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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Über Legendenbildung in der Geschichte

brauchen in der Tat viele Menschen eine solche Lebenslüge, so gibt es doch auch
Fälle, wo sie zum Unglück werden kann.

Ich illustriere das an einem Beispiel, das wir alle miterlebt haben. Keine
Gestalt der neueren Zeit ist so von der Legende erhoben worden wie die Bis-
marcks. Über seinen Tod hinaus ist dieser Riese noch gewachsen ins Über¬
menschliche, Heroische und er steht jetzt als eine Heldengestalt von fast mythischen
Dimensionen über unserem ganzen Leben, so wie er in Lederers Darstellung
etwa über dem Hamburger Hafen emporragt. So sehen wir ihn und niemand
würde aus ästhetischen und ethischen Gründen dieses Idealbild missen mögen.
Und dennoch: es gibt auch eine Kehrseite. Wir alle leben im Schatten dieses
Titanen, den wir selbst geschaffen haben, er nimmt unserer neueren Politik ein
gut Teil Licht und Sonne weg, noch immer mißt unser Volk seine Führer mit
jenem Maß, das es von Bismarck entnommen hat, und zwar dem Legenden-
bismarck, den es allein kennt, jenem Bismarck, der auf dem Sockel, den seine
Erfolge ihm geliehen haben, steht und der hinausragt über alles Erdenmaß.

Hier ist eine Gelegenheit, wo die theoretische Wissenschaft auch unmittel¬
baren Lebenswert gewinnen kann. Wir wollen Bismarck alle Verehrung zollen.
Wir wollen aber auch bedenken, daß diese Legende eine ästhetisch-illusorische
Konstruktion ist. Wer die Zeitungen aus früheren Jahrzehnten liest, wird sehen,
daß auch Bismarck nicht so den Reichstag beherrschte, wie fromme Patrioten
glauben. Auch Bismarck hat kavieren, konzedieren und Kompromisse schließen
müssen und sein Säbelrasseln war allzuoft nur Theaterszene. Wir müssen das
wissen, um nicht immer wieder einen falschen Maßstab an unser Leben heran¬
zubringen. Wir können Bismarck verehren und bewundern und doch eigene und
andere Wege gehen, wenn es nötig ist, was stets das Zeichen echter Jünger¬
schaft gewesen ist. Die Zeiten haben sich geändert, die gepanzerte Faust würde
heute mehr schaden als nutzen. Lassen wir unser Endurteil über Dinge und
Menschen, bis auch sie in die Ferne rücken. Ist nicht auch um Bülows, des
Vielgelästerten, Bild die Legende schon tätig? Will nicht auch hier es manchem
schon scheinen, als sei seine gewandte Diplomatengestalt doch keine so üble
Figur im europäischen Konzert gewesen, wie man früher tat? Warten wir ab.
Die Legende ist eine eigenwillige Malerin und laßt sich nicht bei allem auf die
Finger sehen.

Lassen wir sie bilden, erfreuen wir uns daran, wenn ihr ein Kunstwerk
gelang, wie im Fall Bismarck, aber seien wir uns bewußt, wo die Legende
beginnt. Wenn die kritische Wissenschaft auch keine absolute Wahrheit bringt,
sie bietet doch genug, um schädliche Folgen der Legendenbildung abzuschwächen.
Wie überall im Leben ist auch in der Politik weder der rosenfarbige Idea¬
lismus noch der nüchterne Realismus der richtige Weg: sondern dieser dürfte
sein, sowohl die Lebensnacht des Idealismus wie die des Realismus je an
der richtigen Stelle zu verwenden.




Über Legendenbildung in der Geschichte

brauchen in der Tat viele Menschen eine solche Lebenslüge, so gibt es doch auch
Fälle, wo sie zum Unglück werden kann.

Ich illustriere das an einem Beispiel, das wir alle miterlebt haben. Keine
Gestalt der neueren Zeit ist so von der Legende erhoben worden wie die Bis-
marcks. Über seinen Tod hinaus ist dieser Riese noch gewachsen ins Über¬
menschliche, Heroische und er steht jetzt als eine Heldengestalt von fast mythischen
Dimensionen über unserem ganzen Leben, so wie er in Lederers Darstellung
etwa über dem Hamburger Hafen emporragt. So sehen wir ihn und niemand
würde aus ästhetischen und ethischen Gründen dieses Idealbild missen mögen.
Und dennoch: es gibt auch eine Kehrseite. Wir alle leben im Schatten dieses
Titanen, den wir selbst geschaffen haben, er nimmt unserer neueren Politik ein
gut Teil Licht und Sonne weg, noch immer mißt unser Volk seine Führer mit
jenem Maß, das es von Bismarck entnommen hat, und zwar dem Legenden-
bismarck, den es allein kennt, jenem Bismarck, der auf dem Sockel, den seine
Erfolge ihm geliehen haben, steht und der hinausragt über alles Erdenmaß.

