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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Psychologie [Spaltenumbruch]

"Gruppierung des Materials" erleichtert.
Unter der "Neigung" hat man die "Tatsache
einer mehrfachen Wiederholung dieser oder
jener einfachen oder komplizierten Äußerungen
bei ein und demselben Subjekt zu verstehen".
Die biologische Begründung und die methodi¬
schen Erörterungen, mit denen Lasurski seine
"empirische Hypothese" verteidigt, kann man
an dieser Stelle füglich übergehen. Eines
aber muß hier betont werden: das ist der
Praktische Wert dieses Neigungsbegriffes. Es
wird nämlich mit seiner Hilfe möglich, der
Praktischen Arbeit auf dem Gebiete der Jn¬
dividualpsychologie, etwa der des Schulmannes
(Schülercharakteristiken), ein möglichst einfach
formuliertes Ziel zu setzen.

"Den Menschen aus seinen Neigungen zu
rekonstruieren, das ist das Ziel, nach dem wir
in jedem einzelnen Falle zu streben haben",
das ist also das erste Ziel für die Psycho¬
logische Einzelarbeit.

Für die gesamte wissenschaftliche Arbeit
auf dem Gebiete der Jndividualpsychologie
besteht nun die Aufgabe nicht nur in der
Untersuchung der Verschiedenheiten der In¬
dividuen, der individuellen Differenzen und
deren Beziehungen sKorrclationen zu¬
einander sowie der typischen Äußerungen dieser
elementaren Charaktere, sondern auch in der
Untersuchung dieser Typen und Charaktere in
Beziehung auf die Wechselwirkung, die zwischen
dem seelischen Aufbau (der psychischen Organi¬
sation) des Menschen und den auf ihn wirkenden
Mächten (Faktoren) seiner Umgebung besteht.

Die Erforschung, Einteilung und Gruppie¬
rung der Charaktere soll also nach Lasurskis
Forderung nicht nur auf Grund der Psychischen
Anlage der Persönlichkeit erfolgen, nach den
Kombinationen der individuellen Differenzen,
die sich bei ihm finden, nach seinen "Haupt¬
neigungen". Das wäre nur eine rein Psycho¬
logische, eine "endopsychische" oder "endogene"
Erforschung und Gruppierung. Diese muß
ferner aber auch "psycho-sozial" sein, d. h. das
Gepräge mit berücksichtigen, das dem Menschen
von seiner "Umgebung" -- diese im weitesten
Sinne gefaßt -- aufgedrückt wird.

[Ende Spaltensatz]

Das Studium der Individualität. Von
dem weit verzweigten Arbeitsgebiete der
Psychologie hat das Studium der Indivi¬
dualität, die Jndividualpsychologie oder
Charakterologie, in der letzten Zeit den meisten
Anreiz für die Forscher besessen. Das be¬
weist die außerordentlich große Zahl von Ver¬
öffentlichungen, die gerade über dieses Ge¬
biet in den letzten Jahren erschienen sind.
An sich kann das gar keine Verwunderung
erregen. Denn wenn man einmal gewillt
ist, die empirischen Methoden der Psychologie
immer weitgehender anzuwenden, so führt
aus einer sehr großen Anzahl von Wissen¬
schaften, z. B. der wissenschaftlichen Pädagogik,
der Geschichte, der Literatur- und Kunstwissen¬
schaft, der Ästhetik, um nur die -am nächsten
liegenden zu nennen, ja sogar aus Medizin
und Kriminalistik, die psychologische Betrach¬
tungsweise den Forscher ganz von selbst auf
Fragen, die der Jndividualpsychologie an¬
gehören. Und umgekehrt müssen die Forschungs¬
ergebnisse, die von der Jndividualpsychologie
erzielt werden, für eben jene Wissenschaften
sehr weitgehende, praktische Bedeutung haben.
Es sei hier in erster Reihe an die praktische
Pädagogik, die Rechtspflege, die literarische
und literarhistorische sowie allgemein-ästhe¬
tische Kritik erinnert.

Der russische Psychologe Professor Dr.
A. Lasurski bietet in seinem Buche "Über das
Studium der Individualität" (Mit Programm
der Untersuchung der Persönlichkeit in ihren
Beziehungen zur Umgebung von S. Franck
und A. Lasurski. Deutsch von N. Gatt.
Verlag Otto Nemnich, Leipzig, sPäda-
gogische Monographien, herausgegeben von Dr.
E. Meumcmn), Preis geh. 6,80 Mark, geb. 7,30
Mark) einen wichtigen Beitrag zur Charakter¬
ologie, indem er verschiedene neue Gesichts¬
punkte für die Auffassung und die Anordnung
ihres Tatsachengebietes angibt.

