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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Humanisten und Germanisten

der Behandlung der betreffenden deutschen Literaturwerke zufallen, wie umgekehrt
bei realen Anstalten Deutsch und Geschichte die Vermittlung auch der not¬
wendigsten Kenntnisse vom Einfluß der Antike übernehmen.

Was uns aber mit der Gewißheit des Gelingens erfüllt, wenn als gemein¬
sames Ziel aller Schulgattungen für höhere Jugendbildung "wissenschaftlich
erarbeitetes Verständnis für die deutsche Gegenwart" ausgestellt wird, ist die
unbestreitbare Erfahrung, daß nur solche Formen Dauer versprechen und
"lebend sich entwickeln", die von innen heraus gebildet worden sind, solche
Formen, die der notwendige Ausdruck des in ihnen verarbeiteten Stoffes sind.
Wir empfinden heut doch wieder überall, wie "Farbe und Form nicht bloß
sinnliche Qualitäten, wie sie vielmehr der Ausdruck tiefinnerlicher Wirklichkeiten
sind und letzter Verknüpfungen mit dem Sein". Und sollten das nun nicht auf
die wichtigste Angelegenheit anwenden, die zukünftige Art, wie unsere höher zu
bildende Jugend sich an der Steigerung unserer Volkskultur beteiligen wird?
Das bildet doch eine der wichtigsten Einsichten, die wir der modernen Natur¬
forschung verdanken, nämlich die Unmöglichkeit, eine für einen bestimmten Inhalt
geprägte Form auf einen andersartigen Inhalt zu übertragen, wenn weiteres
Wachstum möglich werden soll. Selbst wenn der Inhalt, also beim Menschen
die Anlagen, nahe verwandt sind, gewinnt die Form infolge verschiedenartig
gestalteter Umstände bei ihrer Entwicklung ein andersartiges Aussehen. Gewiß
sind auch ganz unverkennbare verwandte Züge im germanischen und hellenischen
Volkscharakter, gewiß ist so manches gerade von unsern heutigen "Fragen,
Problemen, Sehnsüchten, Ängsten. Ausblicken von ihnen schon zu fertiger
Erfahrung durchgebildet", aber darum müssen wir nun nicht auch zu denselben
Ansichten, zu denselben Lösungen, denselben Beruhigungen wie sie gelangen.
Da gilt vielmehr Goethes Wort, das er nicht in flüchtiger Unterhaltung, wo
er mißverstanden werden konnte, auch nicht in brieflicher Form äußerte, die
vorübergehender Stimmung unterworfen sein konnte, sondern in den Bemer¬
kungen über Weltliteratur: "Wie die militärisch physische Kraft einer Nation
aus ihrer inneren Einheit sich entwickelt, so muß auch die sittlich-ästhetische aus
einer ähnlichen Übereinstimmung nach und nach hervorgehen." Beweise das
nicht, daß das für alle führenden Schichten gemeinsame Bildungsideal, zu dem
die höheren Schulen das wissenschaftliche Verständnis eröffnen, nur das der
nationalen Selbstbestimmung sein kann, und folgt daraus nicht, daß das oben
erörterte gemeinsame Ziel von allen drei Schulgattungen angestrebt werden muß
und daß sie darnach das Verfahren bei Erreichung ihrer Sonderziele einrichten
müssen? Und wird denn damit nicht dem Kampf der Humanisten und der
Germanisten um unsere höhere Jugendbildung im Sinne der Bekämpfung nicht
die Berechtigung entzogen? Gewiß, ein jeder sei ein Grieche, das war auch
Goethes Meinung, aber ein Grieche in seiner Art; die deutsche Nationalkultur
beweise dieselbe Geschlossenheit, dieselbe Vollendung des Ausdrucks wie die antike!




Humanisten und Germanisten

der Behandlung der betreffenden deutschen Literaturwerke zufallen, wie umgekehrt
bei realen Anstalten Deutsch und Geschichte die Vermittlung auch der not¬
wendigsten Kenntnisse vom Einfluß der Antike übernehmen.

