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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Vererbung beim Menschen

Kinn als eine -- einfache oder komplizierte -- Dominante schon seit nunmehr
über sechs Jahrhunderten.

Bei der erblichen Übertragung von Farben, Formen und Größen wird
eines gar leicht verkannt: das Gen. das übertragen wird, darf nicht etwa als
ein materielles Teilchen gedacht werden, bedeutet vielmehr im Grunde nur eine
bestimmte Art des Geschehens, in diesen Fällen z. B. eine bestimmte Art des
Entwicklungsablaufes, der Bildung von Farbstoffen, der Wachstumsrichtungen
und ihrer Proportionen. Deutlicher tritt dieser Charakter der Erbeinheiten bei
reinen Leistungen des Lebewesens zutage, die sich allerdings in der Regel immer
gleichfalls mit gestaltlichen Eigenarten verknüpfen. So folgt der Mendel-Regel
auch das familiäre Auftreten von Zwillings-, überhaupt von Mehrlingsgeburten,
vielleicht auch die Lebensdauer, zumal das Durchschnittsmaß übertreffende Lang-
und Kurzlebigkeit. Ein Verzeichnis der bisher studierten normalen Erbcharaktere
gibt die Tabelle I auf S. 308. --

Als wichtigstes Erbgut des Menschen drängt sich seine Gesundheit und
Krankheit weitaus in den Vordergrund des Interesses. Wie das normale Leben
so wird auch das abnorme durch eine große Anzahl verschiedener Erbeinheiten
beherrscht. Verlust und Veränderung der "normalen" Gene, vielleicht auch
Erwerb neuer abweichender Erbstücke sind die Bedingungen für die große Schar
erblich übertragbarer Anomalien und Krankheiten. Eine Übersicht dieser Ab¬
weichungen enthält das Verzeichnis auf S. 309 ff., aufgestellt ursprünglich von
Gruber und Rubin, ergänzt nach den neuen Forschungsergebnissen.

Für den augenblicklichen Stand der Fragen kommen bei der noch recht
geringen Zahl sicherer Ergebnisse im wesentlichen drei Erbtypen in Betracht, die
erbtheoretisch und hygienisch das größte Interesse beanspruchen. Ein Gen kann
einmal durch sein Dasein das Erbgut und damit seinen Träger krankhaft ver¬
ändern oder aber zweitens durch sein Fehlen. Im ersten Falle kann einmal
bereits einfaches oder aber erst doppeltes Vertretensein des Erbstückes die Ano¬
malie des Erbträgers bedingen. Bezeichnet ^ (Anomalia) dieses Gen, so sind
im ersten Falle alle Individuen und ^ befallen, gegebenenfalls auch in
unterscheidbarer Weise, z. B. stärker als ^a, und lediglich die sa-Nach¬
kommen sind normal. Im zweiten Fall sind, wenn 1^ (Norma) die Erbeinheit
"gesund" andeutet, die IM-Wesen völlig normal, die um>Wesen sicher krank,
die I^In-Träger können je nach dem Grade der Dominanz ganz oder scheinbar
gesund oder auch etwa wieder als echte Mischwesen im leichteren Grade er¬
krankt sein.

Aus der Grundstammtafel (S. 253) lassen sich alle hier vorkommenden
Fälle ableiten, wenn man entsprechend für den ersten Fall: v ^- >V oder X,
K a oder n einsetzt. Die Entscheidung über die Wahl der Symbolisierung
einer krankmachenden Erbeinheit ist oft nicht leicht. Angeborener Haarmangel
kann ebensowohl positiv als Hemmung, als negativ durch Fehlen der normalen
Haarbildungszene gedeutet werden. Man ist in der Presence - Absence - Hypo-


Vererbung beim Menschen

Kinn als eine — einfache oder komplizierte — Dominante schon seit nunmehr
über sechs Jahrhunderten.

Bei der erblichen Übertragung von Farben, Formen und Größen wird
eines gar leicht verkannt: das Gen. das übertragen wird, darf nicht etwa als
ein materielles Teilchen gedacht werden, bedeutet vielmehr im Grunde nur eine
bestimmte Art des Geschehens, in diesen Fällen z. B. eine bestimmte Art des
Entwicklungsablaufes, der Bildung von Farbstoffen, der Wachstumsrichtungen
und ihrer Proportionen. Deutlicher tritt dieser Charakter der Erbeinheiten bei
reinen Leistungen des Lebewesens zutage, die sich allerdings in der Regel immer
gleichfalls mit gestaltlichen Eigenarten verknüpfen. So folgt der Mendel-Regel
auch das familiäre Auftreten von Zwillings-, überhaupt von Mehrlingsgeburten,
vielleicht auch die Lebensdauer, zumal das Durchschnittsmaß übertreffende Lang-
und Kurzlebigkeit. Ein Verzeichnis der bisher studierten normalen Erbcharaktere
gibt die Tabelle I auf S. 308. —

Als wichtigstes Erbgut des Menschen drängt sich seine Gesundheit und
Krankheit weitaus in den Vordergrund des Interesses. Wie das normale Leben
so wird auch das abnorme durch eine große Anzahl verschiedener Erbeinheiten
beherrscht. Verlust und Veränderung der „normalen" Gene, vielleicht auch
Erwerb neuer abweichender Erbstücke sind die Bedingungen für die große Schar
erblich übertragbarer Anomalien und Krankheiten. Eine Übersicht dieser Ab¬
weichungen enthält das Verzeichnis auf S. 309 ff., aufgestellt ursprünglich von
Gruber und Rubin, ergänzt nach den neuen Forschungsergebnissen.

