Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Reichsspicgel

schon seit Jahren nicht mehr herausgekommen ist. Und da dies Bild sür uns
Deutsche nicht unerfreulich ist, so erweist sich Herrn von Bethmanns Optimismus
als begründet.

Der Kurs der Dreibundpolitik hat sich auch während der letzten Krise be¬
währt. Solches beginnt man auch in Österreich-Ungarn einzusehen, wo Gras
Berchthold in der ungarischen Delegation und nach ihm der ungarische Minister¬
präsident Graf Tisza die Haltung der Habsburgischen Doppelmonarchie vor
und während der beiden Balkankriege besprochen haben. Nichtsdestoweniger sind
genug Kräfte an der Arbeit, die besonders die deutsche Freundschaft mit Öster¬
reich zu trüben wünschen und während von Frankreich her liebliche Locktöne
nach der Donaumonarchie gerichtet sind, klingen aus Rußland ebenso lockende
Stimmen zu uns hinüber. Wir wollen solche Stimmungen, die jederzeit bei
verschiedenen Publizisten und Politikern vorhanden waren und vorhanden sein
werden, zwar nicht unbeachtet lassen, aber doch nicht allzu hoch bewerten. Die
praktische Politik beruht nicht auf Zeitungsartikeln, sondern auf den realen Tat¬
sachen, die die Entwicklung der voranstrebenden Völker täglich neu schafft. Aber
die Entwicklung geht allen Fortschrittstheorien zum Trotz nur sehr langsam aus
einem System ins andere über und so müssen die bestehenden Tatsachen solange
als solche hingenommen und in die politischen Rechenexempel eingesetzt werden,
bis sie von selbst verschwinden. Eine solche Tatsache ist die alte Zuneigung
des russischen Volkes zum französischen, die andere ist die Interessengemeinschaft
der Dreibundmächte.

Nun soll nicht geleugnet werden, daß innerhalb der russischen Gesellschaft
eine Strömung stärker zu werden beginnt, die in der Freundschaft mit Frank¬
reich nicht mehr das letzte Wort politischer Weisheit erkennen will. Doch ist
damit praktisch noch nichts anzufangen. Die Abkühlung gegen Frankreich bedingt
noch lange keine Erwärmung für Deutschland. Sie hat zwei Quellen: das
erwachende Selbstgefühl bei den Russen, seit sie sich als Angehörige eines kon¬
stitutionell regierten Staates fühlen, in dem mit den französischen politischen
Theorien herzlich wenig anzufangen ist, und ferner aus dem neu auflebenden
Panslawismus, der aus der Feindschaft gegen Österreich-Ungarn Kräfte schöpft.
Es wird von Russen offen ausgesprochen, daß nun die Zeit herannahe, in der
das Deutsche Reich sich mit Rußlands Hilfe die unter der Krone Habsburg
verbliebenen Deutschen werde angliedern können, während "sich die slawischen
Bäche in das russische Meer ergießen", wie Puschkin 1830 während des pol¬
nischen Aufstandes prophetisch dichtete. Der Ehrgeiz des Erzherzog-Thronfolgers
werde den Stein ins Rollen bringen. Die Russen, die so denken, verfahren
ganz logisch aus ihrem erst seit 1905 erwachenden Nationalgefühl. Sie, die
vor dem Oktobermanifest nur zu leicht von der Höhe ihrer Menschheitsideale
auf unseren deutschen Nationalstolz mit Verachtung herabsahen, beginnen zu
empfinden, welche Kraft in der freien Betätigung nationaler Eigenart enthalten
ist, und expansiv, wie sie einmal geartet, schreiten sie zur Offensive, ohne zu


Reichsspicgel

schon seit Jahren nicht mehr herausgekommen ist. Und da dies Bild sür uns
Deutsche nicht unerfreulich ist, so erweist sich Herrn von Bethmanns Optimismus
als begründet.

Der Kurs der Dreibundpolitik hat sich auch während der letzten Krise be¬
währt. Solches beginnt man auch in Österreich-Ungarn einzusehen, wo Gras
Berchthold in der ungarischen Delegation und nach ihm der ungarische Minister¬
präsident Graf Tisza die Haltung der Habsburgischen Doppelmonarchie vor
und während der beiden Balkankriege besprochen haben. Nichtsdestoweniger sind
genug Kräfte an der Arbeit, die besonders die deutsche Freundschaft mit Öster¬
reich zu trüben wünschen und während von Frankreich her liebliche Locktöne
nach der Donaumonarchie gerichtet sind, klingen aus Rußland ebenso lockende
Stimmen zu uns hinüber. Wir wollen solche Stimmungen, die jederzeit bei
verschiedenen Publizisten und Politikern vorhanden waren und vorhanden sein
werden, zwar nicht unbeachtet lassen, aber doch nicht allzu hoch bewerten. Die
praktische Politik beruht nicht auf Zeitungsartikeln, sondern auf den realen Tat¬
sachen, die die Entwicklung der voranstrebenden Völker täglich neu schafft. Aber
die Entwicklung geht allen Fortschrittstheorien zum Trotz nur sehr langsam aus
einem System ins andere über und so müssen die bestehenden Tatsachen solange
als solche hingenommen und in die politischen Rechenexempel eingesetzt werden,
bis sie von selbst verschwinden. Eine solche Tatsache ist die alte Zuneigung
des russischen Volkes zum französischen, die andere ist die Interessengemeinschaft
der Dreibundmächte.

