genusse der Kunst schlechthin und gewiß nicht im Genuß einzelner Kunstrichtungen, wie zum Beispiel des künstlerischen Expressionismus. Dennoch kann gerade der künstlerische Expresstonismus aus der Arbeit Nutz' manche Lehre und manchen Vorteil ziehen. Er kann aus ihr die Wichtigkeit der Form des Gefühlsausdrucks, d. h. der objektiv ein für allemal bestimmten Ausdrucksform noch einmal sich eindringlich zu Gemüte führen lassen. Er kann aber zweitens hoffen, daß expressive Kunsterziehung, die mittels der Rutzschen Methode möglich ist, das Interesse und die Auf¬ fassungsbereitschaft des Publikums für den künstlerischen Expresstonismus günstig beeinflussen wird, sobald es ihm nur gelungen ist, zu einem einigermaßen festen und bestimmten Formenschatz vorzudringen. So beginnen der künstlerische und der ästhetische Expresstonismus ihre Arbeit an ganz verschiedenen Enden: der eine beim Künstler, der andere beim Publikum. Sie treffen sich aber, oder sollten sich wenigstens treffen in ein und demselben Punkte: bei der Ausdrucksform des Gefühls. Russische Eindrücke eines Urvater*) Prof. Dr. ZZragutin prohask'a von II. Moskau MMM MWodsolnuschki sind die Samenkerne der Sonnenblume. An und für sich verdient die Sonnenblume nicht viel Aufmerksamkeit. Ich fand in ihr nie Poesie. Keine Blume hat ein so prosaisches Gesicht wie sie. Nicht daran riechen läßt es sich, ins Knopfloch paßt sie nicht. Sie ist ein Symbol der Bourgeoisie, weil die Frucht süß und ölig, mehlhaltig, daher nahrhaft und nutzbringend ist. Die Samen der Sonnenblume sind eßbar. Der Kern wird zwischen die Zähne gesteckt, man drückt seine Rippen ein, die Schale bricht entzwei, der Same fällt auf die Zunge und schon ist er geschmolzen. Der Moskaner Händler, der an der Promenade einen Stand mit Kwaß. Zucker, Süßigkeiten und Sonnenblumen aufgeschlagen hat, zeigt mir, die Hand einen Meter hoch über den Sack erhebend, daß er täglich soviel „Podsolnuschki" verkauft. Ganz Moskau ist mit den Hülsen von Sonnenblumenkernen bedeckt. ") Vergl. Heft 4.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/330>, abgerufen am 24.07.2024.