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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches unUnmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Zur Erinnerung

I. G. Fichte, 1 27. Januar 1814.
Wie die Menschen, erstaunlich genug, ihre
so verschiedenen Sprachen bis in sehr
feine Regungen des geistigen Lebens ver¬
stehen, so sprechen noch leichter manche
Charakterzüge oder Taten an, wenn sie auch
wie in einem fremden Dialekt reden. Un¬
gefähr kosmopolitische Sympathien erregt die
kraftvolle und opferbereite Persönlichkeit. Sinkt
sie ins Grab, so gilt von ihr die Formel des
Perikles: außerordentlicher Männer Grabmal
ist die ganze Erde. Fichte ist dem landläufigen
Bewußtsein Wohl meist der Verfasser der
Reden an die deutsche Nation (1807/3) und
der Philosoph, der gesagt hat: "was für eine
Philosophie man wähle, hängt davon ab, was
für ein Mensch man ist. Denn ein Philo¬
sophisches System ist nicht ein toter Hausrat,
den man ablegen oder annehmen könnte, wie
es beliebt. Sondern es ist beseelt durch die
Seele des Menschen, der es hat. Ein von
Natur schlaffer oder durch Geistesknechtschaft,
gelehrten Luxus und Eitelkeit erschlaffter und
gekrümmter Charakter wird sich nie zum Idea¬
lismus erheben." Von seiner Philosophie,
also wesentlich der mehreren Häutungen unter¬
worfenen "Wissenschnftslehre", die Schopen¬
hauers Galle stark erregte, handeln die be¬
rufsmäßigen Geschichtschreiber. In dus Fühlen
und Denken unserer Tage sind Wohl nur
Fichtes sozialistische Ansichten übergegangen.
Von solchen kann man reden, da erz. B. meinte,
der Stand solle die Armut unmöglich machen
und allen Bürgern Arbeit und Absatz gewähr¬
leisten. Die Möglichkeit, sein leibliches Dasein
selbst zu erhalten, sei ein Urrecht der Person.
Es darf im Staate keinen geben, der nicht
von seiner Arbeit lebt und leben kann, keinen
Notleidenden, aber auch leinen Müßiggänger.
Mithin muß der Staat das Recht haben, die

[Spaltenumbruch]

Tätigkeit des einzelnen zu beaufsichtigen, um
den Müßiggang zu verhindern, und die Macht
(durch Regale u.a.in.), Unterstützungsanstalten
zu gründen, um den Armen zu helfen. Denn
der Arme hat ein absolutes Zwangsrecht auf
Unterstützung. Zu den Bedingungen des
freien Handelns gehört, daß alle Eigentümer
sind. Jeder Mensch soll also Eigentum haben.
Soll der Staat auch jedem das Recht sichern,
von seiner Arbeit leben zu können, so schließt
doch Fichte die Gewerbefreiheit (wie auch den
Freihandel) aus.

Indessen scheinen uns das Fäden, die im
Gewebe der Zeit auch ohne Fichte erschienen
wären. Glaubte er, sich im Denken über
den Staat orientieren zu müssen, so wird
man in jenen Betrachtungen wohl daneben
den Pulsschlag eigener Erfahrungen spüren,
ein Echo der Gefühle hören, die er in langen
bösen Tagen an sich selbst kennen gelernt hatte.
Es ging ihm oft so, wie Lessing einmal von
sich sagt: "Ich stand am Markte, niemand
wollte mich dingen, ohne Zweifel, weil mich
niemand zu brauchen wußte usw." Der be¬
klemmende Dunst der Dürftigkeit umgab
Fichte und seine sieben Geschwister nicht nur
in demi elterlichen Hause des armen Leine¬
webers in Ramenau, einem Dorfe der Ober-
lnusitz, sondern haftete wie ein zäher Nebel
an ihni aus seinen Irrfahrten. Diese brachten
ihn, nachdem er 1780 in Jena Student der
Theologie geworden war, als Hauslehrer von
1784 bis 1791 auch in die Schweiz, ja bis
nach Warschau, wo er das einzige Mal (über
die Einsetzung des Abendmahls) predigte
Noch 1790, also achtundzwanzig Jahre alt,
war er, wie er einem Freunde aus Leipzig
schrieb, von einem Tage zum anderen um
Brot verlegen; aber dennoch damals --
vielleicht einer der glücklichsten Menschen auf
dem weiten Rund der Erde. Warum? Weil
er die Kantische Philosophie studierte, in der