Hier ist eine Gelegenheit, wo die theoretische Wissenschaft auch unmittel¬
baren Lebenswert gewinnen kann. Wir wollen Bismarck alle Verehrung zollen.
Wir wollen aber auch bedenken, daß diese Legende eine ästhetisch-illusorische
Konstruktion ist. Wer die Zeitungen aus früheren Jahrzehnten liest, wird sehen,
daß auch Bismarck nicht so den Reichstag beherrschte, wie fromme Patrioten
glauben. Auch Bismarck hat kavieren, konzedieren und Kompromisse schließen
müssen und sein Säbelrasseln war allzuoft nur Theaterszene. Wir müssen das
wissen, um nicht immer wieder einen falschen Maßstab an unser Leben heran¬
zubringen. Wir können Bismarck verehren und bewundern und doch eigene und
andere Wege gehen, wenn es nötig ist, was stets das Zeichen echter Jünger¬
schaft gewesen ist. Die Zeiten haben sich geändert, die gepanzerte Faust würde
heute mehr schaden als nutzen. Lassen wir unser Endurteil über Dinge und
Menschen, bis auch sie in die Ferne rücken. Ist nicht auch um Bülows, des
Vielgelästerten, Bild die Legende schon tätig? Will nicht auch hier es manchem
schon scheinen, als sei seine gewandte Diplomatengestalt doch keine so üble
Figur im europäischen Konzert gewesen, wie man früher tat? Warten wir ab.
Die Legende ist eine eigenwillige Malerin und laßt sich nicht bei allem auf die
Finger sehen.

Lassen wir sie bilden, erfreuen wir uns daran, wenn ihr ein Kunstwerk
gelang, wie im Fall Bismarck, aber seien wir uns bewußt, wo die Legende
beginnt. Wenn die kritische Wissenschaft auch keine absolute Wahrheit bringt,
sie bietet doch genug, um schädliche Folgen der Legendenbildung abzuschwächen.
Wie überall im Leben ist auch in der Politik weder der rosenfarbige Idea¬
lismus noch der nüchterne Realismus der richtige Weg: sondern dieser dürfte
sein, sowohl die Lebensnacht des Idealismus wie die des Realismus je an
der richtigen Stelle zu verwenden.




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[0179] Über Legendenbildung in der Geschichte brauchen in der Tat viele Menschen eine solche Lebenslüge, so gibt es doch auch Fälle, wo sie zum Unglück werden kann. Ich illustriere das an einem Beispiel, das wir alle miterlebt haben. Keine Gestalt der neueren Zeit ist so von der Legende erhoben worden wie die Bis- marcks. Über seinen Tod hinaus ist dieser Riese noch gewachsen ins Über¬ menschliche, Heroische und er steht jetzt als eine Heldengestalt von fast mythischen Dimensionen über unserem ganzen Leben, so wie er in Lederers Darstellung etwa über dem Hamburger Hafen emporragt. So sehen wir ihn und niemand würde aus ästhetischen und ethischen Gründen dieses Idealbild missen mögen. Und dennoch: es gibt auch eine Kehrseite. Wir alle leben im Schatten dieses Titanen, den wir selbst geschaffen haben, er nimmt unserer neueren Politik ein gut Teil Licht und Sonne weg, noch immer mißt unser Volk seine Führer mit jenem Maß, das es von Bismarck entnommen hat, und zwar dem Legenden- bismarck, den es allein kennt, jenem Bismarck, der auf dem Sockel, den seine Erfolge ihm geliehen haben, steht und der hinausragt über alles Erdenmaß. Hier ist eine Gelegenheit, wo die theoretische Wissenschaft auch unmittel¬ baren Lebenswert gewinnen kann. Wir wollen Bismarck alle Verehrung zollen. Wir wollen aber auch bedenken, daß diese Legende eine ästhetisch-illusorische Konstruktion ist. Wer die Zeitungen aus früheren Jahrzehnten liest, wird sehen, daß auch Bismarck nicht so den Reichstag beherrschte, wie fromme Patrioten glauben. Auch Bismarck hat kavieren, konzedieren und Kompromisse schließen müssen und sein Säbelrasseln war allzuoft nur Theaterszene. Wir müssen das wissen, um nicht immer wieder einen falschen Maßstab an unser Leben heran¬ zubringen. Wir können Bismarck verehren und bewundern und doch eigene und andere Wege gehen, wenn es nötig ist, was stets das Zeichen echter Jünger¬ schaft gewesen ist. Die Zeiten haben sich geändert, die gepanzerte Faust würde heute mehr schaden als nutzen. Lassen wir unser Endurteil über Dinge und Menschen, bis auch sie in die Ferne rücken. Ist nicht auch um Bülows, des Vielgelästerten, Bild die Legende schon tätig? Will nicht auch hier es manchem schon scheinen, als sei seine gewandte Diplomatengestalt doch keine so üble Figur im europäischen Konzert gewesen, wie man früher tat? Warten wir ab. Die Legende ist eine eigenwillige Malerin und laßt sich nicht bei allem auf die Finger sehen. Lassen wir sie bilden, erfreuen wir uns daran, wenn ihr ein Kunstwerk gelang, wie im Fall Bismarck, aber seien wir uns bewußt, wo die Legende beginnt. Wenn die kritische Wissenschaft auch keine absolute Wahrheit bringt, sie bietet doch genug, um schädliche Folgen der Legendenbildung abzuschwächen. Wie überall im Leben ist auch in der Politik weder der rosenfarbige Idea¬ lismus noch der nüchterne Realismus der richtige Weg: sondern dieser dürfte sein, sowohl die Lebensnacht des Idealismus wie die des Realismus je an der richtigen Stelle zu verwenden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/179>, abgerufen am 04.07.2024.