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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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<La Streifzug durch die neueste philosophische Literatur

Diejenigen, welche behaupten, daß unsere Willenshandlungen notwendig und
bestimmt seien, meinen damit, daß sie irgendeiner Gesetzmäßigkeit unterworfen sind.
Nun gibt es aber zwei Arten von Gesetzmäßigkeit: die Naturgesetzmäßigkeit
und die Gesetzmäßigkeit, welche aus Wahrscheinlichkeitsbestimmungen hervorgeht.
Das Untergeordnetsein unter diese letztere Gesetzmäßigkeitsart ist das charakteristische
Merkmal aller Lebensäußerungen, also auch der Willenshandlung. Wir müßten
also -- nach den Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung -- alle Umstände in
Rechnung ziehen, von denen die Willenshandlung abhängig ist, wenn wir deren
Gesetzmäßigkeit wirklich genau und bestimmt feststellen wollten. Das ist aber un¬
möglich. Denn "bei allem, was wir tun, gewinnt das, was wir früher getan
haben, von neuem Einfluß und Bedeutung; und nicht nur das, was wir selbst
getan haben und in selbst erworbenen Gewöhnungen zur Geltung kommt, sondern
auch das, was unsere Vorfahren getan haben und durch Vererbung auf uns über¬
gegangen ist. Da kommen wir in der Tat zu keinen Grenzen. Bis zu den
Anfängen alles Lebens im werdenden Kosmos, bis zu dem Urgründe alles Seins
in der schaffenden Gottheit müßten wir zurückgehen, um alle Einflüsse, die unser
Handeln bestimmen, festzustellen." So erkennen wir, daß die Bestimmtheit unseres
Handelns zwar sicherlich vorhanden, aber niemals bis in alle Einzelheiten nach¬
weisbar ist. So entsteht der Schein der Unbestimmtheit. Um diese Unbestimmtheit
zu beseitigen, nehmen wir dann naiverweise einen Willen an, der die bestimmte
Handlung herbeiführt. Dieser Wille aber ist frei, insofern er vollkommen "von
sich aus" die Entscheidung herbeiführt. Es bleibt von Interesse, sich darüber klar
zu werden, wie vom Standpunkt dieser Willenslehre aus die Frage zu beantworten
ist, ob, im Falle einer bestimmten Willenshandlung, auf Grund des vorausgesetzten
Begriffes der "Freiheit" des Willens, auch eine andere Handlung als diejenige,
welche tatsächlich erfolgt ist, möglich gewesen wäre. Das gibt dem Philosophen
erneuten Anlaß, sich mit dem uralten und erkenntnistheoretisch höchst bedeutsamen
Probleme des Möglichen auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung unternimmt
neuerdings wieder Johannes M. Verwehen: "Philosophie des Möglichen."
Grundzüge einer Erkenntniskritik (Leipzig 1913, Hirzel). Das Werk nimmt in einem
Kapitel: Das Mögliche und die Willensfreiheit zu der obenerwähnten Grundfrage
des Determinismus - Indeterminismus - Problemes Stellung.

Eine zweite Hauptströmung in der Philosophie der Gegenwart ist gekenn¬
zeichnet durch den Versuch, die Philosophie als Erfahrungswissenschaft im natur-
wissenschaftlichen Sinne des Wortes darzustellen. Man sucht durch Ausdehnung
der in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gewonnenen Grundbegriffe und Grund¬
sätze zu einer wissenschaftlichen Gesamtauffassung des Wirklichen zu gelangen. Diese
Richtung führt uns über Ernst Machs sogenannten "Positivismus" zu Wilhelm
Ostwalds "Energetik". Nach der energetischen "Weltanschauung" beruhen alle
Vorgänge in der Welt auf einer Umgestaltung der vorhandenen Rohenergie in
andere Energieformen. Diese Hypothese, deren naturwissenschaftlicher Wahrschein¬
lichkeitswert hier unerörtert bleiben soll, wird dann von der Naturwissenschaft auf
die Kulturwissenschaft übertragen. Auch alle Kultur, bis hinauf zu den höchsten
Leistungen des Genies, soll auf einer derartigen Energieumsetzung beruhen, und
zwar auf Umwandlung von Rohenergie in "Zweckformen" der Energie im besten
Güteverhältnis. Es ist in früheren Arbeiten in dieser Zeitschrift (Jahrgang 70,


