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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Der erste deutsche Herbstsalon

und das grundsätzliche Wegwerfen aller gebräuchlichen Symbole und Formen
von jeher eine typische Eigenschaft theoriebestochener Dilettanten war, während
die großen Meister, abgesehen von Nörglern und Neidern, immer verstanden
worden sind, weil sie stark genug waren, das Vorhandene zu benutzen und für
ihre Zwecke auszubilden. Dagegen kann alle noch so stürmisch beteuernde
Theorie nicht aufkommen. Bis die Künstler nicht aus ihrem bis ins höchste
Extrem getriebenen Individualismus den Wegweiser zu unmittelbar verständ¬
licher, eindeutig nacherlebbarer Kunst finden, werden wir ihre Werke mit Achtung
für ihr strenges Wollen, aber darum nicht weniger energisch für uns ablehnen
müssen und uns im übrigen abwartend verhalten. Denn es ist leicht möglich,
daß sie, die so ganz den höchsten und ausschließlichen Individualismus erstreben,
auf das Allgemeinste hinauskommen, auf eine ganz unbewußt primitive Deko¬
rationskunst. Dekorationen in diesem Sinne jedoch kann man nur anbringen,
nicht mehr als selbständige Bilder malen und ausstellen.

Was nun die erste Ausstellung des Herbstsalons betrifft, so muß man
zunächst im Auge behalten, daß sie ein erster Versuch war, der wohl die Gesamt¬
heit der neuen Kunstbestrebungen gut repräsentierte, von den meisten Malern
aber zu wenig Stücke zeigte, als daß sich bei der Neuheit der Dinge über den
einzelnen immer ein sicheres Urteil gewinnen ließ. Für Kandinski, Leger,
W. Burljuk fehlt mir aus den angeführten Gründen das Organ. Die Farben-
spiele Delaunavs kann ich mir wohl als Dekorationen, nicht aber als Bilder
wirksam denken. Das große Bild "Tierschicksale" von Marc, ein paar Glas¬
bilder von H. Campendonk ließen mich gleichfalls starke dekorative Talente
spüren. Am stärksten wirkte auf mich, wie schon in der Ausstellung der neuen
Künstlervereinigung München 1909. Bechtejeff, dessen Wesen man am besten um¬
schreibt, wenn man sagt, er wolle das Ziel von Marsch mit expressionistischen
Mitteln erreichen; ein feiner und starker Klang geht von diesen Silhouetten-
fchiebungen, diesem Gleiten, Stehen und Schweben der Dinge in der groß
gesehenen Landschaft aus. Von den Futuristen endlich heißt es: abwarten.
Lassen wir sie ruhig bis ans Ende aller Möglichkeiten laufen; was innere Kraft
hat, kann nicht verloren gehen und wird wieder zu uns zurückkehren.




Grenzboton IV 191340
Der erste deutsche Herbstsalon

und das grundsätzliche Wegwerfen aller gebräuchlichen Symbole und Formen
von jeher eine typische Eigenschaft theoriebestochener Dilettanten war, während
die großen Meister, abgesehen von Nörglern und Neidern, immer verstanden
worden sind, weil sie stark genug waren, das Vorhandene zu benutzen und für
ihre Zwecke auszubilden. Dagegen kann alle noch so stürmisch beteuernde
Theorie nicht aufkommen. Bis die Künstler nicht aus ihrem bis ins höchste
Extrem getriebenen Individualismus den Wegweiser zu unmittelbar verständ¬
licher, eindeutig nacherlebbarer Kunst finden, werden wir ihre Werke mit Achtung
für ihr strenges Wollen, aber darum nicht weniger energisch für uns ablehnen
müssen und uns im übrigen abwartend verhalten. Denn es ist leicht möglich,
daß sie, die so ganz den höchsten und ausschließlichen Individualismus erstreben,
auf das Allgemeinste hinauskommen, auf eine ganz unbewußt primitive Deko¬
rationskunst. Dekorationen in diesem Sinne jedoch kann man nur anbringen,
nicht mehr als selbständige Bilder malen und ausstellen.

