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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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N?le Grmina L^alten über das große lvasser kam

von der Kommandobrücke aus quer durch das durchlöcherte und zerstörte
Messina zu folgen. Nach beendeter Löschung ging er ihr darum nach und
legte die Hand auf ihre Schulter.

"Na, Großmutter!" lachte er. "Warum weinst du? Dies" -- er wies
mit der Hand um sich her -- "Terremoto! Erdbeben! -- Vor fünf Jahren!"

Sie blickte auf: "Alle tot!" Sie jammerte vor sich hin: "Meine Söhne
-- Simon, Uussuf! Alle! -- Da unten in der Erde!"

Der Steuermann steckte die Zunge aus dem Mundwinkel. Dies war doch
ein bischen zu afrikanisch! Aber er war ernst geworden. "Dies hier ist nicht
New Uork!" erklärte er. Dann kam ihm eine Idee. Er riß ein Blatt aus
seinem Notizbuch, schrieb darauf: "Nehmt Großmutter an Bord des New Uorker
Dampfers", steckte das Papier in ihre Hand und führte sie dorthin, wo das
Passagierboot nach Genua segelfertig unter Dampf lag.

So kam sie durch Allahs Gnade nach Genua. Unterwegs sprach sie mit
niemandem. Sie fürchtete, sich mit ihrer Frage nach Simon zum Gespött zu
machen. Denn sie sah nun ein, daß die Welt unermeßlich groß sei und daß weit, weit
über tausend Menschen darauf lebten. Und wie durfte sie da hoffen, daß gerade der,
den sie fragte, Simon oder Jussuf oder die beiden anderen kennen sollte!

Als sie darum mit ihrem Bündel den Quai von Genua betrat, überlegte
sie lange, ehe sie sich auf den Weg begab. Dann schritt sie zögernd die Hafen¬
straße entlang und an all den Logishäusern und den niederen tiefen Kellern
vorüber, wo fettblasse Männer in Hemdärmeln und gepuderte Mädchen in
geblümten Binsen die vorbeiwandernden Seeleute anriefen. Sie ging so lange,
bis ein Mann sie ansprach. Auch er war in Hemdärmeln und trug eine rote
Weste, ganz wie der griechische Kaffeehauswirt in Keile, hatte ein breites weißes
Gesicht mit glänzendem kohlschwarzen Schnurrbart und lachte und zeigte die
Zähne, wobei er ihr freundlich mit der Hand zuwinkte.

Sie blieb stehen und wies ihm den Zettel, den der Steuermann ihr
gegeben. Er stutzte, seine Miene wurde ernst und bestimmt; er spähte die
Straße hinauf und hinab, wie um jemanden zu finden, der hier Rat wissen
könnte. Dann schüttelte er bekümmert den Kopf. "Kein Dampfer nach
New Dort vor drei Monaten!" sagte er. Und als sie ihn verständnislos
anstarrte, deutete er mit großen Gebärden auf die Schiffe, schüttelte wiederholt
den Kopf, reckte die Finger in die Luft, zuerst drei und dann dreimal zehn.
Ein tunesischer Araber kam, seinen Teppichvorrat über die linke Schulter geworfen,
eben vorübergeschlendert; der ließ sich ja zur Not als Dolmetsch verwenden.
Er bekam eine Lire als Salär und erklärte sodann grinsend, daß vor drei
Monaten kein Dampfer nach New Uork gehe, daß Großmutter aber bis dahin
für zwei Lire täglich bei dem ausgezeichneten Signor Pietro Lombard! in
Genuas bester und berühmtester "Kaxvsn" Kost und Quartier haben könne.
Und freudestrahlend duckte Ermina Harem ihr Haupt unter das 8or ana stnpe-
gemalte Wirtschaftsschild des Kellerhalses.


N?le Grmina L^alten über das große lvasser kam

von der Kommandobrücke aus quer durch das durchlöcherte und zerstörte
Messina zu folgen. Nach beendeter Löschung ging er ihr darum nach und
legte die Hand auf ihre Schulter.

„Na, Großmutter!" lachte er. „Warum weinst du? Dies" — er wies
mit der Hand um sich her — „Terremoto! Erdbeben! — Vor fünf Jahren!"

Sie blickte auf: „Alle tot!" Sie jammerte vor sich hin: „Meine Söhne
— Simon, Uussuf! Alle! — Da unten in der Erde!"

Der Steuermann steckte die Zunge aus dem Mundwinkel. Dies war doch
ein bischen zu afrikanisch! Aber er war ernst geworden. „Dies hier ist nicht
New Uork!" erklärte er. Dann kam ihm eine Idee. Er riß ein Blatt aus
seinem Notizbuch, schrieb darauf: „Nehmt Großmutter an Bord des New Uorker
Dampfers", steckte das Papier in ihre Hand und führte sie dorthin, wo das
Passagierboot nach Genua segelfertig unter Dampf lag.

So kam sie durch Allahs Gnade nach Genua. Unterwegs sprach sie mit
niemandem. Sie fürchtete, sich mit ihrer Frage nach Simon zum Gespött zu
machen. Denn sie sah nun ein, daß die Welt unermeßlich groß sei und daß weit, weit
über tausend Menschen darauf lebten. Und wie durfte sie da hoffen, daß gerade der,
den sie fragte, Simon oder Jussuf oder die beiden anderen kennen sollte!

Als sie darum mit ihrem Bündel den Quai von Genua betrat, überlegte
sie lange, ehe sie sich auf den Weg begab. Dann schritt sie zögernd die Hafen¬
straße entlang und an all den Logishäusern und den niederen tiefen Kellern
vorüber, wo fettblasse Männer in Hemdärmeln und gepuderte Mädchen in
geblümten Binsen die vorbeiwandernden Seeleute anriefen. Sie ging so lange,
bis ein Mann sie ansprach. Auch er war in Hemdärmeln und trug eine rote
Weste, ganz wie der griechische Kaffeehauswirt in Keile, hatte ein breites weißes
Gesicht mit glänzendem kohlschwarzen Schnurrbart und lachte und zeigte die
Zähne, wobei er ihr freundlich mit der Hand zuwinkte.

Sie blieb stehen und wies ihm den Zettel, den der Steuermann ihr
gegeben. Er stutzte, seine Miene wurde ernst und bestimmt; er spähte die
Straße hinauf und hinab, wie um jemanden zu finden, der hier Rat wissen
könnte. Dann schüttelte er bekümmert den Kopf. „Kein Dampfer nach
New Dort vor drei Monaten!" sagte er. Und als sie ihn verständnislos
anstarrte, deutete er mit großen Gebärden auf die Schiffe, schüttelte wiederholt
den Kopf, reckte die Finger in die Luft, zuerst drei und dann dreimal zehn.
Ein tunesischer Araber kam, seinen Teppichvorrat über die linke Schulter geworfen,
eben vorübergeschlendert; der ließ sich ja zur Not als Dolmetsch verwenden.
Er bekam eine Lire als Salär und erklärte sodann grinsend, daß vor drei
Monaten kein Dampfer nach New Uork gehe, daß Großmutter aber bis dahin
für zwei Lire täglich bei dem ausgezeichneten Signor Pietro Lombard! in
Genuas bester und berühmtester „Kaxvsn" Kost und Quartier haben könne.
Und freudestrahlend duckte Ermina Harem ihr Haupt unter das 8or ana stnpe-
gemalte Wirtschaftsschild des Kellerhalses.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/620>, abgerufen am 25.08.2024.