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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Wie Lrmina Harem über das große Wasser kam

was sie besäße, gegen eine Summe Geldes als Pfand nehmen wolle. Er bedachte
die Sache bis Abend und gab ihr dann fünfzig englische Pfund für Haus,
Garten, drei Esel und das Teppichlager. Freudestrahlend ging sie zum Gassenschreiber.

"Ich will einen Brief an Simon schreiben," sagte sie. "Du sollst es für
mich tun und ihm mitteilen, daß ich morgen zu ihm nach New Avr! reise!"

Saud Farag Effendi nickte und nahm diesmal zwei Schilling Gebühr, weil
er ja nun ihre Kundschaft verlor. Er hatte unter dem Kissen, auf dem er saß,
sein Archiv, und da waren auch die achtmal vier Briefe ihrer Söhne. Und
als er den Brief geschrieben, faltete er ihn zusammen und zeichnete sorgfältig
die englische Postadresse nach, die zuoberst auf Simons letztem Brief stand.
Dann übergab er das Schreiben seinem Eselsknecht. Der legte es auch richtig
einige Tage danach in den Briefkasten der Negierung und von da nahm er
nun seinen beschwerlichen Weg durch die ägyptischen Poststationen -- halben
Wegs nach Singapore, wo es entdeckt, angehalten und via --Genua--
Hamburg zurückgesandt wurde -- was den einheimischen Postmeistern als der
amtsmäßige Weg für einen Brief aus Ägypten nach New Dort galt.

Tags darauf aber, nachdem der Brief geschrieben worden, setzte Ermina
Harem sich mit ihrem Bündel in den weißen Expreßzug, der zwischen Luxor
und Kairo verkehrt. Sie hatte Proviant für vier Tage mit. Es war im
Monat IVliseKW während der zweiundfünfzig Fasttage L8-8UM el-Kebir -- und
sie bedürfte daher nur einiger Handvoll grüner Bohnen und einiger Dukkah-
brote; so kam sie leicht nach Masr (Kairo) -- und von da nach Alexandria.
Alle, die sie nach dem Weg fragte, verstanden sie und gaben ihr gute Antwort
und auf das Geschwätz der Fremden hörte sie nicht. Und als sie einen koptischen
Effendi auf dem Zollamt nach dem Schiffe nach New Avr! fragte, führte dieser
sie dienstbereit an Bord des italienischen Dampfers "Cavour", womit sie sich
also nun auf dem richtigen Wege befand --- zu Simon in New Aork!

Sie saß an der Table d'hote der zweiten Klasse mit Mühe auf dem
rebellischen Drehstuhl, wo sie nicht wie gewohnt die Füße uuter sich kreuzen
konnte. Und sie aß ihre Makkaroni oder ihr Risotto aus der flachen rechten
Hand (denn die Linke ist unrein und darf nichts Eßbares berühren). Des
Abends löste sie bloß ihre langen grauen Flechten, die an ihrem Gürtel fest¬
gebunden waren, hüllte ihr Gesicht in den schwarzen Kopfschal und schlief an¬
gekleidet auf dem Fußboden der Kajüte.

Am Morgen des dritten Tages aber zeigte sich hoch über den Nebeln des
Tagesgrauens eine weiße dreieckige Steinplatte, die, wie sie näherkamen, langsam
zur Meereslinie hinabwuchs. Und endlich lag vor ihnen, ungeheuer, tiefblau,
mit von rauchumwickelter Zinne strahlenden Schneerändern, ein Berg -- weit
gewaltiger als irgendeine Anhöhe der Wüstenberge bei Keile. Die Mitretsenden
deuteten darauf und nannten den Berg "Ätna".

La Norma aber hatte an seinem Fuß die weißen und gelben Mauerfelder
einer Stadt gesehen -- einer großen Stadt mit Straßen und reichen Gärten!


Wie Lrmina Harem über das große Wasser kam

was sie besäße, gegen eine Summe Geldes als Pfand nehmen wolle. Er bedachte
die Sache bis Abend und gab ihr dann fünfzig englische Pfund für Haus,
Garten, drei Esel und das Teppichlager. Freudestrahlend ging sie zum Gassenschreiber.

„Ich will einen Brief an Simon schreiben," sagte sie. „Du sollst es für
mich tun und ihm mitteilen, daß ich morgen zu ihm nach New Avr! reise!"

Saud Farag Effendi nickte und nahm diesmal zwei Schilling Gebühr, weil
er ja nun ihre Kundschaft verlor. Er hatte unter dem Kissen, auf dem er saß,
sein Archiv, und da waren auch die achtmal vier Briefe ihrer Söhne. Und
als er den Brief geschrieben, faltete er ihn zusammen und zeichnete sorgfältig
die englische Postadresse nach, die zuoberst auf Simons letztem Brief stand.
Dann übergab er das Schreiben seinem Eselsknecht. Der legte es auch richtig
einige Tage danach in den Briefkasten der Negierung und von da nahm er
nun seinen beschwerlichen Weg durch die ägyptischen Poststationen — halben
Wegs nach Singapore, wo es entdeckt, angehalten und via —Genua—
Hamburg zurückgesandt wurde — was den einheimischen Postmeistern als der
amtsmäßige Weg für einen Brief aus Ägypten nach New Dort galt.

Tags darauf aber, nachdem der Brief geschrieben worden, setzte Ermina
Harem sich mit ihrem Bündel in den weißen Expreßzug, der zwischen Luxor
und Kairo verkehrt. Sie hatte Proviant für vier Tage mit. Es war im
Monat IVliseKW während der zweiundfünfzig Fasttage L8-8UM el-Kebir — und
sie bedürfte daher nur einiger Handvoll grüner Bohnen und einiger Dukkah-
brote; so kam sie leicht nach Masr (Kairo) — und von da nach Alexandria.
Alle, die sie nach dem Weg fragte, verstanden sie und gaben ihr gute Antwort
und auf das Geschwätz der Fremden hörte sie nicht. Und als sie einen koptischen
Effendi auf dem Zollamt nach dem Schiffe nach New Avr! fragte, führte dieser
sie dienstbereit an Bord des italienischen Dampfers „Cavour", womit sie sich
also nun auf dem richtigen Wege befand -— zu Simon in New Aork!

Sie saß an der Table d'hote der zweiten Klasse mit Mühe auf dem
rebellischen Drehstuhl, wo sie nicht wie gewohnt die Füße uuter sich kreuzen
konnte. Und sie aß ihre Makkaroni oder ihr Risotto aus der flachen rechten
Hand (denn die Linke ist unrein und darf nichts Eßbares berühren). Des
Abends löste sie bloß ihre langen grauen Flechten, die an ihrem Gürtel fest¬
gebunden waren, hüllte ihr Gesicht in den schwarzen Kopfschal und schlief an¬
gekleidet auf dem Fußboden der Kajüte.

Am Morgen des dritten Tages aber zeigte sich hoch über den Nebeln des
Tagesgrauens eine weiße dreieckige Steinplatte, die, wie sie näherkamen, langsam
zur Meereslinie hinabwuchs. Und endlich lag vor ihnen, ungeheuer, tiefblau,
mit von rauchumwickelter Zinne strahlenden Schneerändern, ein Berg — weit
gewaltiger als irgendeine Anhöhe der Wüstenberge bei Keile. Die Mitretsenden
deuteten darauf und nannten den Berg „Ätna".

La Norma aber hatte an seinem Fuß die weißen und gelben Mauerfelder
einer Stadt gesehen — einer großen Stadt mit Straßen und reichen Gärten!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/618>, abgerufen am 24.08.2024.