Was nun die erste Ausstellung des Herbstsalons betrifft, so muß man
zunächst im Auge behalten, daß sie ein erster Versuch war, der wohl die Gesamt¬
heit der neuen Kunstbestrebungen gut repräsentierte, von den meisten Malern
aber zu wenig Stücke zeigte, als daß sich bei der Neuheit der Dinge über den
einzelnen immer ein sicheres Urteil gewinnen ließ. Für Kandinski, Leger,
W. Burljuk fehlt mir aus den angeführten Gründen das Organ. Die Farben-
spiele Delaunavs kann ich mir wohl als Dekorationen, nicht aber als Bilder
wirksam denken. Das große Bild „Tierschicksale" von Marc, ein paar Glas¬
bilder von H. Campendonk ließen mich gleichfalls starke dekorative Talente
spüren. Am stärksten wirkte auf mich, wie schon in der Ausstellung der neuen
Künstlervereinigung München 1909. Bechtejeff, dessen Wesen man am besten um¬
schreibt, wenn man sagt, er wolle das Ziel von Marsch mit expressionistischen
Mitteln erreichen; ein feiner und starker Klang geht von diesen Silhouetten-
fchiebungen, diesem Gleiten, Stehen und Schweben der Dinge in der groß
gesehenen Landschaft aus. Von den Futuristen endlich heißt es: abwarten.
Lassen wir sie ruhig bis ans Ende aller Möglichkeiten laufen; was innere Kraft
hat, kann nicht verloren gehen und wird wieder zu uns zurückkehren.




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[0629] Der erste deutsche Herbstsalon und das grundsätzliche Wegwerfen aller gebräuchlichen Symbole und Formen von jeher eine typische Eigenschaft theoriebestochener Dilettanten war, während die großen Meister, abgesehen von Nörglern und Neidern, immer verstanden worden sind, weil sie stark genug waren, das Vorhandene zu benutzen und für ihre Zwecke auszubilden. Dagegen kann alle noch so stürmisch beteuernde Theorie nicht aufkommen. Bis die Künstler nicht aus ihrem bis ins höchste Extrem getriebenen Individualismus den Wegweiser zu unmittelbar verständ¬ licher, eindeutig nacherlebbarer Kunst finden, werden wir ihre Werke mit Achtung für ihr strenges Wollen, aber darum nicht weniger energisch für uns ablehnen müssen und uns im übrigen abwartend verhalten. Denn es ist leicht möglich, daß sie, die so ganz den höchsten und ausschließlichen Individualismus erstreben, auf das Allgemeinste hinauskommen, auf eine ganz unbewußt primitive Deko¬ rationskunst. Dekorationen in diesem Sinne jedoch kann man nur anbringen, nicht mehr als selbständige Bilder malen und ausstellen. Was nun die erste Ausstellung des Herbstsalons betrifft, so muß man zunächst im Auge behalten, daß sie ein erster Versuch war, der wohl die Gesamt¬ heit der neuen Kunstbestrebungen gut repräsentierte, von den meisten Malern aber zu wenig Stücke zeigte, als daß sich bei der Neuheit der Dinge über den einzelnen immer ein sicheres Urteil gewinnen ließ. Für Kandinski, Leger, W. Burljuk fehlt mir aus den angeführten Gründen das Organ. Die Farben- spiele Delaunavs kann ich mir wohl als Dekorationen, nicht aber als Bilder wirksam denken. Das große Bild „Tierschicksale" von Marc, ein paar Glas¬ bilder von H. Campendonk ließen mich gleichfalls starke dekorative Talente spüren. Am stärksten wirkte auf mich, wie schon in der Ausstellung der neuen Künstlervereinigung München 1909. Bechtejeff, dessen Wesen man am besten um¬ schreibt, wenn man sagt, er wolle das Ziel von Marsch mit expressionistischen Mitteln erreichen; ein feiner und starker Klang geht von diesen Silhouetten- fchiebungen, diesem Gleiten, Stehen und Schweben der Dinge in der groß gesehenen Landschaft aus. Von den Futuristen endlich heißt es: abwarten. Lassen wir sie ruhig bis ans Ende aller Möglichkeiten laufen; was innere Kraft hat, kann nicht verloren gehen und wird wieder zu uns zurückkehren. Grenzboton IV 191340

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/629>, abgerufen am 22.07.2024.