Nun soll nicht geleugnet werden, daß innerhalb der russischen Gesellschaft
eine Strömung stärker zu werden beginnt, die in der Freundschaft mit Frank¬
reich nicht mehr das letzte Wort politischer Weisheit erkennen will. Doch ist
damit praktisch noch nichts anzufangen. Die Abkühlung gegen Frankreich bedingt
noch lange keine Erwärmung für Deutschland. Sie hat zwei Quellen: das
erwachende Selbstgefühl bei den Russen, seit sie sich als Angehörige eines kon¬
stitutionell regierten Staates fühlen, in dem mit den französischen politischen
Theorien herzlich wenig anzufangen ist, und ferner aus dem neu auflebenden
Panslawismus, der aus der Feindschaft gegen Österreich-Ungarn Kräfte schöpft.
Es wird von Russen offen ausgesprochen, daß nun die Zeit herannahe, in der
das Deutsche Reich sich mit Rußlands Hilfe die unter der Krone Habsburg
verbliebenen Deutschen werde angliedern können, während „sich die slawischen
Bäche in das russische Meer ergießen", wie Puschkin 1830 während des pol¬
nischen Aufstandes prophetisch dichtete. Der Ehrgeiz des Erzherzog-Thronfolgers
werde den Stein ins Rollen bringen. Die Russen, die so denken, verfahren
ganz logisch aus ihrem erst seit 1905 erwachenden Nationalgefühl. Sie, die
vor dem Oktobermanifest nur zu leicht von der Höhe ihrer Menschheitsideale
auf unseren deutschen Nationalstolz mit Verachtung herabsahen, beginnen zu
empfinden, welche Kraft in der freien Betätigung nationaler Eigenart enthalten
ist, und expansiv, wie sie einmal geartet, schreiten sie zur Offensive, ohne zu