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Maßgebliches unUnmaßgebliches

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Zur Erinnerung

I. G. Fichte, 1 27. Januar 1814.
Wie die Menschen, erstaunlich genug, ihre
so verschiedenen Sprachen bis in sehr
feine Regungen des geistigen Lebens ver¬
stehen, so sprechen noch leichter manche
Charakterzüge oder Taten an, wenn sie auch
wie in einem fremden Dialekt reden. Un¬
gefähr kosmopolitische Sympathien erregt die
kraftvolle und opferbereite Persönlichkeit. Sinkt
sie ins Grab, so gilt von ihr die Formel des
Perikles: außerordentlicher Männer Grabmal
ist die ganze Erde. Fichte ist dem landläufigen
Bewußtsein Wohl meist der Verfasser der
Reden an die deutsche Nation (1807/3) und
der Philosoph, der gesagt hat: „was für eine
Philosophie man wähle, hängt davon ab, was
für ein Mensch man ist. Denn ein Philo¬
sophisches System ist nicht ein toter Hausrat,
den man ablegen oder annehmen könnte, wie
es beliebt. Sondern es ist beseelt durch die
Seele des Menschen, der es hat. Ein von
Natur schlaffer oder durch Geistesknechtschaft,
gelehrten Luxus und Eitelkeit erschlaffter und
gekrümmter Charakter wird sich nie zum Idea¬
lismus erheben." Von seiner Philosophie,
also wesentlich der mehreren Häutungen unter¬
worfenen „Wissenschnftslehre", die Schopen¬
hauers Galle stark erregte, handeln die be¬
rufsmäßigen Geschichtschreiber. In dus Fühlen
und Denken unserer Tage sind Wohl nur
Fichtes sozialistische Ansichten übergegangen.
Von solchen kann man reden, da erz. B. meinte,
der Stand solle die Armut unmöglich machen
und allen Bürgern Arbeit und Absatz gewähr¬
leisten. Die Möglichkeit, sein leibliches Dasein
selbst zu erhalten, sei ein Urrecht der Person.
Es darf im Staate keinen geben, der nicht
von seiner Arbeit lebt und leben kann, keinen
Notleidenden, aber auch leinen Müßiggänger.
Mithin muß der Staat das Recht haben, die

[Spaltenumbruch]

Tätigkeit des einzelnen zu beaufsichtigen, um
den Müßiggang zu verhindern, und die Macht
(durch Regale u.a.in.), Unterstützungsanstalten
zu gründen, um den Armen zu helfen. Denn
der Arme hat ein absolutes Zwangsrecht auf
Unterstützung. Zu den Bedingungen des
freien Handelns gehört, daß alle Eigentümer
sind. Jeder Mensch soll also Eigentum haben.
Soll der Staat auch jedem das Recht sichern,
von seiner Arbeit leben zu können, so schließt
doch Fichte die Gewerbefreiheit (wie auch den
Freihandel) aus.

Indessen scheinen uns das Fäden, die im
Gewebe der Zeit auch ohne Fichte erschienen
wären. Glaubte er, sich im Denken über
den Staat orientieren zu müssen, so wird
man in jenen Betrachtungen wohl daneben
den Pulsschlag eigener Erfahrungen spüren,
ein Echo der Gefühle hören, die er in langen
bösen Tagen an sich selbst kennen gelernt hatte.
Es ging ihm oft so, wie Lessing einmal von
sich sagt: „Ich stand am Markte, niemand
wollte mich dingen, ohne Zweifel, weil mich
niemand zu brauchen wußte usw." Der be¬
klemmende Dunst der Dürftigkeit umgab
Fichte und seine sieben Geschwister nicht nur
in demi elterlichen Hause des armen Leine¬
webers in Ramenau, einem Dorfe der Ober-
lnusitz, sondern haftete wie ein zäher Nebel
an ihni aus seinen Irrfahrten. Diese brachten
ihn, nachdem er 1780 in Jena Student der
Theologie geworden war, als Hauslehrer von
1784 bis 1791 auch in die Schweiz, ja bis
nach Warschau, wo er das einzige Mal (über
die Einsetzung des Abendmahls) predigte
Noch 1790, also achtundzwanzig Jahre alt,
war er, wie er einem Freunde aus Leipzig
schrieb, von einem Tage zum anderen um
Brot verlegen; aber dennoch damals —
vielleicht einer der glücklichsten Menschen auf
dem weiten Rund der Erde. Warum? Weil
er die Kantische Philosophie studierte, in der