Den Charakter faßt Lasurski auf als "die
Gesamtheit der einem gegebenen Menschen zu"
gehörigen Neigungen", und zwar hauptsächlich
der Hauptneigungen. Diesen Begriff der
"Neigung" führt Lasurski neu in die Jndi¬
vidualpsychologie ein, als das Resultat einer
Abstraktion, als einen Hilfsbegriff, der die


*) Lasurski, oder vielmehr sein Übersetzer
N. Gatt, gebraucht die Fremdworte.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Psychologie [Spaltenumbruch]

„Gruppierung des Materials" erleichtert.
Unter der „Neigung" hat man die „Tatsache
einer mehrfachen Wiederholung dieser oder
jener einfachen oder komplizierten Äußerungen
bei ein und demselben Subjekt zu verstehen".
Die biologische Begründung und die methodi¬
schen Erörterungen, mit denen Lasurski seine
„empirische Hypothese" verteidigt, kann man
an dieser Stelle füglich übergehen. Eines
aber muß hier betont werden: das ist der
Praktische Wert dieses Neigungsbegriffes. Es
wird nämlich mit seiner Hilfe möglich, der
Praktischen Arbeit auf dem Gebiete der Jn¬
dividualpsychologie, etwa der des Schulmannes
(Schülercharakteristiken), ein möglichst einfach
formuliertes Ziel zu setzen.

„Den Menschen aus seinen Neigungen zu
rekonstruieren, das ist das Ziel, nach dem wir
in jedem einzelnen Falle zu streben haben",
das ist also das erste Ziel für die Psycho¬
logische Einzelarbeit.

Für die gesamte wissenschaftliche Arbeit
auf dem Gebiete der Jndividualpsychologie
besteht nun die Aufgabe nicht nur in der
Untersuchung der Verschiedenheiten der In¬
dividuen, der individuellen Differenzen und
deren Beziehungen sKorrclationen zu¬
einander sowie der typischen Äußerungen dieser
elementaren Charaktere, sondern auch in der
Untersuchung dieser Typen und Charaktere in
Beziehung auf die Wechselwirkung, die zwischen
dem seelischen Aufbau (der psychischen Organi¬
sation) des Menschen und den auf ihn wirkenden
Mächten (Faktoren) seiner Umgebung besteht.

Die Erforschung, Einteilung und Gruppie¬
rung der Charaktere soll also nach Lasurskis
Forderung nicht nur auf Grund der Psychischen
Anlage der Persönlichkeit erfolgen, nach den
Kombinationen der individuellen Differenzen,
die sich bei ihm finden, nach seinen „Haupt¬
neigungen". Das wäre nur eine rein Psycho¬
logische, eine „endopsychische" oder „endogene"
Erforschung und Gruppierung. Diese muß
ferner aber auch „psycho-sozial" sein, d. h. das
Gepräge mit berücksichtigen, das dem Menschen
von seiner „Umgebung" — diese im weitesten
Sinne gefaßt — aufgedrückt wird.

[Ende Spaltensatz]

Das Studium der Individualität. Von
dem weit verzweigten Arbeitsgebiete der
Psychologie hat das Studium der Indivi¬
dualität, die Jndividualpsychologie oder
Charakterologie, in der letzten Zeit den meisten
Anreiz für die Forscher besessen. Das be¬
weist die außerordentlich große Zahl von Ver¬
öffentlichungen, die gerade über dieses Ge¬
biet in den letzten Jahren erschienen sind.
An sich kann das gar keine Verwunderung
erregen. Denn wenn man einmal gewillt
ist, die empirischen Methoden der Psychologie
immer weitgehender anzuwenden, so führt
aus einer sehr großen Anzahl von Wissen¬
schaften, z. B. der wissenschaftlichen Pädagogik,
der Geschichte, der Literatur- und Kunstwissen¬
schaft, der Ästhetik, um nur die -am nächsten
liegenden zu nennen, ja sogar aus Medizin
und Kriminalistik, die psychologische Betrach¬
tungsweise den Forscher ganz von selbst auf
Fragen, die der Jndividualpsychologie an¬
gehören. Und umgekehrt müssen die Forschungs¬
ergebnisse, die von der Jndividualpsychologie
erzielt werden, für eben jene Wissenschaften
sehr weitgehende, praktische Bedeutung haben.
Es sei hier in erster Reihe an die praktische
Pädagogik, die Rechtspflege, die literarische
und literarhistorische sowie allgemein-ästhe¬
tische Kritik erinnert.

Der russische Psychologe Professor Dr.
A. Lasurski bietet in seinem Buche „Über das
Studium der Individualität" (Mit Programm
der Untersuchung der Persönlichkeit in ihren
Beziehungen zur Umgebung von S. Franck
und A. Lasurski. Deutsch von N. Gatt.
Verlag Otto Nemnich, Leipzig, sPäda-
gogische Monographien, herausgegeben von Dr.
E. Meumcmn), Preis geh. 6,80 Mark, geb. 7,30
Mark) einen wichtigen Beitrag zur Charakter¬
ologie, indem er verschiedene neue Gesichts¬
punkte für die Auffassung und die Anordnung
ihres Tatsachengebietes angibt.

