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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Über Legendenbildimg in der Geschichte

Bevölkerung als ungenügend erwiesen, um den Anforderungen unserer Tage
zu entsprechen, so ist es im besonderen ein Merkmal der Kinderfürsorge, der
Versorgung der Kinder aus unbemittelten Kreisen, daß hier die älteste Fürsorge-
einrichtung, die Armenpflege, hinter ihren Aufgaben, die mit der Zeit gewachsen
sind, ebenso weit zurückgeblieben ist, wie jene älteren Einrichtungen der Erziehung
im allgemeinen. Unter den Fürsorgezöglingen und unter den kriminellen
Jugendlichen erscheinen die ganz unbemittelten in großer Zahl; viele sind eben
von der Schutzeinrichtung der Armenpflege nicht rechtzeitig und nicht genügend
geschützt worden. Die erste und wichtigste Forderung der Kinderfürsorge ist
daher der Ausbau der Armenpflege für Kinder: eine Ausgestaltung der Armen¬
pflege in allen Teilen des Landes, nach dem Vorbild, das andere Teile
schon lange gegeben haben, der großen Bedeutung entsprechend, die diese wirklich
vorbeugende Schutzeinrichtung für unsere heranwachsende Jugend hat.




Über Legendenbildung in der Geschichte
Richard Mutter-Lreienfels von

on allen Fragen des philosophischen Denkens erregt in der Gegen¬
wart keine die Geister so sehr wie jene uralte Frage, die
schon ein bekannter römischer Gouverneur zu Jerusalem vor rund
1900 Jahren mit spöttischem Achselzucken als unlösbar abwies,
die Frage: "Was ist Wahrheit?"

Erst heute aber sind alle Schwierigkeiten zur theoretischen Klarheit ge¬
kommen, die in jener Frage stecken, und die Mehrzahl der Forscher, die sich
damit beschäftigten, erklärt: Wahrheit ist gar keine Frage des Erkennens,
Wahrheit ist eine Frage des Handelns, des Lebens, der Tat! Vergebens
bemühen wir uns, in unseren Köpfen die Wirklichkeit in genauer Kopie ab¬
zuspiegeln, sie in allen Feinheiten nachzuzeichnen! Das ist ein unlösbares Unter¬
fangen. Wahrheit ist eben keine Kopie und kein Spiegelbild, Wahrheit ist etwas
ganz anderes, etwas, das mit der zugrunde liegenden Wirklichkeit gar keine
Ähnlichkeit hat, Wahrheit ist nur jenes Netz von Theorien und Begriffen, das
wir über die Wirklichkeit werfen, um sie uns dienstbar zu machen, um unser
Leben danach zu gestalten. Mit anderen Worten: Wahrheit ist eine Schöpfung
des menschlichen Geistes, die ihm gestattet, sich in der Fülle der als Rohstoff
gegebenen Wirklichkeit heimisch einzurichten und sie sich dienstbar zu machen. --
Dies sind Gedanken, die an allen Enden der Welt, in allen Kulturländern


11*
Über Legendenbildimg in der Geschichte

Bevölkerung als ungenügend erwiesen, um den Anforderungen unserer Tage
zu entsprechen, so ist es im besonderen ein Merkmal der Kinderfürsorge, der
Versorgung der Kinder aus unbemittelten Kreisen, daß hier die älteste Fürsorge-
einrichtung, die Armenpflege, hinter ihren Aufgaben, die mit der Zeit gewachsen
sind, ebenso weit zurückgeblieben ist, wie jene älteren Einrichtungen der Erziehung
im allgemeinen. Unter den Fürsorgezöglingen und unter den kriminellen
Jugendlichen erscheinen die ganz unbemittelten in großer Zahl; viele sind eben
von der Schutzeinrichtung der Armenpflege nicht rechtzeitig und nicht genügend
geschützt worden. Die erste und wichtigste Forderung der Kinderfürsorge ist
daher der Ausbau der Armenpflege für Kinder: eine Ausgestaltung der Armen¬
pflege in allen Teilen des Landes, nach dem Vorbild, das andere Teile
schon lange gegeben haben, der großen Bedeutung entsprechend, die diese wirklich
vorbeugende Schutzeinrichtung für unsere heranwachsende Jugend hat.




Über Legendenbildung in der Geschichte
Richard Mutter-Lreienfels von

on allen Fragen des philosophischen Denkens erregt in der Gegen¬
wart keine die Geister so sehr wie jene uralte Frage, die
schon ein bekannter römischer Gouverneur zu Jerusalem vor rund
1900 Jahren mit spöttischem Achselzucken als unlösbar abwies,
die Frage: „Was ist Wahrheit?"

