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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die österreichische Balkanpolitik

le Balkankrisis der beiden letzten Jahre hat in so manchen Kreisen
in Österreich-Ungarn el" Gefühl der Enttäuschung und der Ver¬
stimmung zurückgelassen. Die Monarchie hatte eine Politik verfolgt,
die nicht geringe Anforderungen an das Land stellte und keinen
Gewinn brachte. Vielmehr erschien es als deutliches Ergebnis
der jüngsten Balkangeschichte, daß für Österreich-Ungarn die Möglichkeit weiterer
Gebietsermerbungen nun endgültig ausgeschlossen war. In militärischen und
politischen Kreisen der Monarchie hatte man aber auf den Gedanken einer
künftigen Expansion bis nach Saloniki nie ganz verzichtet, und die Politik
Aehrenthals hatte halb erloschene Hoffnungen und Wünsche wieder belebt. Nun
füllten diese Aussichten ein sür allemal zu Ende sein. Man gab sich Selbst¬
anklagen hin, daß man in der Vergangenheit günstige Gelegenheiten versäumt
hätte; und ein gewisser Teil der Verstimmung fiel wohl auch auf den deutschen
Bundesgenossen, dem man Schuld gab, die österreichische Expansionspolitik nicht
unterstützt oder sie zurückgehalten zu habe", als es noch Zeit gewesen wäre, zu
handeln.

Solche Stimmungen in dem befreundeten und verbündeten Nachbarlande
können uns nicht gleichgültig lassen, und die Frage der österreichischen Balkan¬
politik hat daher für uns im Deutschen Reich mehr als ein bloß geschichtliches oder
akademisches Interesse, Es ist der Mühe wert, zu untersuchen, wieweit jene
Verstimmung in Österreich-Ungarn sachlich berechtigt ist, wieweit überhaupt die
Möglichkeit einer erfolgreichen Expansionspolitik bestanden, und aus welchen
Gründen eine Regierung nach der anderen sich gegen eine solche Politik ent¬
schieden hat. Denn Graf Berchtold hat im letzten November in den Delegationen
nachdrücklich betont, die Monarchie habe mit der Erwerbung Bosniens und der
Herzegowina die österreichische Expansion am Balkan als abgeschlossen betrachtet.
Ein Abgehen von diesem Standpunkt, den schon Graf Aehrenthal klar heraus¬
stellte, hätte weder den wohlerwogenen Interessen der Monarchie, noch dem von:
Grafen Berchtold stets betonten Grundsatz der Kontinuität entsprochen. Weiter
erwiderte Graf Berchtold den Kritikern der Regiernngspolitik, die das Aufgeben




Die österreichische Balkanpolitik

le Balkankrisis der beiden letzten Jahre hat in so manchen Kreisen
in Österreich-Ungarn el» Gefühl der Enttäuschung und der Ver¬
stimmung zurückgelassen. Die Monarchie hatte eine Politik verfolgt,
die nicht geringe Anforderungen an das Land stellte und keinen
Gewinn brachte. Vielmehr erschien es als deutliches Ergebnis
der jüngsten Balkangeschichte, daß für Österreich-Ungarn die Möglichkeit weiterer
Gebietsermerbungen nun endgültig ausgeschlossen war. In militärischen und
politischen Kreisen der Monarchie hatte man aber auf den Gedanken einer
künftigen Expansion bis nach Saloniki nie ganz verzichtet, und die Politik
Aehrenthals hatte halb erloschene Hoffnungen und Wünsche wieder belebt. Nun
füllten diese Aussichten ein sür allemal zu Ende sein. Man gab sich Selbst¬
anklagen hin, daß man in der Vergangenheit günstige Gelegenheiten versäumt
hätte; und ein gewisser Teil der Verstimmung fiel wohl auch auf den deutschen
Bundesgenossen, dem man Schuld gab, die österreichische Expansionspolitik nicht
unterstützt oder sie zurückgehalten zu habe», als es noch Zeit gewesen wäre, zu
handeln.