Für den augenblicklichen Stand der Fragen kommen bei der noch recht
geringen Zahl sicherer Ergebnisse im wesentlichen drei Erbtypen in Betracht, die
erbtheoretisch und hygienisch das größte Interesse beanspruchen. Ein Gen kann
einmal durch sein Dasein das Erbgut und damit seinen Träger krankhaft ver¬
ändern oder aber zweitens durch sein Fehlen. Im ersten Falle kann einmal
bereits einfaches oder aber erst doppeltes Vertretensein des Erbstückes die Ano¬
malie des Erbträgers bedingen. Bezeichnet ^ (Anomalia) dieses Gen, so sind
im ersten Falle alle Individuen und ^ befallen, gegebenenfalls auch in
unterscheidbarer Weise, z. B. stärker als ^a, und lediglich die sa-Nach¬
kommen sind normal. Im zweiten Fall sind, wenn 1^ (Norma) die Erbeinheit
„gesund" andeutet, die IM-Wesen völlig normal, die um>Wesen sicher krank,
die I^In-Träger können je nach dem Grade der Dominanz ganz oder scheinbar
gesund oder auch etwa wieder als echte Mischwesen im leichteren Grade er¬
krankt sein.

Aus der Grundstammtafel (S. 253) lassen sich alle hier vorkommenden
Fälle ableiten, wenn man entsprechend für den ersten Fall: v ^- >V oder X,
K a oder n einsetzt. Die Entscheidung über die Wahl der Symbolisierung
einer krankmachenden Erbeinheit ist oft nicht leicht. Angeborener Haarmangel
kann ebensowohl positiv als Hemmung, als negativ durch Fehlen der normalen
Haarbildungszene gedeutet werden. Man ist in der Presence - Absence - Hypo-


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[0311] Vererbung beim Menschen Kinn als eine — einfache oder komplizierte — Dominante schon seit nunmehr über sechs Jahrhunderten. Bei der erblichen Übertragung von Farben, Formen und Größen wird eines gar leicht verkannt: das Gen. das übertragen wird, darf nicht etwa als ein materielles Teilchen gedacht werden, bedeutet vielmehr im Grunde nur eine bestimmte Art des Geschehens, in diesen Fällen z. B. eine bestimmte Art des Entwicklungsablaufes, der Bildung von Farbstoffen, der Wachstumsrichtungen und ihrer Proportionen. Deutlicher tritt dieser Charakter der Erbeinheiten bei reinen Leistungen des Lebewesens zutage, die sich allerdings in der Regel immer gleichfalls mit gestaltlichen Eigenarten verknüpfen. So folgt der Mendel-Regel auch das familiäre Auftreten von Zwillings-, überhaupt von Mehrlingsgeburten, vielleicht auch die Lebensdauer, zumal das Durchschnittsmaß übertreffende Lang- und Kurzlebigkeit. Ein Verzeichnis der bisher studierten normalen Erbcharaktere gibt die Tabelle I auf S. 308. — Als wichtigstes Erbgut des Menschen drängt sich seine Gesundheit und Krankheit weitaus in den Vordergrund des Interesses. Wie das normale Leben so wird auch das abnorme durch eine große Anzahl verschiedener Erbeinheiten beherrscht. Verlust und Veränderung der „normalen" Gene, vielleicht auch Erwerb neuer abweichender Erbstücke sind die Bedingungen für die große Schar erblich übertragbarer Anomalien und Krankheiten. Eine Übersicht dieser Ab¬ weichungen enthält das Verzeichnis auf S. 309 ff., aufgestellt ursprünglich von Gruber und Rubin, ergänzt nach den neuen Forschungsergebnissen. Für den augenblicklichen Stand der Fragen kommen bei der noch recht geringen Zahl sicherer Ergebnisse im wesentlichen drei Erbtypen in Betracht, die erbtheoretisch und hygienisch das größte Interesse beanspruchen. Ein Gen kann einmal durch sein Dasein das Erbgut und damit seinen Träger krankhaft ver¬ ändern oder aber zweitens durch sein Fehlen. Im ersten Falle kann einmal bereits einfaches oder aber erst doppeltes Vertretensein des Erbstückes die Ano¬ malie des Erbträgers bedingen. Bezeichnet ^ (Anomalia) dieses Gen, so sind im ersten Falle alle Individuen und ^ befallen, gegebenenfalls auch in unterscheidbarer Weise, z. B. stärker als ^a, und lediglich die sa-Nach¬ kommen sind normal. Im zweiten Fall sind, wenn 1^ (Norma) die Erbeinheit „gesund" andeutet, die IM-Wesen völlig normal, die um>Wesen sicher krank, die I^In-Träger können je nach dem Grade der Dominanz ganz oder scheinbar gesund oder auch etwa wieder als echte Mischwesen im leichteren Grade er¬ krankt sein. Aus der Grundstammtafel (S. 253) lassen sich alle hier vorkommenden Fälle ableiten, wenn man entsprechend für den ersten Fall: v ^- >V oder X, K a oder n einsetzt. Die Entscheidung über die Wahl der Symbolisierung einer krankmachenden Erbeinheit ist oft nicht leicht. Angeborener Haarmangel kann ebensowohl positiv als Hemmung, als negativ durch Fehlen der normalen Haarbildungszene gedeutet werden. Man ist in der Presence - Absence - Hypo-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/311>, abgerufen am 04.07.2024.