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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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statten. Diese Formgebung ist mindestens
ebensosehr Sache der Kunst wie der Wissen¬
schaft. Wenn diese darauf ausgehen wird,
die Ideen als die höchste Form der Bindung
singulärer Ereignisreihen in der Einheit des
Blickes, in Größe des Horizonts, in unbedingt
organischer Auffassung des Gegenstandes auf¬
zufinden, so ist die Bezwingung des unend¬
lich reichen Lebens der Gegenwart in dar¬
stellender Gesamtform Sache der Kunst.

Das Buch soll die großen bewegenden
Gedanken der Zeit auf allen Gebieten der
Kultur aufzeigen, indem es die Geschehnisse
und Forschungsergebnisse des Jahres in ihrem
Einfluß auf die Gestaltung der Gesamtkultur
charakterisiert. Mit berechtigtem Stolz sagt
der Herausgeber, daß die für dies Unter¬
nehmen gewonnenen führenden Geister die
volle Gewähr für die Erreichung dieses Zieles
bieten.

In achtzehn Abschnitten mit fünfundsechzig
einzelnen Aufsätzen wird das Leben der Gegen¬
wart dargestellt. Die Klarheit und knappe
Rundung der Einzelbilder ist borzüglich für
Stunden der Muße und Beschaulichkeit ge¬
eignet; es ist ein Vergnügen, sich so auf den
eigenen oder benachbarten Gebieten zu orien¬
tieren oder auch aus fernerliegenden Lebens¬
kreisen die für unsere Kulturentwicklung be¬
stimmenden Momente herausgehoben zu
finden.

Das Werk ist von einer nahezu lücken¬
losen Vollständigkeit. Für das fehlende Völker¬
recht wird eine übersichtliche Darstellung erst
für den folgenden Jahrgang in Aussicht ge¬
stellt, ebenso für den bergbaulichen Betrieb.
Weshalb die Chirurgie nicht behandelt ist,
vermöchte ich allerdings nicht anzugeben,
beim Forstwesen ist das ja eher begreiflich.
Aber das Buchwesen und der Buchhandel
könnte Wohl ein andermal eine Darstellung
finden. Der lebhafte Anteil des Judentums
an der geistigen Bewegung tritt mehrfach
hervor. Sollte sich da nicht auch eine Sonder¬
behandlung empfehlen? Sie würde der ge¬
sonderten Stellung in etwas entsprechen und
würde Wohl zeigen können, wie die Führer
dort energisch aus dem europäischen Kreise
herausstreben. Das Fehlen einer gesonderten
Darstellung des Katholizismus etwa aus der
Feder eines Martin Faßbender berührt im

[Spaltenumbruch]

Kapitel Religion eigentümlich, während doch
eine Politik "von" Standpunkte des Zentrums"
nicht fehlt. Ebenso hat man das Fehlen einer
Darstellung des religiösen Lebens der Gegen¬
wart vom rein orthodoxen Standpunkte des
Protestantismus bemängelt. Man wird sich
aber doch Wohl mit diesen Beschränkungen
abfinden müssen, wenn man wie der Heraus¬
geber vollen Ernst macht mit der Anschauung,
daß eine von absoluten Werten ausgehende
Geschichtsauffassung unmöglich zu einer orga¬
nischen Anschauung des Gesmntvcrlaufs wird
Vordringen können. Das liegt an der Vor-
aussetzungslosigkeit der Wissenschaft.

Einen in dem vorliegenden Bande er¬
schienenen Aufsatz von C. F. Lehmann-Haupt
über "den alten Orient und seine Beziehungen
zum Westen" veröffentlichten die Grenzboten
in Heft 46 des Jahrgangs 1913.

Hermann Schnrig
Mathematik und Naturwissenschaften
B.Branford: "Betrachtungen über mathe¬

matische Erziehung."

Aus dem Englischen
übersetzt von R. Schimmack und H. Weinreich.
(B. G. Teubner, Leipzig und Berlin; 1913,
403 S. Gebunden 7 M.)

Brandfort ist ein kundiger Praktiker. In
seinem Buche legt er Beobachtungen und Er¬
fahrungen über mathematischen Unterricht
nieder, den er 2V Jahre lang in England an
Schule und Universität erteilte. Kein Allheil¬
mittel oder starre Vorschriften will er geben,
sondern Anregungen für einen wirklich gedeih¬
lichen Unterricht. In erster Linie zielt er
auf die Behandlung der Geometrie hin. Den
meisten Nutzen werden die Anfänger im Lehr¬
amte von den Ausführungen haben. Wer
selbst einige Zeit in diesem Fache unterrichtet
hat, findet vieles vor, was er längst selbst
als methodisch wertvoll erkannt hat und täglich
bei seinem Unterrichte verwendet. Ganz alte
pädagogische Wahrheiten sind oft zu dick unter¬
strichen, z. B.: "Es scheint mir ein ganz falsches
Verfahren -- in der Geometrie wie auch in
anderen Fächern -- zu sein, wenn man dem
Kinde fertig gemachte Erklärungen vermitteln
will, die nach mehr oder weniger sorgfältiger
Erläuterung auswendig gelernt werdenmüssen."
(S. 9,> Ferner: "Mir Persönlich ist es oft

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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statten. Diese Formgebung ist mindestens
ebensosehr Sache der Kunst wie der Wissen¬
schaft. Wenn diese darauf ausgehen wird,
die Ideen als die höchste Form der Bindung
singulärer Ereignisreihen in der Einheit des
Blickes, in Größe des Horizonts, in unbedingt
organischer Auffassung des Gegenstandes auf¬
zufinden, so ist die Bezwingung des unend¬
lich reichen Lebens der Gegenwart in dar¬
stellender Gesamtform Sache der Kunst.