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[0150] [Abbildung] Maßgebliches unUnmaßgebliches Zur Erinnerung I. G. Fichte, 1 27. Januar 1814. Wie die Menschen, erstaunlich genug, ihre so verschiedenen Sprachen bis in sehr feine Regungen des geistigen Lebens ver¬ stehen, so sprechen noch leichter manche Charakterzüge oder Taten an, wenn sie auch wie in einem fremden Dialekt reden. Un¬ gefähr kosmopolitische Sympathien erregt die kraftvolle und opferbereite Persönlichkeit. Sinkt sie ins Grab, so gilt von ihr die Formel des Perikles: außerordentlicher Männer Grabmal ist die ganze Erde. Fichte ist dem landläufigen Bewußtsein Wohl meist der Verfasser der Reden an die deutsche Nation (1807/3) und der Philosoph, der gesagt hat: „was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist. Denn ein Philo¬ sophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es beliebt. Sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat. Ein von Natur schlaffer oder durch Geistesknechtschaft, gelehrten Luxus und Eitelkeit erschlaffter und gekrümmter Charakter wird sich nie zum Idea¬ lismus erheben." Von seiner Philosophie, also wesentlich der mehreren Häutungen unter¬ worfenen „Wissenschnftslehre", die Schopen¬ hauers Galle stark erregte, handeln die be¬ rufsmäßigen Geschichtschreiber. In dus Fühlen und Denken unserer Tage sind Wohl nur Fichtes sozialistische Ansichten übergegangen. Von solchen kann man reden, da erz. B. meinte, der Stand solle die Armut unmöglich machen und allen Bürgern Arbeit und Absatz gewähr¬ leisten. Die Möglichkeit, sein leibliches Dasein selbst zu erhalten, sei ein Urrecht der Person. Es darf im Staate keinen geben, der nicht von seiner Arbeit lebt und leben kann, keinen Notleidenden, aber auch leinen Müßiggänger. Mithin muß der Staat das Recht haben, die Tätigkeit des einzelnen zu beaufsichtigen, um den Müßiggang zu verhindern, und die Macht (durch Regale u.a.in.), Unterstützungsanstalten zu gründen, um den Armen zu helfen. Denn der Arme hat ein absolutes Zwangsrecht auf Unterstützung. Zu den Bedingungen des freien Handelns gehört, daß alle Eigentümer sind. Jeder Mensch soll also Eigentum haben. Soll der Staat auch jedem das Recht sichern, von seiner Arbeit leben zu können, so schließt doch Fichte die Gewerbefreiheit (wie auch den Freihandel) aus. Indessen scheinen uns das Fäden, die im Gewebe der Zeit auch ohne Fichte erschienen wären. Glaubte er, sich im Denken über den Staat orientieren zu müssen, so wird man in jenen Betrachtungen wohl daneben den Pulsschlag eigener Erfahrungen spüren, ein Echo der Gefühle hören, die er in langen bösen Tagen an sich selbst kennen gelernt hatte. Es ging ihm oft so, wie Lessing einmal von sich sagt: „Ich stand am Markte, niemand wollte mich dingen, ohne Zweifel, weil mich niemand zu brauchen wußte usw." Der be¬ klemmende Dunst der Dürftigkeit umgab Fichte und seine sieben Geschwister nicht nur in demi elterlichen Hause des armen Leine¬ webers in Ramenau, einem Dorfe der Ober- lnusitz, sondern haftete wie ein zäher Nebel an ihni aus seinen Irrfahrten. Diese brachten ihn, nachdem er 1780 in Jena Student der Theologie geworden war, als Hauslehrer von 1784 bis 1791 auch in die Schweiz, ja bis nach Warschau, wo er das einzige Mal (über die Einsetzung des Abendmahls) predigte Noch 1790, also achtundzwanzig Jahre alt, war er, wie er einem Freunde aus Leipzig schrieb, von einem Tage zum anderen um Brot verlegen; aber dennoch damals — vielleicht einer der glücklichsten Menschen auf dem weiten Rund der Erde. Warum? Weil er die Kantische Philosophie studierte, in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/150>, abgerufen am 29.12.2024.