Erst heute aber sind alle Schwierigkeiten zur theoretischen Klarheit ge¬
kommen, die in jener Frage stecken, und die Mehrzahl der Forscher, die sich
damit beschäftigten, erklärt: Wahrheit ist gar keine Frage des Erkennens,
Wahrheit ist eine Frage des Handelns, des Lebens, der Tat! Vergebens
bemühen wir uns, in unseren Köpfen die Wirklichkeit in genauer Kopie ab¬
zuspiegeln, sie in allen Feinheiten nachzuzeichnen! Das ist ein unlösbares Unter¬
fangen. Wahrheit ist eben keine Kopie und kein Spiegelbild, Wahrheit ist etwas
ganz anderes, etwas, das mit der zugrunde liegenden Wirklichkeit gar keine
Ähnlichkeit hat, Wahrheit ist nur jenes Netz von Theorien und Begriffen, das
wir über die Wirklichkeit werfen, um sie uns dienstbar zu machen, um unser
Leben danach zu gestalten. Mit anderen Worten: Wahrheit ist eine Schöpfung
des menschlichen Geistes, die ihm gestattet, sich in der Fülle der als Rohstoff
gegebenen Wirklichkeit heimisch einzurichten und sie sich dienstbar zu machen. —
Dies sind Gedanken, die an allen Enden der Welt, in allen Kulturländern


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[0175] Über Legendenbildimg in der Geschichte Bevölkerung als ungenügend erwiesen, um den Anforderungen unserer Tage zu entsprechen, so ist es im besonderen ein Merkmal der Kinderfürsorge, der Versorgung der Kinder aus unbemittelten Kreisen, daß hier die älteste Fürsorge- einrichtung, die Armenpflege, hinter ihren Aufgaben, die mit der Zeit gewachsen sind, ebenso weit zurückgeblieben ist, wie jene älteren Einrichtungen der Erziehung im allgemeinen. Unter den Fürsorgezöglingen und unter den kriminellen Jugendlichen erscheinen die ganz unbemittelten in großer Zahl; viele sind eben von der Schutzeinrichtung der Armenpflege nicht rechtzeitig und nicht genügend geschützt worden. Die erste und wichtigste Forderung der Kinderfürsorge ist daher der Ausbau der Armenpflege für Kinder: eine Ausgestaltung der Armen¬ pflege in allen Teilen des Landes, nach dem Vorbild, das andere Teile schon lange gegeben haben, der großen Bedeutung entsprechend, die diese wirklich vorbeugende Schutzeinrichtung für unsere heranwachsende Jugend hat. Über Legendenbildung in der Geschichte Richard Mutter-Lreienfels von on allen Fragen des philosophischen Denkens erregt in der Gegen¬ wart keine die Geister so sehr wie jene uralte Frage, die schon ein bekannter römischer Gouverneur zu Jerusalem vor rund 1900 Jahren mit spöttischem Achselzucken als unlösbar abwies, die Frage: „Was ist Wahrheit?" Erst heute aber sind alle Schwierigkeiten zur theoretischen Klarheit ge¬ kommen, die in jener Frage stecken, und die Mehrzahl der Forscher, die sich damit beschäftigten, erklärt: Wahrheit ist gar keine Frage des Erkennens, Wahrheit ist eine Frage des Handelns, des Lebens, der Tat! Vergebens bemühen wir uns, in unseren Köpfen die Wirklichkeit in genauer Kopie ab¬ zuspiegeln, sie in allen Feinheiten nachzuzeichnen! Das ist ein unlösbares Unter¬ fangen. Wahrheit ist eben keine Kopie und kein Spiegelbild, Wahrheit ist etwas ganz anderes, etwas, das mit der zugrunde liegenden Wirklichkeit gar keine Ähnlichkeit hat, Wahrheit ist nur jenes Netz von Theorien und Begriffen, das wir über die Wirklichkeit werfen, um sie uns dienstbar zu machen, um unser Leben danach zu gestalten. Mit anderen Worten: Wahrheit ist eine Schöpfung des menschlichen Geistes, die ihm gestattet, sich in der Fülle der als Rohstoff gegebenen Wirklichkeit heimisch einzurichten und sie sich dienstbar zu machen. — Dies sind Gedanken, die an allen Enden der Welt, in allen Kulturländern 11*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/175>, abgerufen am 13.11.2024.