Das Buch soll die großen bewegenden
Gedanken der Zeit auf allen Gebieten der
Kultur aufzeigen, indem es die Geschehnisse
und Forschungsergebnisse des Jahres in ihrem
Einfluß auf die Gestaltung der Gesamtkultur
charakterisiert. Mit berechtigtem Stolz sagt
der Herausgeber, daß die für dies Unter¬
nehmen gewonnenen führenden Geister die
volle Gewähr für die Erreichung dieses Zieles
bieten.

In achtzehn Abschnitten mit fünfundsechzig
einzelnen Aufsätzen wird das Leben der Gegen¬
wart dargestellt. Die Klarheit und knappe
Rundung der Einzelbilder ist borzüglich für
Stunden der Muße und Beschaulichkeit ge¬
eignet; es ist ein Vergnügen, sich so auf den
eigenen oder benachbarten Gebieten zu orien¬
tieren oder auch aus fernerliegenden Lebens¬
kreisen die für unsere Kulturentwicklung be¬
stimmenden Momente herausgehoben zu
finden.

Das Werk ist von einer nahezu lücken¬
losen Vollständigkeit. Für das fehlende Völker¬
recht wird eine übersichtliche Darstellung erst
für den folgenden Jahrgang in Aussicht ge¬
stellt, ebenso für den bergbaulichen Betrieb.
Weshalb die Chirurgie nicht behandelt ist,
vermöchte ich allerdings nicht anzugeben,
beim Forstwesen ist das ja eher begreiflich.
Aber das Buchwesen und der Buchhandel
könnte Wohl ein andermal eine Darstellung
finden. Der lebhafte Anteil des Judentums
an der geistigen Bewegung tritt mehrfach
hervor. Sollte sich da nicht auch eine Sonder¬
behandlung empfehlen? Sie würde der ge¬
sonderten Stellung in etwas entsprechen und
würde Wohl zeigen können, wie die Führer
dort energisch aus dem europäischen Kreise
herausstreben. Das Fehlen einer gesonderten
Darstellung des Katholizismus etwa aus der
Feder eines Martin Faßbender berührt im

[Spaltenumbruch]

Kapitel Religion eigentümlich, während doch
eine Politik „von» Standpunkte des Zentrums"
nicht fehlt. Ebenso hat man das Fehlen einer
Darstellung des religiösen Lebens der Gegen¬
wart vom rein orthodoxen Standpunkte des
Protestantismus bemängelt. Man wird sich
aber doch Wohl mit diesen Beschränkungen
abfinden müssen, wenn man wie der Heraus¬
geber vollen Ernst macht mit der Anschauung,
daß eine von absoluten Werten ausgehende
Geschichtsauffassung unmöglich zu einer orga¬
nischen Anschauung des Gesmntvcrlaufs wird
Vordringen können. Das liegt an der Vor-
aussetzungslosigkeit der Wissenschaft.

Einen in dem vorliegenden Bande er¬
schienenen Aufsatz von C. F. Lehmann-Haupt
über „den alten Orient und seine Beziehungen
zum Westen" veröffentlichten die Grenzboten
in Heft 46 des Jahrgangs 1913.

Hermann Schnrig
Mathematik und Naturwissenschaften
B.Branford: „Betrachtungen über mathe¬

matische Erziehung."

Aus dem Englischen
übersetzt von R. Schimmack und H. Weinreich.
(B. G. Teubner, Leipzig und Berlin; 1913,
403 S. Gebunden 7 M.)

Brandfort ist ein kundiger Praktiker. In
seinem Buche legt er Beobachtungen und Er¬
fahrungen über mathematischen Unterricht
nieder, den er 2V Jahre lang in England an
Schule und Universität erteilte. Kein Allheil¬
mittel oder starre Vorschriften will er geben,
sondern Anregungen für einen wirklich gedeih¬
lichen Unterricht. In erster Linie zielt er
auf die Behandlung der Geometrie hin. Den
meisten Nutzen werden die Anfänger im Lehr¬
amte von den Ausführungen haben. Wer
selbst einige Zeit in diesem Fache unterrichtet
hat, findet vieles vor, was er längst selbst
als methodisch wertvoll erkannt hat und täglich
bei seinem Unterrichte verwendet. Ganz alte
pädagogische Wahrheiten sind oft zu dick unter¬
strichen, z. B.: „Es scheint mir ein ganz falsches
Verfahren — in der Geometrie wie auch in
anderen Fächern — zu sein, wenn man dem
Kinde fertig gemachte Erklärungen vermitteln
will, die nach mehr oder weniger sorgfältiger
Erläuterung auswendig gelernt werdenmüssen."
(S. 9,> Ferner: „Mir Persönlich ist es oft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/200>, abgerufen am 29.12.2024.