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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Über Vererbung beim Menschen
Prof. Dr. Heinrich poli von

le Erblichkeitslehre hat zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts
den wichtigsten und entscheidensten Schritt vorwärts getan, den
eine Naturwissenschaft überhaupt tun kann. Die Wiederentdeckung
der Mendelschen Erbregel, die mehr als ein Menschenalter von
der Forschung unbeachtet geruht hatte, schaffte der Erblehre mit
einem Schlage durch die Einführung von Maß und Zahl eine exakte wissen¬
schaftliche Grundlage für die Deutung ihrer bis dahin rein statistisch beschreibenden
Tatsachenreihen. Die Erfahrung des täglichen Lebens -- das Überspringen
einer Generation im Erbgange, die auffälligen Wirkungen der Verwandtenehe,
die Überskreuzvererbung vom Vater auf die Tochter, von der Mutter auf den
Sohn, die nicht seltene Ähnlichkeit von Onkel und Neffe -- fanden in der sinn¬
gemäßer Anwendung der Mendel-Regel eine einfache und einheitliche Aufklärung.

Die neuzeitliche Erbforschung arbeitet mit der Grundvorstellung: Merkmale
und Eigenschaften, die wir bei der Betrachtung eines Geschöpfes nach Form
oder Leistung wahrnehmen, sind bedingt durch das Vorhandensein bestimmter
Anlagen im Körper des Lebewesens. Sie stellen in ihrer Gesamtheit das Erb¬
gut des Organismus dar: bei zweielterlicher Fortpflanzung bildet dies Erbgut
ein Gemenge der einzelnen väterlichen und mütterlichen Erbstücke. Und diese
erhält das einzelne Geschöpf von seinen Eltern übertragen durch die elterlichen
Keimzellen, aus deren Vereinigung es seinerzeit entstand. Seine Keimzellen
sind es ihrerseits wiederum, die zu gegebener Zeit das Erbtum auf die nächste
Generation überleiten: die Keimzellen, die Samenzellen des Mannes und die
Eizellen des Weibes, sind die wahren Erbzellen. Was sich mithin vererbt, sind
nicht die mit dem Auge wahrnehmbaren Formeigenheiten des Lebewesens, wie
sie uns die anatomische Zergliederung auch mit der stärksten mikroskopischen




Über Vererbung beim Menschen
Prof. Dr. Heinrich poli von

le Erblichkeitslehre hat zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts
den wichtigsten und entscheidensten Schritt vorwärts getan, den
eine Naturwissenschaft überhaupt tun kann. Die Wiederentdeckung
der Mendelschen Erbregel, die mehr als ein Menschenalter von
der Forschung unbeachtet geruht hatte, schaffte der Erblehre mit
einem Schlage durch die Einführung von Maß und Zahl eine exakte wissen¬
schaftliche Grundlage für die Deutung ihrer bis dahin rein statistisch beschreibenden
Tatsachenreihen. Die Erfahrung des täglichen Lebens — das Überspringen
einer Generation im Erbgange, die auffälligen Wirkungen der Verwandtenehe,
die Überskreuzvererbung vom Vater auf die Tochter, von der Mutter auf den
Sohn, die nicht seltene Ähnlichkeit von Onkel und Neffe — fanden in der sinn¬
gemäßer Anwendung der Mendel-Regel eine einfache und einheitliche Aufklärung.

Die neuzeitliche Erbforschung arbeitet mit der Grundvorstellung: Merkmale
und Eigenschaften, die wir bei der Betrachtung eines Geschöpfes nach Form
oder Leistung wahrnehmen, sind bedingt durch das Vorhandensein bestimmter
Anlagen im Körper des Lebewesens. Sie stellen in ihrer Gesamtheit das Erb¬
gut des Organismus dar: bei zweielterlicher Fortpflanzung bildet dies Erbgut
ein Gemenge der einzelnen väterlichen und mütterlichen Erbstücke. Und diese
erhält das einzelne Geschöpf von seinen Eltern übertragen durch die elterlichen
Keimzellen, aus deren Vereinigung es seinerzeit entstand. Seine Keimzellen
sind es ihrerseits wiederum, die zu gegebener Zeit das Erbtum auf die nächste
Generation überleiten: die Keimzellen, die Samenzellen des Mannes und die
Eizellen des Weibes, sind die wahren Erbzellen. Was sich mithin vererbt, sind
nicht die mit dem Auge wahrnehmbaren Formeigenheiten des Lebewesens, wie
sie uns die anatomische Zergliederung auch mit der stärksten mikroskopischen


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[0259] [Abbildung] Über Vererbung beim Menschen Prof. Dr. Heinrich poli von le Erblichkeitslehre hat zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts den wichtigsten und entscheidensten Schritt vorwärts getan, den eine Naturwissenschaft überhaupt tun kann. Die Wiederentdeckung der Mendelschen Erbregel, die mehr als ein Menschenalter von der Forschung unbeachtet geruht hatte, schaffte der Erblehre mit einem Schlage durch die Einführung von Maß und Zahl eine exakte wissen¬ schaftliche Grundlage für die Deutung ihrer bis dahin rein statistisch beschreibenden Tatsachenreihen. Die Erfahrung des täglichen Lebens — das Überspringen einer Generation im Erbgange, die auffälligen Wirkungen der Verwandtenehe, die Überskreuzvererbung vom Vater auf die Tochter, von der Mutter auf den Sohn, die nicht seltene Ähnlichkeit von Onkel und Neffe — fanden in der sinn¬ gemäßer Anwendung der Mendel-Regel eine einfache und einheitliche Aufklärung. Die neuzeitliche Erbforschung arbeitet mit der Grundvorstellung: Merkmale und Eigenschaften, die wir bei der Betrachtung eines Geschöpfes nach Form oder Leistung wahrnehmen, sind bedingt durch das Vorhandensein bestimmter Anlagen im Körper des Lebewesens. Sie stellen in ihrer Gesamtheit das Erb¬ gut des Organismus dar: bei zweielterlicher Fortpflanzung bildet dies Erbgut ein Gemenge der einzelnen väterlichen und mütterlichen Erbstücke. Und diese erhält das einzelne Geschöpf von seinen Eltern übertragen durch die elterlichen Keimzellen, aus deren Vereinigung es seinerzeit entstand. Seine Keimzellen sind es ihrerseits wiederum, die zu gegebener Zeit das Erbtum auf die nächste Generation überleiten: die Keimzellen, die Samenzellen des Mannes und die Eizellen des Weibes, sind die wahren Erbzellen. Was sich mithin vererbt, sind nicht die mit dem Auge wahrnehmbaren Formeigenheiten des Lebewesens, wie sie uns die anatomische Zergliederung auch mit der stärksten mikroskopischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/259>, abgerufen am 13.11.2024.