Den Charakter faßt Lasurski auf als „die
Gesamtheit der einem gegebenen Menschen zu»
gehörigen Neigungen", und zwar hauptsächlich
der Hauptneigungen. Diesen Begriff der
„Neigung" führt Lasurski neu in die Jndi¬
vidualpsychologie ein, als das Resultat einer
Abstraktion, als einen Hilfsbegriff, der die


*) Lasurski, oder vielmehr sein Übersetzer
N. Gatt, gebraucht die Fremdworte.
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[0587] Maßgebliches und Unmaßgebliches Psychologie „Gruppierung des Materials" erleichtert. Unter der „Neigung" hat man die „Tatsache einer mehrfachen Wiederholung dieser oder jener einfachen oder komplizierten Äußerungen bei ein und demselben Subjekt zu verstehen". Die biologische Begründung und die methodi¬ schen Erörterungen, mit denen Lasurski seine „empirische Hypothese" verteidigt, kann man an dieser Stelle füglich übergehen. Eines aber muß hier betont werden: das ist der Praktische Wert dieses Neigungsbegriffes. Es wird nämlich mit seiner Hilfe möglich, der Praktischen Arbeit auf dem Gebiete der Jn¬ dividualpsychologie, etwa der des Schulmannes (Schülercharakteristiken), ein möglichst einfach formuliertes Ziel zu setzen. „Den Menschen aus seinen Neigungen zu rekonstruieren, das ist das Ziel, nach dem wir in jedem einzelnen Falle zu streben haben", das ist also das erste Ziel für die Psycho¬ logische Einzelarbeit. Für die gesamte wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiete der Jndividualpsychologie besteht nun die Aufgabe nicht nur in der Untersuchung der Verschiedenheiten der In¬ dividuen, der individuellen Differenzen und deren Beziehungen sKorrclationen zu¬ einander sowie der typischen Äußerungen dieser elementaren Charaktere, sondern auch in der Untersuchung dieser Typen und Charaktere in Beziehung auf die Wechselwirkung, die zwischen dem seelischen Aufbau (der psychischen Organi¬ sation) des Menschen und den auf ihn wirkenden Mächten (Faktoren) seiner Umgebung besteht. Die Erforschung, Einteilung und Gruppie¬ rung der Charaktere soll also nach Lasurskis Forderung nicht nur auf Grund der Psychischen Anlage der Persönlichkeit erfolgen, nach den Kombinationen der individuellen Differenzen, die sich bei ihm finden, nach seinen „Haupt¬ neigungen". Das wäre nur eine rein Psycho¬ logische, eine „endopsychische" oder „endogene" Erforschung und Gruppierung. Diese muß ferner aber auch „psycho-sozial" sein, d. h. das Gepräge mit berücksichtigen, das dem Menschen von seiner „Umgebung" — diese im weitesten Sinne gefaßt — aufgedrückt wird. Das Studium der Individualität. Von dem weit verzweigten Arbeitsgebiete der Psychologie hat das Studium der Indivi¬ dualität, die Jndividualpsychologie oder Charakterologie, in der letzten Zeit den meisten Anreiz für die Forscher besessen. Das be¬ weist die außerordentlich große Zahl von Ver¬ öffentlichungen, die gerade über dieses Ge¬ biet in den letzten Jahren erschienen sind. An sich kann das gar keine Verwunderung erregen. Denn wenn man einmal gewillt ist, die empirischen Methoden der Psychologie immer weitgehender anzuwenden, so führt aus einer sehr großen Anzahl von Wissen¬ schaften, z. B. der wissenschaftlichen Pädagogik, der Geschichte, der Literatur- und Kunstwissen¬ schaft, der Ästhetik, um nur die -am nächsten liegenden zu nennen, ja sogar aus Medizin und Kriminalistik, die psychologische Betrach¬ tungsweise den Forscher ganz von selbst auf Fragen, die der Jndividualpsychologie an¬ gehören. Und umgekehrt müssen die Forschungs¬ ergebnisse, die von der Jndividualpsychologie erzielt werden, für eben jene Wissenschaften sehr weitgehende, praktische Bedeutung haben. Es sei hier in erster Reihe an die praktische Pädagogik, die Rechtspflege, die literarische und literarhistorische sowie allgemein-ästhe¬ tische Kritik erinnert. Der russische Psychologe Professor Dr. A. Lasurski bietet in seinem Buche „Über das Studium der Individualität" (Mit Programm der Untersuchung der Persönlichkeit in ihren Beziehungen zur Umgebung von S. Franck und A. Lasurski. Deutsch von N. Gatt. Verlag Otto Nemnich, Leipzig, sPäda- gogische Monographien, herausgegeben von Dr. E. Meumcmn), Preis geh. 6,80 Mark, geb. 7,30 Mark) einen wichtigen Beitrag zur Charakter¬ ologie, indem er verschiedene neue Gesichts¬ punkte für die Auffassung und die Anordnung ihres Tatsachengebietes angibt. Den Charakter faßt Lasurski auf als „die Gesamtheit der einem gegebenen Menschen zu» gehörigen Neigungen", und zwar hauptsächlich der Hauptneigungen. Diesen Begriff der „Neigung" führt Lasurski neu in die Jndi¬ vidualpsychologie ein, als das Resultat einer Abstraktion, als einen Hilfsbegriff, der die *) Lasurski, oder vielmehr sein Übersetzer N. Gatt, gebraucht die Fremdworte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/587>, abgerufen am 29.12.2024.