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0635" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327447"/>
            <fw type="header" place="top"> Reichsspicgel</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2530" prev="#ID_2529"> schon seit Jahren nicht mehr herausgekommen ist. Und da dies Bild sür uns<lb/>
Deutsche nicht unerfreulich ist, so erweist sich Herrn von Bethmanns Optimismus<lb/>
als begründet.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2531"> Der Kurs der Dreibundpolitik hat sich auch während der letzten Krise be¬<lb/>
währt. Solches beginnt man auch in Österreich-Ungarn einzusehen, wo Gras<lb/>
Berchthold in der ungarischen Delegation und nach ihm der ungarische Minister¬<lb/>
präsident Graf Tisza die Haltung der Habsburgischen Doppelmonarchie vor<lb/>
und während der beiden Balkankriege besprochen haben. Nichtsdestoweniger sind<lb/>
genug Kräfte an der Arbeit, die besonders die deutsche Freundschaft mit Öster¬<lb/>
reich zu trüben wünschen und während von Frankreich her liebliche Locktöne<lb/>
nach der Donaumonarchie gerichtet sind, klingen aus Rußland ebenso lockende<lb/>
Stimmen zu uns hinüber. Wir wollen solche Stimmungen, die jederzeit bei<lb/>
verschiedenen Publizisten und Politikern vorhanden waren und vorhanden sein<lb/>
werden, zwar nicht unbeachtet lassen, aber doch nicht allzu hoch bewerten. Die<lb/>
praktische Politik beruht nicht auf Zeitungsartikeln, sondern auf den realen Tat¬<lb/>
sachen, die die Entwicklung der voranstrebenden Völker täglich neu schafft. Aber<lb/>
die Entwicklung geht allen Fortschrittstheorien zum Trotz nur sehr langsam aus<lb/>
einem System ins andere über und so müssen die bestehenden Tatsachen solange<lb/>
als solche hingenommen und in die politischen Rechenexempel eingesetzt werden,<lb/>
bis sie von selbst verschwinden. Eine solche Tatsache ist die alte Zuneigung<lb/>
des russischen Volkes zum französischen, die andere ist die Interessengemeinschaft<lb/>
der Dreibundmächte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2532" next="#ID_2533"> Nun soll nicht geleugnet werden, daß innerhalb der russischen Gesellschaft<lb/>
eine Strömung stärker zu werden beginnt, die in der Freundschaft mit Frank¬<lb/>
reich nicht mehr das letzte Wort politischer Weisheit erkennen will. Doch ist<lb/>
damit praktisch noch nichts anzufangen. Die Abkühlung gegen Frankreich bedingt<lb/>
noch lange keine Erwärmung für Deutschland. Sie hat zwei Quellen: das<lb/>
erwachende Selbstgefühl bei den Russen, seit sie sich als Angehörige eines kon¬<lb/>
stitutionell regierten Staates fühlen, in dem mit den französischen politischen<lb/>
Theorien herzlich wenig anzufangen ist, und ferner aus dem neu auflebenden<lb/>
Panslawismus, der aus der Feindschaft gegen Österreich-Ungarn Kräfte schöpft.<lb/>
Es wird von Russen offen ausgesprochen, daß nun die Zeit herannahe, in der<lb/>
das Deutsche Reich sich mit Rußlands Hilfe die unter der Krone Habsburg<lb/>
verbliebenen Deutschen werde angliedern können, während &#x201E;sich die slawischen<lb/>
Bäche in das russische Meer ergießen", wie Puschkin 1830 während des pol¬<lb/>
nischen Aufstandes prophetisch dichtete. Der Ehrgeiz des Erzherzog-Thronfolgers<lb/>
werde den Stein ins Rollen bringen. Die Russen, die so denken, verfahren<lb/>
ganz logisch aus ihrem erst seit 1905 erwachenden Nationalgefühl. Sie, die<lb/>
vor dem Oktobermanifest nur zu leicht von der Höhe ihrer Menschheitsideale<lb/>
auf unseren deutschen Nationalstolz mit Verachtung herabsahen, beginnen zu<lb/>
empfinden, welche Kraft in der freien Betätigung nationaler Eigenart enthalten<lb/>
ist, und expansiv, wie sie einmal geartet, schreiten sie zur Offensive, ohne zu</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0635] Reichsspicgel schon seit Jahren nicht mehr herausgekommen ist. Und da dies Bild sür uns Deutsche nicht unerfreulich ist, so erweist sich Herrn von Bethmanns Optimismus als begründet. Der Kurs der Dreibundpolitik hat sich auch während der letzten Krise be¬ währt. Solches beginnt man auch in Österreich-Ungarn einzusehen, wo Gras Berchthold in der ungarischen Delegation und nach ihm der ungarische Minister¬ präsident Graf Tisza die Haltung der Habsburgischen Doppelmonarchie vor und während der beiden Balkankriege besprochen haben. Nichtsdestoweniger sind genug Kräfte an der Arbeit, die besonders die deutsche Freundschaft mit Öster¬ reich zu trüben wünschen und während von Frankreich her liebliche Locktöne nach der Donaumonarchie gerichtet sind, klingen aus Rußland ebenso lockende Stimmen zu uns hinüber. Wir wollen solche Stimmungen, die jederzeit bei verschiedenen Publizisten und Politikern vorhanden waren und vorhanden sein werden, zwar nicht unbeachtet lassen, aber doch nicht allzu hoch bewerten. Die praktische Politik beruht nicht auf Zeitungsartikeln, sondern auf den realen Tat¬ sachen, die die Entwicklung der voranstrebenden Völker täglich neu schafft. Aber die Entwicklung geht allen Fortschrittstheorien zum Trotz nur sehr langsam aus einem System ins andere über und so müssen die bestehenden Tatsachen solange als solche hingenommen und in die politischen Rechenexempel eingesetzt werden, bis sie von selbst verschwinden. Eine solche Tatsache ist die alte Zuneigung des russischen Volkes zum französischen, die andere ist die Interessengemeinschaft der Dreibundmächte. Nun soll nicht geleugnet werden, daß innerhalb der russischen Gesellschaft eine Strömung stärker zu werden beginnt, die in der Freundschaft mit Frank¬ reich nicht mehr das letzte Wort politischer Weisheit erkennen will. Doch ist damit praktisch noch nichts anzufangen. Die Abkühlung gegen Frankreich bedingt noch lange keine Erwärmung für Deutschland. Sie hat zwei Quellen: das erwachende Selbstgefühl bei den Russen, seit sie sich als Angehörige eines kon¬ stitutionell regierten Staates fühlen, in dem mit den französischen politischen Theorien herzlich wenig anzufangen ist, und ferner aus dem neu auflebenden Panslawismus, der aus der Feindschaft gegen Österreich-Ungarn Kräfte schöpft. Es wird von Russen offen ausgesprochen, daß nun die Zeit herannahe, in der das Deutsche Reich sich mit Rußlands Hilfe die unter der Krone Habsburg verbliebenen Deutschen werde angliedern können, während „sich die slawischen Bäche in das russische Meer ergießen", wie Puschkin 1830 während des pol¬ nischen Aufstandes prophetisch dichtete. Der Ehrgeiz des Erzherzog-Thronfolgers werde den Stein ins Rollen bringen. Die Russen, die so denken, verfahren ganz logisch aus ihrem erst seit 1905 erwachenden Nationalgefühl. Sie, die vor dem Oktobermanifest nur zu leicht von der Höhe ihrer Menschheitsideale auf unseren deutschen Nationalstolz mit Verachtung herabsahen, beginnen zu empfinden, welche Kraft in der freien Betätigung nationaler Eigenart enthalten ist, und expansiv, wie sie einmal geartet, schreiten sie zur Offensive, ohne zu

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/635
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/635>, abgerufen am 22.07.2024.