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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Noxikofrage

Mexiko haben sie nicht um des mexikanischen Wohles willen, sondern auf Grund
eigener rein politischer Interessen die Revolution geschaffen und sie -- vielleicht
gegen ihr wohlverstandenes Interesse -- chronisch gemacht. Jetzt stehen sie vor
der Frage, wie diesem Zustande ein Ende zu machen sei, und wissen kein
Mittel. '

Es ist merkwürdig, wie mächtig auch im politischen Leben der Zufall ist.
In der letzten Zeit der Tastschen Präsidentschaft, als die übrigen Mächte den
General Huerta als Präsidenten von Mexiko bereits anerkannt hatten, zögerte
Taft noch, nur um vor der Anerkennung eine kleine Grenzberichtigung von Mexiko
zu erreichen. Die Verhandlungen zogen sich indes über das Ende der Tastschen
Amtswaltung hinaus. Mr. Wilson folgte und dieser warf dann ganz plötzlich und
unerwartet die "grundsätzliche und sittliche" Frage auf: Huerta sei nicht verfassungs¬
mäßig zum Präsidenten gewählt worden, er sei -- was tatsächlich nicht stimmt --
der Mörder Maderos. Moralische und konstitutionelle Gründe, so erklärte Wilson,
hinderten ihn, Huerta anzuerkennen. In seiner Botschaft stellte der Präsident als
neue "Wilsondoktrin" den Grundsatz auf, daß die Vereinigten Staaten über die
Gesetzlichkeit der Regierungen in anderen amerikanischen Staaten, überhaupt über
deren Verfassungen usw. zu wachen berechtigt seien. Man weiß nicht, wie die Ent¬
wicklung sich noch gestalten kann, bis jetzt aber erscheint jener Entschluß Wilsons.
Huerta nicht anzuerkennen, als ein Fehler, sowohl inbezug auf Mexiko wie auf die
Vereinigten Staaten. Nicht nur alle anderen Mächte, nicht nur alle ihre Ge¬
sandten in Mexiko waren der Überzeugung, daß Huerta, und zwar er allein,
in der Lage sei, Ruhe und Ordnung im Lande herzustellen, sondern auch der
amerikanische Gesandte war dieser Ansicht und hat sie vertreten. Es war ver¬
geblich, Wilson blieb bei seiner Auffassung und machte in der Folge eine Reihe
von Versuchen, Huerta zum Rücktritte zu bewegen und "verfassungsmäßige
Wahlen" in Mexiko stattfinden zu lassen, um dann mit Einwilligung Huertas
einen anderen Präsidenten an seine Stelle zu setzen. Huerta blieb, parierte alle
Schläge und Intrigen mit Ruhe und Geschicklichkeit. Aus den gleichen mora¬
lischen und verfassungsmäßigen Gründen unterstützte dann Wilson die sogenannte
Verfassungspartei, die vom Norden Mexikos aus gegen das Regime Huertas
sich auflehnte und mit Truppen und Banden Krieg gegen seine Truppen führte.
Der Führer dieser aufständischen Bewegung ist Carranza, sein fähigster General
Villa. Zurzeit, wo diese Zeilen geschrieben werden, scheint die Rebellenpartei
erfolgreich vorzudringen, nachdem sie die wichtige Stadt Torreon, am Knoten¬
punkte verschiedener Bahnlinien, den Schlüssel und das Bindeglied zwischen
Nord- und Süd-Mexiko bildend, erobert hat. Unerhörte Greuel aller Art
gegen Eingeborene und Fremde sind von den Aufständischen begangen worden,
die Präsident Wilson aus moralischen Gründen gegen Huerta unterstützt, den
einzigen, der Ruhe schaffen will und es auch kann. Eines Eingehens auf
Einzelheiten, die morgen schon ganz anders als heute aussehen können, ent¬
halten wir uns mit Fug. Zur Stunde vermag niemand zu sagen, wie die Dinge