Solche Stimmungen in dem befreundeten und verbündeten Nachbarlande
können uns nicht gleichgültig lassen, und die Frage der österreichischen Balkan¬
politik hat daher für uns im Deutschen Reich mehr als ein bloß geschichtliches oder
akademisches Interesse, Es ist der Mühe wert, zu untersuchen, wieweit jene
Verstimmung in Österreich-Ungarn sachlich berechtigt ist, wieweit überhaupt die
Möglichkeit einer erfolgreichen Expansionspolitik bestanden, und aus welchen
Gründen eine Regierung nach der anderen sich gegen eine solche Politik ent¬
schieden hat. Denn Graf Berchtold hat im letzten November in den Delegationen
nachdrücklich betont, die Monarchie habe mit der Erwerbung Bosniens und der
Herzegowina die österreichische Expansion am Balkan als abgeschlossen betrachtet.
Ein Abgehen von diesem Standpunkt, den schon Graf Aehrenthal klar heraus¬
stellte, hätte weder den wohlerwogenen Interessen der Monarchie, noch dem von:
Grafen Berchtold stets betonten Grundsatz der Kontinuität entsprochen. Weiter
erwiderte Graf Berchtold den Kritikern der Regiernngspolitik, die das Aufgeben


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[0547] [Abbildung] Die österreichische Balkanpolitik le Balkankrisis der beiden letzten Jahre hat in so manchen Kreisen in Österreich-Ungarn el» Gefühl der Enttäuschung und der Ver¬ stimmung zurückgelassen. Die Monarchie hatte eine Politik verfolgt, die nicht geringe Anforderungen an das Land stellte und keinen Gewinn brachte. Vielmehr erschien es als deutliches Ergebnis der jüngsten Balkangeschichte, daß für Österreich-Ungarn die Möglichkeit weiterer Gebietsermerbungen nun endgültig ausgeschlossen war. In militärischen und politischen Kreisen der Monarchie hatte man aber auf den Gedanken einer künftigen Expansion bis nach Saloniki nie ganz verzichtet, und die Politik Aehrenthals hatte halb erloschene Hoffnungen und Wünsche wieder belebt. Nun füllten diese Aussichten ein sür allemal zu Ende sein. Man gab sich Selbst¬ anklagen hin, daß man in der Vergangenheit günstige Gelegenheiten versäumt hätte; und ein gewisser Teil der Verstimmung fiel wohl auch auf den deutschen Bundesgenossen, dem man Schuld gab, die österreichische Expansionspolitik nicht unterstützt oder sie zurückgehalten zu habe», als es noch Zeit gewesen wäre, zu handeln. Solche Stimmungen in dem befreundeten und verbündeten Nachbarlande können uns nicht gleichgültig lassen, und die Frage der österreichischen Balkan¬ politik hat daher für uns im Deutschen Reich mehr als ein bloß geschichtliches oder akademisches Interesse, Es ist der Mühe wert, zu untersuchen, wieweit jene Verstimmung in Österreich-Ungarn sachlich berechtigt ist, wieweit überhaupt die Möglichkeit einer erfolgreichen Expansionspolitik bestanden, und aus welchen Gründen eine Regierung nach der anderen sich gegen eine solche Politik ent¬ schieden hat. Denn Graf Berchtold hat im letzten November in den Delegationen nachdrücklich betont, die Monarchie habe mit der Erwerbung Bosniens und der Herzegowina die österreichische Expansion am Balkan als abgeschlossen betrachtet. Ein Abgehen von diesem Standpunkt, den schon Graf Aehrenthal klar heraus¬ stellte, hätte weder den wohlerwogenen Interessen der Monarchie, noch dem von: Grafen Berchtold stets betonten Grundsatz der Kontinuität entsprochen. Weiter erwiderte Graf Berchtold den Kritikern der Regiernngspolitik, die das Aufgeben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/547>, abgerufen am 29.12.2024.