<La Streifzug durch die neueste philosophische Literatur

Diejenigen, welche behaupten, daß unsere Willenshandlungen notwendig und
bestimmt seien, meinen damit, daß sie irgendeiner Gesetzmäßigkeit unterworfen sind.
Nun gibt es aber zwei Arten von Gesetzmäßigkeit: die Naturgesetzmäßigkeit
und die Gesetzmäßigkeit, welche aus Wahrscheinlichkeitsbestimmungen hervorgeht.
Das Untergeordnetsein unter diese letztere Gesetzmäßigkeitsart ist das charakteristische
Merkmal aller Lebensäußerungen, also auch der Willenshandlung. Wir müßten
also — nach den Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung — alle Umstände in
Rechnung ziehen, von denen die Willenshandlung abhängig ist, wenn wir deren
Gesetzmäßigkeit wirklich genau und bestimmt feststellen wollten. Das ist aber un¬
möglich. Denn „bei allem, was wir tun, gewinnt das, was wir früher getan
haben, von neuem Einfluß und Bedeutung; und nicht nur das, was wir selbst
getan haben und in selbst erworbenen Gewöhnungen zur Geltung kommt, sondern
auch das, was unsere Vorfahren getan haben und durch Vererbung auf uns über¬
gegangen ist. Da kommen wir in der Tat zu keinen Grenzen. Bis zu den
Anfängen alles Lebens im werdenden Kosmos, bis zu dem Urgründe alles Seins
in der schaffenden Gottheit müßten wir zurückgehen, um alle Einflüsse, die unser
Handeln bestimmen, festzustellen." So erkennen wir, daß die Bestimmtheit unseres
Handelns zwar sicherlich vorhanden, aber niemals bis in alle Einzelheiten nach¬
weisbar ist. So entsteht der Schein der Unbestimmtheit. Um diese Unbestimmtheit
zu beseitigen, nehmen wir dann naiverweise einen Willen an, der die bestimmte
Handlung herbeiführt. Dieser Wille aber ist frei, insofern er vollkommen „von
sich aus" die Entscheidung herbeiführt. Es bleibt von Interesse, sich darüber klar
zu werden, wie vom Standpunkt dieser Willenslehre aus die Frage zu beantworten
ist, ob, im Falle einer bestimmten Willenshandlung, auf Grund des vorausgesetzten
Begriffes der „Freiheit" des Willens, auch eine andere Handlung als diejenige,
welche tatsächlich erfolgt ist, möglich gewesen wäre. Das gibt dem Philosophen
erneuten Anlaß, sich mit dem uralten und erkenntnistheoretisch höchst bedeutsamen
Probleme des Möglichen auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung unternimmt
neuerdings wieder Johannes M. Verwehen: „Philosophie des Möglichen."
Grundzüge einer Erkenntniskritik (Leipzig 1913, Hirzel). Das Werk nimmt in einem
Kapitel: Das Mögliche und die Willensfreiheit zu der obenerwähnten Grundfrage
des Determinismus - Indeterminismus - Problemes Stellung.

Eine zweite Hauptströmung in der Philosophie der Gegenwart ist gekenn¬
zeichnet durch den Versuch, die Philosophie als Erfahrungswissenschaft im natur-
wissenschaftlichen Sinne des Wortes darzustellen. Man sucht durch Ausdehnung
der in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gewonnenen Grundbegriffe und Grund¬
sätze zu einer wissenschaftlichen Gesamtauffassung des Wirklichen zu gelangen. Diese
Richtung führt uns über Ernst Machs sogenannten „Positivismus" zu Wilhelm
Ostwalds „Energetik". Nach der energetischen „Weltanschauung" beruhen alle
Vorgänge in der Welt auf einer Umgestaltung der vorhandenen Rohenergie in
andere Energieformen. Diese Hypothese, deren naturwissenschaftlicher Wahrschein¬
lichkeitswert hier unerörtert bleiben soll, wird dann von der Naturwissenschaft auf
die Kulturwissenschaft übertragen. Auch alle Kultur, bis hinauf zu den höchsten
Leistungen des Genies, soll auf einer derartigen Energieumsetzung beruhen, und
zwar auf Umwandlung von Rohenergie in „Zweckformen" der Energie im besten
Güteverhältnis. Es ist in früheren Arbeiten in dieser Zeitschrift (Jahrgang 70,