Was uns aber mit der Gewißheit des Gelingens erfüllt, wenn als gemein¬
sames Ziel aller Schulgattungen für höhere Jugendbildung „wissenschaftlich
erarbeitetes Verständnis für die deutsche Gegenwart" ausgestellt wird, ist die
unbestreitbare Erfahrung, daß nur solche Formen Dauer versprechen und
„lebend sich entwickeln", die von innen heraus gebildet worden sind, solche
Formen, die der notwendige Ausdruck des in ihnen verarbeiteten Stoffes sind.
Wir empfinden heut doch wieder überall, wie „Farbe und Form nicht bloß
sinnliche Qualitäten, wie sie vielmehr der Ausdruck tiefinnerlicher Wirklichkeiten
sind und letzter Verknüpfungen mit dem Sein". Und sollten das nun nicht auf
die wichtigste Angelegenheit anwenden, die zukünftige Art, wie unsere höher zu
bildende Jugend sich an der Steigerung unserer Volkskultur beteiligen wird?
Das bildet doch eine der wichtigsten Einsichten, die wir der modernen Natur¬
forschung verdanken, nämlich die Unmöglichkeit, eine für einen bestimmten Inhalt
geprägte Form auf einen andersartigen Inhalt zu übertragen, wenn weiteres
Wachstum möglich werden soll. Selbst wenn der Inhalt, also beim Menschen
die Anlagen, nahe verwandt sind, gewinnt die Form infolge verschiedenartig
gestalteter Umstände bei ihrer Entwicklung ein andersartiges Aussehen. Gewiß
sind auch ganz unverkennbare verwandte Züge im germanischen und hellenischen
Volkscharakter, gewiß ist so manches gerade von unsern heutigen „Fragen,
Problemen, Sehnsüchten, Ängsten. Ausblicken von ihnen schon zu fertiger
Erfahrung durchgebildet", aber darum müssen wir nun nicht auch zu denselben
Ansichten, zu denselben Lösungen, denselben Beruhigungen wie sie gelangen.
Da gilt vielmehr Goethes Wort, das er nicht in flüchtiger Unterhaltung, wo
er mißverstanden werden konnte, auch nicht in brieflicher Form äußerte, die
vorübergehender Stimmung unterworfen sein konnte, sondern in den Bemer¬
kungen über Weltliteratur: „Wie die militärisch physische Kraft einer Nation
aus ihrer inneren Einheit sich entwickelt, so muß auch die sittlich-ästhetische aus
einer ähnlichen Übereinstimmung nach und nach hervorgehen." Beweise das
nicht, daß das für alle führenden Schichten gemeinsame Bildungsideal, zu dem
die höheren Schulen das wissenschaftliche Verständnis eröffnen, nur das der
nationalen Selbstbestimmung sein kann, und folgt daraus nicht, daß das oben
erörterte gemeinsame Ziel von allen drei Schulgattungen angestrebt werden muß
und daß sie darnach das Verfahren bei Erreichung ihrer Sonderziele einrichten
müssen? Und wird denn damit nicht dem Kampf der Humanisten und der
Germanisten um unsere höhere Jugendbildung im Sinne der Bekämpfung nicht
die Berechtigung entzogen? Gewiß, ein jeder sei ein Grieche, das war auch
Goethes Meinung, aber ein Grieche in seiner Art; die deutsche Nationalkultur
beweise dieselbe Geschlossenheit, dieselbe Vollendung des Ausdrucks wie die antike!




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[0609] Humanisten und Germanisten der Behandlung der betreffenden deutschen Literaturwerke zufallen, wie umgekehrt bei realen Anstalten Deutsch und Geschichte die Vermittlung auch der not¬ wendigsten Kenntnisse vom Einfluß der Antike übernehmen. Was uns aber mit der Gewißheit des Gelingens erfüllt, wenn als gemein¬ sames Ziel aller Schulgattungen für höhere Jugendbildung „wissenschaftlich erarbeitetes Verständnis für die deutsche Gegenwart" ausgestellt wird, ist die unbestreitbare Erfahrung, daß nur solche Formen Dauer versprechen und „lebend sich entwickeln", die von innen heraus gebildet worden sind, solche Formen, die der notwendige Ausdruck des in ihnen verarbeiteten Stoffes sind. Wir empfinden heut doch wieder überall, wie „Farbe und Form nicht bloß sinnliche Qualitäten, wie sie vielmehr der Ausdruck tiefinnerlicher Wirklichkeiten sind und letzter Verknüpfungen mit dem Sein". Und sollten das nun nicht auf die wichtigste Angelegenheit anwenden, die zukünftige Art, wie unsere höher zu bildende Jugend sich an der Steigerung unserer Volkskultur beteiligen wird? Das bildet doch eine der wichtigsten Einsichten, die wir der modernen Natur¬ forschung verdanken, nämlich die Unmöglichkeit, eine für einen bestimmten Inhalt geprägte Form auf einen andersartigen Inhalt zu übertragen, wenn weiteres Wachstum möglich werden soll. Selbst wenn der Inhalt, also beim Menschen die Anlagen, nahe verwandt sind, gewinnt die Form infolge verschiedenartig gestalteter Umstände bei ihrer Entwicklung ein andersartiges Aussehen. Gewiß sind auch ganz unverkennbare verwandte Züge im germanischen und hellenischen Volkscharakter, gewiß ist so manches gerade von unsern heutigen „Fragen, Problemen, Sehnsüchten, Ängsten. Ausblicken von ihnen schon zu fertiger Erfahrung durchgebildet", aber darum müssen wir nun nicht auch zu denselben Ansichten, zu denselben Lösungen, denselben Beruhigungen wie sie gelangen. Da gilt vielmehr Goethes Wort, das er nicht in flüchtiger Unterhaltung, wo er mißverstanden werden konnte, auch nicht in brieflicher Form äußerte, die vorübergehender Stimmung unterworfen sein konnte, sondern in den Bemer¬ kungen über Weltliteratur: „Wie die militärisch physische Kraft einer Nation aus ihrer inneren Einheit sich entwickelt, so muß auch die sittlich-ästhetische aus einer ähnlichen Übereinstimmung nach und nach hervorgehen." Beweise das nicht, daß das für alle führenden Schichten gemeinsame Bildungsideal, zu dem die höheren Schulen das wissenschaftliche Verständnis eröffnen, nur das der nationalen Selbstbestimmung sein kann, und folgt daraus nicht, daß das oben erörterte gemeinsame Ziel von allen drei Schulgattungen angestrebt werden muß und daß sie darnach das Verfahren bei Erreichung ihrer Sonderziele einrichten müssen? Und wird denn damit nicht dem Kampf der Humanisten und der Germanisten um unsere höhere Jugendbildung im Sinne der Bekämpfung nicht die Berechtigung entzogen? Gewiß, ein jeder sei ein Grieche, das war auch Goethes Meinung, aber ein Grieche in seiner Art; die deutsche Nationalkultur beweise dieselbe Geschlossenheit, dieselbe Vollendung des Ausdrucks wie die antike!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/609>, abgerufen am 22.07.2024.