Die Noxikofrage

Mexiko haben sie nicht um des mexikanischen Wohles willen, sondern auf Grund
eigener rein politischer Interessen die Revolution geschaffen und sie — vielleicht
gegen ihr wohlverstandenes Interesse — chronisch gemacht. Jetzt stehen sie vor
der Frage, wie diesem Zustande ein Ende zu machen sei, und wissen kein
Mittel. '

Es ist merkwürdig, wie mächtig auch im politischen Leben der Zufall ist.
In der letzten Zeit der Tastschen Präsidentschaft, als die übrigen Mächte den
General Huerta als Präsidenten von Mexiko bereits anerkannt hatten, zögerte
Taft noch, nur um vor der Anerkennung eine kleine Grenzberichtigung von Mexiko
zu erreichen. Die Verhandlungen zogen sich indes über das Ende der Tastschen
Amtswaltung hinaus. Mr. Wilson folgte und dieser warf dann ganz plötzlich und
unerwartet die „grundsätzliche und sittliche" Frage auf: Huerta sei nicht verfassungs¬
mäßig zum Präsidenten gewählt worden, er sei — was tatsächlich nicht stimmt —
der Mörder Maderos. Moralische und konstitutionelle Gründe, so erklärte Wilson,
hinderten ihn, Huerta anzuerkennen. In seiner Botschaft stellte der Präsident als
neue „Wilsondoktrin" den Grundsatz auf, daß die Vereinigten Staaten über die
Gesetzlichkeit der Regierungen in anderen amerikanischen Staaten, überhaupt über
deren Verfassungen usw. zu wachen berechtigt seien. Man weiß nicht, wie die Ent¬
wicklung sich noch gestalten kann, bis jetzt aber erscheint jener Entschluß Wilsons.
Huerta nicht anzuerkennen, als ein Fehler, sowohl inbezug auf Mexiko wie auf die
Vereinigten Staaten. Nicht nur alle anderen Mächte, nicht nur alle ihre Ge¬
sandten in Mexiko waren der Überzeugung, daß Huerta, und zwar er allein,
in der Lage sei, Ruhe und Ordnung im Lande herzustellen, sondern auch der
amerikanische Gesandte war dieser Ansicht und hat sie vertreten. Es war ver¬
geblich, Wilson blieb bei seiner Auffassung und machte in der Folge eine Reihe
von Versuchen, Huerta zum Rücktritte zu bewegen und „verfassungsmäßige
Wahlen" in Mexiko stattfinden zu lassen, um dann mit Einwilligung Huertas
einen anderen Präsidenten an seine Stelle zu setzen. Huerta blieb, parierte alle
Schläge und Intrigen mit Ruhe und Geschicklichkeit. Aus den gleichen mora¬
lischen und verfassungsmäßigen Gründen unterstützte dann Wilson die sogenannte
Verfassungspartei, die vom Norden Mexikos aus gegen das Regime Huertas
sich auflehnte und mit Truppen und Banden Krieg gegen seine Truppen führte.
Der Führer dieser aufständischen Bewegung ist Carranza, sein fähigster General
Villa. Zurzeit, wo diese Zeilen geschrieben werden, scheint die Rebellenpartei
erfolgreich vorzudringen, nachdem sie die wichtige Stadt Torreon, am Knoten¬
punkte verschiedener Bahnlinien, den Schlüssel und das Bindeglied zwischen
Nord- und Süd-Mexiko bildend, erobert hat. Unerhörte Greuel aller Art
gegen Eingeborene und Fremde sind von den Aufständischen begangen worden,
die Präsident Wilson aus moralischen Gründen gegen Huerta unterstützt, den
einzigen, der Ruhe schaffen will und es auch kann. Eines Eingehens auf
Einzelheiten, die morgen schon ganz anders als heute aussehen können, ent¬
halten wir uns mit Fug. Zur Stunde vermag niemand zu sagen, wie die Dinge