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[0458] <La Streifzug durch die neueste philosophische Literatur Diejenigen, welche behaupten, daß unsere Willenshandlungen notwendig und bestimmt seien, meinen damit, daß sie irgendeiner Gesetzmäßigkeit unterworfen sind. Nun gibt es aber zwei Arten von Gesetzmäßigkeit: die Naturgesetzmäßigkeit und die Gesetzmäßigkeit, welche aus Wahrscheinlichkeitsbestimmungen hervorgeht. Das Untergeordnetsein unter diese letztere Gesetzmäßigkeitsart ist das charakteristische Merkmal aller Lebensäußerungen, also auch der Willenshandlung. Wir müßten also — nach den Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung — alle Umstände in Rechnung ziehen, von denen die Willenshandlung abhängig ist, wenn wir deren Gesetzmäßigkeit wirklich genau und bestimmt feststellen wollten. Das ist aber un¬ möglich. Denn „bei allem, was wir tun, gewinnt das, was wir früher getan haben, von neuem Einfluß und Bedeutung; und nicht nur das, was wir selbst getan haben und in selbst erworbenen Gewöhnungen zur Geltung kommt, sondern auch das, was unsere Vorfahren getan haben und durch Vererbung auf uns über¬ gegangen ist. Da kommen wir in der Tat zu keinen Grenzen. Bis zu den Anfängen alles Lebens im werdenden Kosmos, bis zu dem Urgründe alles Seins in der schaffenden Gottheit müßten wir zurückgehen, um alle Einflüsse, die unser Handeln bestimmen, festzustellen." So erkennen wir, daß die Bestimmtheit unseres Handelns zwar sicherlich vorhanden, aber niemals bis in alle Einzelheiten nach¬ weisbar ist. So entsteht der Schein der Unbestimmtheit. Um diese Unbestimmtheit zu beseitigen, nehmen wir dann naiverweise einen Willen an, der die bestimmte Handlung herbeiführt. Dieser Wille aber ist frei, insofern er vollkommen „von sich aus" die Entscheidung herbeiführt. Es bleibt von Interesse, sich darüber klar zu werden, wie vom Standpunkt dieser Willenslehre aus die Frage zu beantworten ist, ob, im Falle einer bestimmten Willenshandlung, auf Grund des vorausgesetzten Begriffes der „Freiheit" des Willens, auch eine andere Handlung als diejenige, welche tatsächlich erfolgt ist, möglich gewesen wäre. Das gibt dem Philosophen erneuten Anlaß, sich mit dem uralten und erkenntnistheoretisch höchst bedeutsamen Probleme des Möglichen auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung unternimmt neuerdings wieder Johannes M. Verwehen: „Philosophie des Möglichen." Grundzüge einer Erkenntniskritik (Leipzig 1913, Hirzel). Das Werk nimmt in einem Kapitel: Das Mögliche und die Willensfreiheit zu der obenerwähnten Grundfrage des Determinismus - Indeterminismus - Problemes Stellung. Eine zweite Hauptströmung in der Philosophie der Gegenwart ist gekenn¬ zeichnet durch den Versuch, die Philosophie als Erfahrungswissenschaft im natur- wissenschaftlichen Sinne des Wortes darzustellen. Man sucht durch Ausdehnung der in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gewonnenen Grundbegriffe und Grund¬ sätze zu einer wissenschaftlichen Gesamtauffassung des Wirklichen zu gelangen. Diese Richtung führt uns über Ernst Machs sogenannten „Positivismus" zu Wilhelm Ostwalds „Energetik". Nach der energetischen „Weltanschauung" beruhen alle Vorgänge in der Welt auf einer Umgestaltung der vorhandenen Rohenergie in andere Energieformen. Diese Hypothese, deren naturwissenschaftlicher Wahrschein¬ lichkeitswert hier unerörtert bleiben soll, wird dann von der Naturwissenschaft auf die Kulturwissenschaft übertragen. Auch alle Kultur, bis hinauf zu den höchsten Leistungen des Genies, soll auf einer derartigen Energieumsetzung beruhen, und zwar auf Umwandlung von Rohenergie in „Zweckformen" der Energie im besten Güteverhältnis. Es ist in früheren Arbeiten in dieser Zeitschrift (Jahrgang 70,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/458>, abgerufen am 29.12.2024.