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[0232] Die Noxikofrage Mexiko haben sie nicht um des mexikanischen Wohles willen, sondern auf Grund eigener rein politischer Interessen die Revolution geschaffen und sie — vielleicht gegen ihr wohlverstandenes Interesse — chronisch gemacht. Jetzt stehen sie vor der Frage, wie diesem Zustande ein Ende zu machen sei, und wissen kein Mittel. ' Es ist merkwürdig, wie mächtig auch im politischen Leben der Zufall ist. In der letzten Zeit der Tastschen Präsidentschaft, als die übrigen Mächte den General Huerta als Präsidenten von Mexiko bereits anerkannt hatten, zögerte Taft noch, nur um vor der Anerkennung eine kleine Grenzberichtigung von Mexiko zu erreichen. Die Verhandlungen zogen sich indes über das Ende der Tastschen Amtswaltung hinaus. Mr. Wilson folgte und dieser warf dann ganz plötzlich und unerwartet die „grundsätzliche und sittliche" Frage auf: Huerta sei nicht verfassungs¬ mäßig zum Präsidenten gewählt worden, er sei — was tatsächlich nicht stimmt — der Mörder Maderos. Moralische und konstitutionelle Gründe, so erklärte Wilson, hinderten ihn, Huerta anzuerkennen. In seiner Botschaft stellte der Präsident als neue „Wilsondoktrin" den Grundsatz auf, daß die Vereinigten Staaten über die Gesetzlichkeit der Regierungen in anderen amerikanischen Staaten, überhaupt über deren Verfassungen usw. zu wachen berechtigt seien. Man weiß nicht, wie die Ent¬ wicklung sich noch gestalten kann, bis jetzt aber erscheint jener Entschluß Wilsons. Huerta nicht anzuerkennen, als ein Fehler, sowohl inbezug auf Mexiko wie auf die Vereinigten Staaten. Nicht nur alle anderen Mächte, nicht nur alle ihre Ge¬ sandten in Mexiko waren der Überzeugung, daß Huerta, und zwar er allein, in der Lage sei, Ruhe und Ordnung im Lande herzustellen, sondern auch der amerikanische Gesandte war dieser Ansicht und hat sie vertreten. Es war ver¬ geblich, Wilson blieb bei seiner Auffassung und machte in der Folge eine Reihe von Versuchen, Huerta zum Rücktritte zu bewegen und „verfassungsmäßige Wahlen" in Mexiko stattfinden zu lassen, um dann mit Einwilligung Huertas einen anderen Präsidenten an seine Stelle zu setzen. Huerta blieb, parierte alle Schläge und Intrigen mit Ruhe und Geschicklichkeit. Aus den gleichen mora¬ lischen und verfassungsmäßigen Gründen unterstützte dann Wilson die sogenannte Verfassungspartei, die vom Norden Mexikos aus gegen das Regime Huertas sich auflehnte und mit Truppen und Banden Krieg gegen seine Truppen führte. Der Führer dieser aufständischen Bewegung ist Carranza, sein fähigster General Villa. Zurzeit, wo diese Zeilen geschrieben werden, scheint die Rebellenpartei erfolgreich vorzudringen, nachdem sie die wichtige Stadt Torreon, am Knoten¬ punkte verschiedener Bahnlinien, den Schlüssel und das Bindeglied zwischen Nord- und Süd-Mexiko bildend, erobert hat. Unerhörte Greuel aller Art gegen Eingeborene und Fremde sind von den Aufständischen begangen worden, die Präsident Wilson aus moralischen Gründen gegen Huerta unterstützt, den einzigen, der Ruhe schaffen will und es auch kann. Eines Eingehens auf Einzelheiten, die morgen schon ganz anders als heute aussehen können, ent¬ halten wir uns mit Fug. Zur Stunde vermag niemand zu sagen, wie die Dinge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/232>, abgerufen am 25.07.2024.